Zwischensprint am Grab

Darf man bei einer längeren Joggingtour einen Friedhof überqueren und dort sogar gute Laune haben? Oder ist das pietätlos?

Illustration: Serge Bloch

»Auf einer meiner Joggingstrecken durchquere ich für zirka 200 Meter einen öffentlich zugänglichen historischen Friedhof, der auch eine Gedenkstätte ist. Beim Laufen höre ich fast immer Musik, die mir gute Laune macht. Mitunter verleitet sie mich auch zum (lautlosen!) Mitsingen. Ist das vertretbar? Oder ist es pietätlos, und ich sollte es auf diesem Teilabschnitt besser unterlassen?« Bastos J., Berlin

Kennen Sie zufällig den Film Coco? Es ist ein Pixar-Zeichentrickfilm, der 2017 im Kino war. Ich war mit einem Kind drin, und jetzt raten Sie mal, wer von uns beiden den Saal völlig verheult wieder verließ. Es geht um einen zwölfjährigen Jungen namens Miguel, der in Mexiko lebt und Musiker werden möchte, aber seine Familie ist vehement dagegen. Aus Gründen, die hier zu weit führen, verschlägt es ihn am Día de los muertos – das ist die farbenfrohe und lebendige Entsprechung unseres düsteren Feiertags Allerseelen – ins Reich der Toten. Dort begegnet er seinen Vorfahren: elegant gekleideten Skeletten mit expressiven Charakteren und, im Falle seiner Ururgroßmutter, einem Wahnsinns-Augenaufschlag. Miguel besteht einige Abenteuer und schafft es gerade noch rechtzeitig vor Sonnenaufgang wieder zurück ins Reich der Lebenden.

Als Zuschauer kann man aus diesem wunderschönen Film folgende Idee mitnehmen: Solange man die Toten nicht vergisst, geht es ihnen gut. Was für ein erleichternder Gedanke – dass noch eine Verbindung besteht, dass die Toten zu den Lebenden gehören, dass Feiern und Tod sich nicht gegenseitig ausschließen. Leider ist unsere Kultur sehr viel ärmer als die mexikanische, was den Umgang mit Tod angeht. Stumm und starr vor Schreck verbannen wir ihn möglichst weit aus unserem Leben. Ein Bestatter hat mir mal gesagt, es gebe nichts Traurigeres als tote Friedhöfe – Friedhöfe müssten belebt sein.

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Sie merken, worauf ich hinauswill. Joggen Sie ruhig über den Friedhof. Man muss nicht in gramgebeugtes Schreiten verfallen, bloß weil irgendwo Gebeine ruhen, wir alle sind Gebeine, nur manche können halt noch joggen. Sie werden ja nicht über Gräber laufen. Sie singen ja noch nicht einmal laut. Ich traue Ihnen zu, dass Sie respektvoll mit diesem Ort umgehen, auf dem wir alle einmal landen.