Macht wach und fertig

Espresso Martini ist ein Drink mit einem 2-in-1-Versprechen. Aber hilft er wirklich gegen Müdigkeit?

Foto: Maurizio Di Iorio

Das Gute am Beruf des Kolumnisten: Er geht zum Arbeiten nicht in ein Büro mit Luftbefeuchter, sondern in die Bar, erst recht, wenn er über Drinks schreibt, dann nämlich handelt es sich um Recherche, also astreine Maloche. Ich saß also wieder mal in meiner Lieblingsbar, auf der Suche nach einer Idee für die Kolumne, die Sie gerade lesen. Es wurde zehn, es wurde elf, als sich zwei junge Frauen an den Tisch neben mir setzten. Es war der Moment, in dem ich ahnte, dass sich mein kleiner Ausflug gelohnt hatte. Irgendwas würde schon passieren, dachte ich mir, ein Flirt oder noch besser: eine Idee.

Als sie zwei Espresso Martini bestellten, war zumindest die Sache mit dem Text gelaufen: Espresso Martini – das hatte ich jahrelang nicht mehr gehört. Ich kannte den Drink, aber eher aus den Neunzigern, probiert hatte ich ihn noch nie. Zwei Möglichkeiten: Ent­weder die beiden hatten einen dezidiert individuellen Geschmack. Oder aber der Espresso Martini feierte gerade ein Comeback, und ich hatte es wieder mal nicht mitbekommen, Sie wissen schon, ein Revival, das irgendjemand ausruft, dem gerade nichts einfällt. Ich tippte auf Option zwei, wurde für drei Sekunden wehmütig, dachte an Musik von den Smashing Pumpkins und Nächte ohne Netflix, dann kamen wir ins Gespräch, ich durfte sogar probieren, es wurde zwölf, es wurde halb eins.

Müde? Habt ihr nicht gerade einen Espresso Martini getrunken?

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Am nächsten Tag rief ich zwei Barkeeper an. Ich war neugierig geworden, was es mit dem Espresso Martini auf sich hatte: Espresso plus Wodka – wer kommt auf so was? Und warum der Name, obwohl sich weder Gin noch Wermut im Glas befinden, wie es sich für einen Martini eigentlich gehören würde? Hier ist, was ich in Erfahrung bringen konnte: Ein Barkeeper namens Dick Bradsell hat den Espresso Martini 1983 in einer Bar im Londoner Stadtteil Soho erfunden. Laut eigener Aussage soll ihn ein Supermodel um einen Drink »to wake her up, and fuck her up« gebeten haben, also was zum Aufwachen und Besoffenwerden. Und weil die Kaffeemaschine gleich neben den harten Drinks stand, habe es praktisch auf der Hand gelegen und so weiter. Bradsell hat die Geschichte so oft erzählt, dass lange darüber spekuliert wurde, wer die schöne Frau gewesen sein könnte. Manche tippten auf Kate Moss, andere auf Naomi Campbell, und das scheint, wenn man ein bisschen über die beiden gelesen hat, nicht unmöglich, aber doch unwahrscheinlich, weil Moss im Jahr 1983 gerade mal neun Jahre alt war und Campbell dreizehn. Da Bradsell bis heute jede weitere Aussage verweigert, ist anzunehmen, dass es sich bei dem Supermodel vielleicht eher um ein Model oder eine ganz normale Frau oder noch wahrscheinlicher: einen Mann gehandelt hat. Aber der Plan ist aufgegangen: Fast vierzig Jahre danach taucht der Name Dick Bradsell immer noch in der Presse auf, und der Espresso Martini mauserte sich weltweit zu einem beliebten Drink, wurde immer weiter verändert, verfeinert, variiert. Mittlerweile gehört er zu den modernen Klassikern, ein Drink aus dem Sortiment der Neo-Martinis, weil in den Neunzigern fast alles, was in V-förmigen Gläsern daherkam, Martini getauft wurde.

Es wurde also halb eins, es wurde eins. Unsere Gläser waren leer. Als ich die beiden fragte, ob ich sie auf einen weiteren Drink ein­laden dürfte, meinten sie: Lieber nicht, sie seien müde und müssten ins Bett. Und ich dachte: Müde? Habt ihr nicht gerade einen Espresso Martini getrunken? »Wake up, and fuck up?« Kurz war ich gekränkt, aber schon im Taxi überwog die Freude: Die Kolumne immerhin hatte ich im Kasten.