War ich ein Wunschkind?

Das fragte sich unser Autor jahrelang. Als er begriff, warum ihm das so wichtig war, hatte er auch seine Antwort.

Später Nachwuchs: Ist es ein Wunschkind? Und spielt das eine Rolle?

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Noch. Dieses Wort hallte nach, jedes Jahr, wenn mich meine Eltern am Geburtstag umarmten und sagten: »Ein Glück, dass wir dich noch bekommen haben.« Noch. Das nervte wie ein Partygast, der nie eingeladen war und trotzdem immer kam. Noch, für mich hieß das: Ich war ein Unfall. Ich hätte meine Eltern damals fragen können, es hätte mir auch egal sein können. Aber ich fragte nicht, und es war mir nicht egal.

Ich fand den Zeitpunkt meiner Geburt eigenartig. Meine Schwester und mein Bruder lagen drei Jahre auseinander. Dann kam zwölf Jahre nichts. Dann ich. Meine Mutter war damals 44. Nur 515 Mütter in Deutschland waren in meinem Geburtsjahr 1990 genauso alt, ungefähr ebenso viele noch älter. Meine Eltern hatten mir immer gesagt, ihnen seien zwei Kinder nicht genug gewesen, ich sei ein Wunschkind. Wirklich? Luxusproblem, klar. Aber in jedem Menschen ist doch dieses Bedürfnis, mehr zu sein als Zufall.

Wenn ich meinen Mut zusammennahm und meinen Eltern sagte, dass ich schon etwas aus dem Nichts kam, lachten sie etwas zu laut und sagten, das mit mir sei »schon recht so« gewesen. Da endete das Gespräch. Denn wir hätten über Sex reden müssen, das wollte ich vermeiden. Ich wollte keine »Zeugerverhöre« führen – aber ich fing immer wieder damit an. Obwohl ich wusste: Ich werde geliebt.

Der Schweizer Remo Largo arbeitete jahrzehntelang lang als Kinderarzt, seine Bücher über Erziehung sind Bestseller. Er sagt: »Wenn Kinder erwachsen werden, begreifen sie, dass sie selbst Kinder zeugen können. Die Frage, ob die Eltern einen eigentlich wollten, kommt da ganz von selbst.« Trotzdem findet er sie künstlich und verkopft. »Weil es eine Frage ist, die es erst seit rund sechzig Jahren gibt.«

1960 kam die Pille auf den Markt. Seitdem es sie gibt, gibt es das moderne Wunschkind. Früher war das so: Menschen hatten Sex, dann kam das Kind, sie hatten wieder Sex, dann kam das nächste. Man mochte die Kleinen schon. Aber vor allem waren sie nützlich. Sie waren ­Altersvorsorge und Arbeitskraft. Viele Kinder starben früh, deshalb bauten Eltern keine allzu große Bindung zu ihnen auf. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts sprachen US-Gerichte den Eltern für ein überfahrenes Kind kein Schmerzensgeld zu, sondern Schadensersatz.

Meine Mutter musste als Kind die Eier aus dem Hühnerstall im Garten holen und ihrem Vater, der ohne Augen und Hände aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekommen war, die Zeitung vor­lesen. War sie geliebt? Ja. War sie ein Wunschkind? Sinnlose Frage.

Heute gibt es Kinderwunschkliniken und Bücher darüber, in welcher Stellung Mann und Frau Sex haben sollen, um die Chance auf eine Schwangerschaft zu erhöhen. Es wird auch viel mehr gegrübelt: Ist die Partnerin »die Eine«? Passt es gerade in die Karriere? Was kostet das Ganze? Kinder sind heute Projekte. Atmende Liebesbeweise. Jedenfalls nicht einfach da.

Psychologen sagen: Solange die Eltern ihre Kinder lieben, können die mit der Wahrheit klarkommen



Remo Largo sagt, heute seien achtzig Prozent der Neugeborenen Wunschkinder. Er glaubt, dass viele mit dieser Situation überfordert sind. Der soziale Druck, ein geliebtes Kind oder liebende Eltern zu sein, ist größer geworden. Und damit die Möglichkeit, an diesem Anspruch zu scheitern. Wahrscheinlich war das ein Grund für meine verschämten Fragen und die halbgaren Antworten meiner Eltern: Wir wollten uns vergewissern, dass wir ganz normal sind.

Im Zweifelsfall erzählen Eltern wohl immer die geschönte Geschichte. Einmal in unserer Küche: Mein Vater saß am Ess­tisch, meine Mutter spülte ab, und sie erzählte, dass sie genau da stand, als sie gerade erfahren hatte, dass sie mit mir schwanger war. Und dass sie weinte. »Vor Glück!«, sagte mein Vater schnell.

Einer meiner Sandkastenfreunde fängt auch schon damit an: Vor zwei Jahren wurde er Vater einer Tochter. Ein Unfall. Ich fragte ihn, wie er ihr das später er­klären wird, wenn sie fragt. Er werde ihr ­sagen, dass sie nicht geplant war, aber ­»gewünscht«. Er weiß so gut wie ich, dass wir uns mit Mitte zwanzig so einiges wünschten, abenteuerliche Reisen, zer­feierte Nächte, einen aufregenden Job, aber sicher kein Baby. Dieses Gespräch, sagt meint Freund, wird wohl von beiden ­Seiten mit Angst behaftet sein.

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Ich erfuhr die Wahrheit schließlich vor sechs Jahren, mit 22. Inzwischen studierte ich in Berlin. Ich war nicht mehr der pubertäre Junge, der sein Zimmer nicht aufräumte, und sie nicht mehr die penetranten Alten, die ihn darauf hinwiesen. Wir konnten nun offener zueinander sein. Sie waren zu Besuch, es war früher Abend, wir saßen in einem Straßencafé. Und es fühlte sich zum ersten Mal nicht komisch an, als ich fragte: Jetzt mal Hand aufs Herz, war ich ein Wunschkind?

Die ehrliche Antwort: Obwohl meine Mutter mit Anfang vierzig gern noch ein Kind gehabt hätte, wollten meine Eltern keines mehr zeugen. Die medizinischen Risiken einer späten Schwangerschaft schienen ihnen zu groß. Nach meinem Bruder hatten sie zwölf Jahre lang mit der Temperaturmethode verhütet, zwölf Jahre lang waren sie konsequent. Dann wurden sie nachlässig. Und da kam ich.

Viele junge Menschen fragen sich, ob sie gewollt waren oder ein Unfall. Bei den meisten hört das irgendwann auf. Erwachsenwerden, sagt Remo Largo, heißt auch, solche Fragen hinter sich zu lassen. Bei mir war es so. Ich sah Freunde Eltern werden und merkte, dass es ein uneingeschränktes Ja zum Kind eher in schlechten Filmen gibt. Und dass Schönheit darin liegen kann, wenn das Schicksal für einen entscheidet. Meine Antwort hatte ich bekommen, aber sie änderte nichts. Weil sie egal geworden war.