Das Krankheitsbild

Einst waren Ärzte Halbgötter in Weiß - mit Ehre, Würde und Vermögen. Heute müssen sie für ihr Recht auf die Straße gehen. Was ist da passiert? Das Porträt einer deutschen Arztfamilie.

Den ersten Nachtdienst ihres Lebens, im Sommer des Jahres 1968, wird Amaryll Scherer nie vergessen. Mit 25 war sie gerade Assistenzärztin am Krankenhaus in München-Harlaching geworden, und jetzt lag da dieser Mann, kreideweiß, kaum mehr atmend, und weit und breit kein anderer Arzt zu sehen. Nur dieser junge Medizinalassistent, der seit Tagen um sie herumschwänzelte, stand neben ihr und hatte noch weniger Ahnung als sie selbst.
Der Mann rang mit dem Tod, Herzinfarkt, so viel war klar. Plötzlich hörte sein Herz auf zu schlagen. Keiner von beiden hatte jemals einen Menschen wiederbelebt, doch jetzt mussten sie es versuchen. Am Nachmittag hatte die junge Assistenzärztin noch die Bedienungsanleitung des Defibrillators überflogen. Nun jagten sie gemeinsam einen Stromstoß nach dem anderen durch den Körper des Mannes – so lange, bis das EKG wieder zaghafte Herzschläge anzeigte. Sie hatten es geschafft – der Mann lebte.
Was als Teamwork für eine Nacht begann, wurde ein Teamwork fürs Leben. Die beiden Jungmediziner trafen sich bei gemeinsamen Diensten, sie verliebten sich, heirateten. 1971 kam eine Tochter, Kathrin, 1975 ein Sohn, Hans-Ulrich, zur Welt. Dr. Amaryll Scherer ließ sich als Kinderärztin nieder, Dr. Hans Scherer, der Medizinalassistent von damals, machte Karriere als Hals-Nasen-Ohrenspezialist, wurde erst Oberarzt, dann Professor und Chefarzt, er machte sich einen Namen als Gleichgewichtsforscher. Die junge Arztfamilie baute ein schönes Haus in München-Harlaching, mit einem großen Garten für die Kinder, stellte eine Putzfrau und ein Kindermädchen ein. Als Hans Scherer 1986 einen Ruf an die Uni-Klinik in Berlin erhielt, zog man um, in ein Eigenheim im Grunewald. Auch in der neuen Stadt lief die Kinderarztpraxis Dr. Amaryll Scherer blendend, die Karriere von Hans Scherer auch, oft arbeitete er bis zwölf, halb eins in der Nacht. Gemütliche Fernsehabende waren die Ausnahme, ebenso Wochenendausflüge ins Umland. Es waren stressige, aber glückliche Jahre.

Es waren die goldenen Jahre für Mediziner in Deutschland. Ärzte, egal ob sie in der Klinik oder in einer Praxis arbeiteten, verdienten gutes Geld, waren angesehen und zogen nicht selten mit einem dicken Mercedes den Neid im Tennisclub auf sich. In den Siebzigern und Achtzigern, da war man noch wer als Arzt, nicht nur wegen des Geldes. Die Patienten hatten Respekt, man war der »Herr Doktor«, den alle kannten, schätzten und mochten. Im Fernsehen lief die Schwarzwaldklinik und vermittelte den Deutschen nicht nur das Bild vom medizinisch kompetenten Halbgott in Weiß, sondern auch das vom sorglos-sympathischen Lebemann, der selbst für zwischenmenschliche Problemchen die richtige Therapie aus dem Ärmel schüttelt. Der Arzt im weißen Kittel, das war ein Mythos, das Symbol für eine Bundesrepublik, in der Menschen, die in ihre Ausbildung investiert hatten und bereit waren, hart zu arbeiten, der Wohlstand garantiert war. Hätte man den Scherers damals erzählt, dass ihr Sohn zwanzig Jahre später als junger Arzt mit einem Protestschild in der Hand auf die Straße gehen würde, sie hätten gelacht. Als Arzt rangierte man doch ganz oben in der Gehalts- und der Beliebtheitsskala. Protest und Streik – das war Sache von Fließbandarbeitern, von Leuten ohne akademischen Bildungsgrad, doch nicht von einem wie dem Hans-Ulrich mit seinem Einser-Examen.
Hans-Ulrich Scherer ist heute 31 und arbeitet als Assistenzarzt an der Berliner Charité. Als Kind hat er früh gespürt, dass sein Vater immer so spät nach Hause kam, weil er etwas Besonderes war, ein Professor, der Menschen operierte, der Leben rettete und als Gleichgewichtsforscher sogar mit der NASA zusammenarbeitete. »In der Schule habe ich sogar manchmal mit meinem Vater angegeben«, sagt er. Zusammen mit anderen Kindern besonderer Eltern besuchte er das Canisius-Kolleg in Berlin, eine private Jesuitenschule, ging in der 11. Klasse mit einem Stipendium nach Amerika, lernte Geige, trat dem Ruderclub bei, wurde von seinen Eltern mit in die Oper genommen. Er war der Sprössling einer Arztfamilie wie aus dem Bilderbuch, sorglos, wohlhabend und doch so bodenständig, dass Mutter Amaryll das Mittagessen für die Kinder vorkochte, bevor sie in die Praxis fuhr und abends nach einem anstrengenden Tag voller Termine die Latein-Hausaufgaben überprüfte. Dass bei Tisch oder bei Familienfeiern über Medizin gesprochen wurde, war nichts Besonderes für Hans-Ulrich Scherer, er kannte es nicht anders, seine Großeltern waren schon Ärzte gewesen, die Schwester seines Vaters hatte ebenfalls Medizin studiert und einen Chirurgen geheiratet, mit dem sie gemeinsam eine Landarztpraxis in Bayern führte, dreißig Jahre lang.

Anfang der Neunziger, als Hans-Ulrich Scherer und seine Schwester Kathrin mit dem Gedanken spielten, ebenfalls Medizin zu studieren, bekam das Familiengemälde der perfekten Arztfamilie erste Risse. Ausgerechnet die eigenen Eltern, die ihren Beruf so liebten, dass sie ihn oft mitnahmen in den Feierabend oder ins Wochenende und ihm fast ihr ganzes Leben widmeten, rieten den Kindern von einem Medizinstudium ab. Es war der Anfang einer Zeit, in der die Scherers merkten, dass ihnen der Beruf nicht mehr so viel Spaß machte, dass sich irgendetwas verändert hatte, dass sie immer weniger Zeit mit den Patienten und immer mehr Zeit vor dem Computer verbrachten, um bis spätabends nach undurchschaubaren Abrechnungssystemen irgendwelche Ziffern einzugeben.

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Hans-Ulrich Scherer wusste, wie viel seine Eltern gearbeitet hatten, unter welchem Druck sie oft standen, abgeschreckt hat ihn das alles nicht. Er war ja bereit, genauso viel zu arbeiten. Es war doch sein Traumberuf. Ja, er wollte Arzt werden, wie seine Mutter, sein Vater und auch schon dessen Vater und dessen Mutter, damals vor dem Krieg. Oft hat er sich die Schwarz-Weiß-Fotografie im Büro seines Vaters angesehen. Sie zeigt, wie sein Großvater als Medizinstudent in Berlin neben dem legendären Chirurgen Dr. Ferdinand Sauerbruch steht und unter einem Tuch die Organe eines Leichnams ertastet. Er wollte die Tradition einer großen Arztfamilie fortsetzen. Dass Arztsein im Jahr 2006 fast nichts mehr mit Arztsein 1968 zu tun haben würde, damals, als seine Eltern sich kennen gelernt hatten, das konnte er noch nicht ahnen.

Berliner Charité 2006, Station 170 T, Rheumatologische Tagesklinik, acht Uhr morgens, Hans-Ulrich Scherer bei der Morgenvisite: Eine Patientin erzählt, sie habe ihre Medikamente abgesetzt. Erschrocken sei sie, als sie auf dem Beipackzettel von möglichen Nebenwirkungen gelesen habe. Was da alles hätte passieren können. Hans-Ulrich Scherer lässt sie ausreden, hört zu, erklärt, dass sie sich wegen der Nebenwirkungen keine Sorgen zu machen brauche. Die träfen auf sie nicht zu. Immer wieder hält er inne, fragt nach, prüft, ob die Dame auch verstanden hat, ob sie ihm glaubt und vertraut, dann erst geht er ans nächste Krankenbett, obwohl er weiß, dass er am Abend wieder länger in der Klinik bleiben und Überstunden machen wird. Er sieht gut aus mit dem hellblauen Polohemd unter dem weißen Kittel, ein bisschen wie ein Fernseharzt, brauner Teint, weiße Zähne, feine Gesichtszüge, die Ruhe in Person. Ein Mediziner, der jeden einzelnen Patienten ernst nimmt, ein Mensch, dem man seine Manieren ansieht, der seine Erziehung aber nicht wie eine Monstranz vor sich herträgt. Ein sympathischer junger Mann, ernsthaft, aber nicht verbissen, engagiert, aber bescheiden.

Und unzufrieden. Denn vor ein paar Wochen hat er sich mit einem Schild, auf dem »Müder Arzt« stand, vor die Klinik gestellt und die Arbeit verweigert. Die Patienten, deren Termine er wegen des Streiks verschieben musste, hätten Verständnis gehabt, sagt er. Längst haben auch Leute, die früher gern auf die Ärzte schimpften wegen deren Gehalt und Status Mitleid mit den Medizinern. Warum? Er rechnet es vor: Vierzig Stunden Arbeit in der Woche plus zehn unbezahlte Überstunden, macht 200 Stunden im Monat, bei einem Nettolohn zwischen 1700 und 1800 Euro, macht neun Euro pro Stunde.

Urlaubs- und Weihnachtsgeld bekommt er nicht mehr. Pro Monat macht er einen Bereitschaftsdienst, dann ist er von Freitagmorgen bis Samstagmittag in der Klinik. Ein Dienst pro Monat, das ist nicht viel, aber weil seine Freundin als Gynäkologin sechs bis sieben Doppelschichten hat, fallen gemeinsame Wochenenden regelmäßig ins Wasser. Doch das wenige Geld, die wenige Zeit, das wäre zu verkraften, der Beruf macht ja Spaß, sehr sogar und die Entbehrungen nimmt er gern in Kauf. Schließlich hat er den Beruf bewusst gewählt. Es ist eher die Erkenntnis, dass an deutschen Unikliniken viel mehr ab- und kaum aufgebaut wird, die ihm zu schaffen macht, und die Tatsache, dass er kaum mehr dazu kommt, seinen Beruf auszuüben.
Es sind die vielen Anfragen der Krankenkassen, die Flut an Rechtfertigungsschreiben, die minutiöse Dokumentation seiner täglichen Arbeit, der Verwaltungskram also, der Hans-Ulrich Scherer frustriert. Und das Gefühl, dass seine Arbeit nicht mehr honoriert wird, dass man als Klinikarzt zunehmend ans Geld und immer weniger an den Patienten zu denken hat, dass sich hier ein Beruf, der mal im Dienste des Menschen stand, so verändert, dass man sich überlegen muss, ob man das überhaupt noch sein will: klassischer Arzt.

Seitdem Unternehmensberater die Kliniken nach Einsparmöglichkeiten durchforsten und in deutschen Krankenhäusern nach einem neu-en System, den so genannten DRG (Diagnosis Related Groups), abgerechnet wird, bekommen die Kliniken für jeden Patienten eine Pauschale, die je nach Diagnose unterschiedlich hoch ist. Je effizienter ein Patient behandelt, je schneller er wieder entlassen wird, desto mehr verdient die Klinik an ihm. »Oft werden Patienten zu früh entlassen und stehen zwei Tage später wieder in der Notaufnahme«, sagt Hans-Ulrich Scherer. Außerdem behandeln immer weniger Ärzte immer mehr Patienten in immer kürzerer Zeit. Die Sorgfalt, die persönliche Zuwendung, das intime Gespräch, das alles geht verloren. In Australien wurde das System gerade wieder abgeschafft. »Als Arzt muss ich heute immer mehr nach Zahlen arbeiten, ständig muss ich mich fragen: Kann sich die Klinik das leisten? Arbeite ich effizient? Darf ich dieses Medikament verschreiben? Dabei geht es doch um Menschen. Es gibt Momente, in denen würde ich für meine Patienten gern mehr tun, kann es aber nicht, einfach, weil es zu teuer ist.«

»Einmal im Monat«, sagt auch sein Vater, Professor Hans Scherer, 63, »sitzen wir zusammen und müssen uns überlegen, wie wir noch mehr Geld aus den Patienten rausquetschen können. Wir sind doch Ärzte und keine Betriebswirte.« Seitdem sich die Ärzte für jede ihrer Behandlungen regelmäßig vor so genannten Controllern rechtfertigen müssen, werde jeder Schnitt, jedes Wort, jeder Tupfer dokumentiert. Die Folge: Alles wird notiert, aufgeschrieben, durchgerechnet, abgeheftet. Es entsteht ein riesiger Datenberg. Die Controller werden übertariflich bezahlt und werden immer mehr, die Ärzte kriegen niedrige Gehälter und werden immer weniger. »Bei uns wurde inzwischen so viel eingespart, dass ich mir beim Operieren manchmal vorkomme wie ein Pilot, der einen Jumbo fliegt, der Copilot ist allerdings wegrationalisiert und das Flugzeug schon seit Jahren nicht mehr gewartet.« Die Sicherheit für den Patienten nehme ab, und zwar dramatisch. »Inzwischen leben wir in einem Land«, sagt er dann, »das seine Ärzte in eine Krise treibt.«

Wer früher ein gutes Abitur hatte und von einer Zukunft im Wohlstand träumte, der studierte Jura, BWL oder Medizin. Die anderen, die Germanisten, die Soziologen, die wurden verspottet, als zukünftig arbeitslose Gutmenschen und Spinner. Heute wird der Arzt Hans-Ulrich Scherer belächelt, von Bekannten, die auch Medizin studiert haben, aber abgesprungen sind und bei Pharmafirmen und Unternehmensberatungen angeheuert haben. »Für die bin ich nun der Idealist«, sagt er. Dabei wissen sie noch nicht einmal, dass er vor ein paar Monaten sogar aus seiner privaten Krankenversicherung austreten musste, weil er unter die Beitragsbemessungsgrenze gefallen war. »Es ist absurd.« Vor kurzem war es sogar noch so, dass Hans-Ulrich Scherer mit 36 zum Oberarzt hätte aufsteigen können, ohne einen Cent mehr zu verdienen als heute. Das wurde gerade geändert. Trotzdem ist er froh, dass seine Freundin ebenfalls Geld nach Hause bringt. Wenn sie zusammenlegen, können sie gut leben, zumal in einer Stadt wie Berlin, die nicht teuer ist. Sie wohnen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg, die Bücher stehen in Billy-Regalen, über das kleine, alte Sofa ist ein Tuch gebreitet. Gerade ist Hans-Ulrich Scherer sogar im Besitz eines Autos: Seine Schwester hat ihm ihren Wagen geliehen.

Ein Orthopäde, ein Freund von ihm, sei da viel schlechter dran: Der habe Schwierigkeiten, seine Frau und sein kleines Kind zu ernähren. Um über die Runden zu kommen, mache er einen Dienst nach dem anderen, sei total übermüdet und verbringe kaum mehr Zeit mit seiner Familie. »Da stimmt doch was nicht im System«, sagt Hans-Ulrich Scherer. Seine Schwester Kathrin hat längst die Konsequenzen gezogen: Als ausgebildete Fach-ärztin war ihr von der Charité nur eine Assistenzarztstelle mit einem Jahr Laufzeit angeboten worden. Das war zu wenig. Jetzt geht sie an die Uniklinik nach Basel, als Oberärztin, für fünf Jahre und ein Gehalt, das mehr als doppelt so hoch ist. »Dass man guten Leuten auch gutes Geld zahlen muss«, sagt Hans-Ulrich Scherer, »das wird in Deutschland einfach nicht kapiert.«

Als seine Eltern Assistenzärzte waren, in den Sechzigern, verdienten sie 1500 Mark im Monat, auch damals kein Vermögen, aber danach stand einem die Welt offen, man konnte an der Klinik Karriere machen oder noch besser: sich niederlassen und mit einer eigenen Praxis viel Geld verdienen, damals, als man sich noch nicht für jedes verschriebene Medikament, für jede Röntgenaufnahme rechtfertigen musste. Als Ärzte ihre Patienten noch so gut kannten, dass sie jedes Wehwehchen auswendig wussten und Grüße an den Gatten oder die Gattin ausrichteten. Heute hangelt man sich als Klinikarzt von einem kurzfristigen Vertrag zum nächsten und kämpft als Praxisarzt gegen die Insolvenz.
Hans-Ulrich Scherers Tante Marie-Luise Nardi und ihr Mann Peter eröffneten 1976 ihre Gemeinschaftspraxis in Regenstauf in der Nähe von Regensburg. Die Entscheidung gegen eine Karriere an einer renommierten Universität und für ein Leben auf dem Land mit eigener Praxis war noch kein Risiko. Es gab eher viel zu viel zu tun. Peter Nardi behandelte oft schon um fünf Uhr morgens die Bauern und Arbeiter, die nach Feierabend im Wirtshaus mit ihm an einem Tisch saßen. Er arbeitete regelmäßig 13, 14 Stunden, als Mittagessen reichte eine Wurstsemmel zwischendurch, gegen den Stress rauchte er hundert Zigaretten am Tag. Sogar kleinere Operationen führte er in der Praxis durch, seine Frau stand ihm halbtags zur Seite, dreißig Jahre lang. Eine richtig gut laufende Familienpraxis war das gewesen, gleich neben dem Wohnhaus, mit 15 Angestellten. Inzwischen ist er 67, sie 66 Jahre alt. Seit zwei Wochen sind die beiden in Rente. Die Praxis ist verkauft, das Wohnhaus mit dem großen Garten ebenfalls, das brauchen sie jetzt nicht mehr, wo die Kinder aus dem Haus sind.

Was sie am Ende in ihrem Beruf immer mehr vermisst haben, das können sie nur schwer beschreiben, es ist eher so ein Gefühl, das sich nicht in Monatsgehältern oder Arbeitsstunden messen lässt. »Früher war das Verhältnis eines Arztes zu seinen Patien-ten von Vertrauen geprägt«, sagt Peter Nardi. »Auf der einen Seite, da saß einer, der brauchte Hilfe, weil er krank war, auf der ande-ren einer, der helfen konnte, weil er Ahnung hatte.« Heute seien die Patienten kritischer, lesen im Internet oder in Gesundheits-magazinen nach, wollen mitreden, und wenn sie unzufrieden sind, wechseln sie einfach den Arzt oder konsultieren mehrere gleichzeitig. Die Folge: ein heilloses Durcheinander. Das Vertrauens-verhältnis löst sich auf oder kommt erst gar nicht zustande. Ähnlich wie mit der Kreditkarte in ein Hotel lässt es sich heute mit der Chipkarte in jede beliebige Praxis einchecken. Ärzte werden zu Dienstleistern, zu Beratern, die man ausprobiert und wieder fallen lässt, Patienten zu Anlegern, an deren Geld es heranzukommen gilt. Auch den Nardis machte es am Ende keinen richtigen Spaß mehr: zu viel Computerarbeit, zu viel Bürokratie, zu viel Effi-zienzdenken, immer weniger Zeit für den einzelnen Patienten. In den letzten Jahren haben sie oft wochenlang umsonst gear-bei-tet, wenn das Quartalsbudget aufgebraucht war, Kollegen haben ihre Praxen für diese Zeit einfach geschlossen. »Früher, sagt Peter Nardi, »agierte man als Arzt wie in einem herrschaftlichen System. In seiner Praxis konnte man tun und lassen, was man wollte. Heute ist der Arzt der Knecht der Krankenkassen und der Regierung.«
Vielleicht sind die Nardis die letzte Generation von Ärzten, bei denen die Rechnung noch aufging: viel Arbeit, viel Stress, gutes Geld. Bis Ende der Neunziger setzte ihre Praxis oft eine halbe Million Mark im Jahr um, Reingewinn zwischen 200 000 und 250 000 Mark. Auch jetzt, im Rentenalter, müssen sie auf nichts verzichten, fahren einen Mercedes, leisten sich Abonnements für die Oper und das Rundfunkorchester in München, jetzt wollen sie sogar noch mal studieren. Sie: Kunstgeschichte. Er: Germanistik.

Ihre drei Kinder sind wie Hans-Ulrich Scherer stolz auf ihre Eltern, auf diese zwei Leben voller Fleiß, Stress, Entbehrung und Dienst am Menschen, aber Arzt wollte keines von ihnen werden. Die Tochter ist Wirtschaftsprüferin, die beiden Söhne arbeiten als Jurist und Physiker. Alle drei sind fleißig und arbeiten viel.