Die Gewissensfrage

»Eine Freundin war wegen eines Beinleidens lange nicht mehr in der Oper. Kürzlich hatte ich eine Karte übrig und freute mich sehr, als sie diese gerne nahm und sagte, sie wolle mal wieder mitkommen. Uns beiden gefiel die Aufführung gut und ich war zufrieden über den gelungenen Abend – bis mir die Freundin auf dem Nachhauseweg einen Geldschein in die Hand drückte und sagte, sie wolle nichts geschenkt haben. Wenn man ihr etwas schenke, gebe sie es gleich an Bedürftige weiter. Nun war ich ärgerlich und enttäuscht. Zu Recht?« IRMGARD K., München

Ein wenig erinnert Ihre Geschichte an die »von jenem macedonischen Könige«, welche Friedrich Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft erzählt. Der habe »einem weltverachtenden Philosophen Athen’s« ein wertvolles Geschenk gemacht, es jedoch von ihm zurückerhalten, worauf der König meinte: »Wie? Hat er denn keinen Freund?« Nietzsche lässt ihn diese eigenartige Antwort damit erklären, dass er den »Stolz des Weisen und Unabhängigen« ehrte, aber »seine Menschlichkeit noch höher ehren« würde, wenn er das von einem Freund überreichte Geschenk dennoch angenommen hätte. So aber habe er seinen Stolz wichtiger genommen als die Freundschaft: »Vor mir hat sich der Philosoph herabgesetzt, indem er zeigte, dass er eines der beiden höchsten Gefühle nicht kennt, – und zwar das höhere nicht!«

Das auf Ihre Freundin zu übertragen wäre natürlich starker Tobak. Vielleicht will sie einfach »nichts schuldig bleiben«. Damit allerdings würde sie den Grundcharakter eines Geschenks verkennen: die Gabe ohne Gegenleistung. Es ist zwar schön, sich bei anderer Gelegenheit zu revanchieren, aber das ändert nichts daran: Man schuldet nichts für ein Geschenk, allenfalls Dankbarkeit. Die jedoch ist, wie der französische Philosoph André Comte-Sponville betont, »die angenehmste aller Tugenden; allerdings nicht die leichteste«. Darin sehe ich eine allgemeine Erkenntnis: Man sollte lernen, sich über ein Geschenk zu freuen, es anzunehmen und einfach »Danke« zu sagen. Ist Ihr Ärger demnach berechtigt? Auch wenn Sie das nun überraschen mag: Ich finde nein. Schließlich sollte die Karte der Freundin eine Freude bereiten und sie weder prüfen noch erziehen. Daran zeigt sich meiner Meinung nach der wahre Adel des Schenkens: wenn es nur gibt, gar nichts fordert und dem Beschenkten auch die Wahl seiner Reaktion wirklich freistellt.

Illustration: Jens Bonnke