Schreiben, um zu bleiben

Volksführer, Vorbild, Kern der Nation: Der übermächtige chinesische Staatschef Xi Jinping mischt als Autor auch noch den Buchmarkt auf.

Illustration: Sarah Mazzetti

Xi Jinping: Lange hat die Welt so einen nicht gesehen. Xi der Unvergleichliche. Xi der »Steuermann«, der die Nation durch alle Stürme lenken wird. Xi der »Volksführer«, der sein Volk zur Wiederauferstehung geleitet, an seinen angestammten und rechtmäßigen Ort: die Spitze der Welt. Seit dem Tode Mao Zedongs vor einem halben Jahrhundert haben sie keinem mehr so gehuldigt in China. Er ist der »Kern«, um den herum sich alles schart, die Partei, das Land, und, wenn sie noch bei Sinnen ist, bald auch die Welt.

Manche nennen ihn den mächtigsten Mann der Erde. Xi Jinping hat noch nie eine Pressekonferenz gegeben. Er hat kein Konto auf dem Kurznachrichtendienst Weibo, und tweeten tut er schon gar nicht. Wenn er in der Provinz zu Tränen gerührte Bauern in deren einfacher Kate besucht, dann erfährt man das immer erst im Nachhinein, in den Abendnachrichten des Staats­senders CCTV, wo das Publikum gemeinhin so überwältigt ist von seinem Genius, dass es auch schon einmal vier Minuten lang ununterbrochen klatschen darf.

Xi Jinpings Ideen (offiziell sind es die »Xi-Jinping-Gedanken über den Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten in einer neuen Ära«) sind von solch visionärer Kraft, dass sie 2017 in die Statuten der KP Chinas und ein Jahr später in die Verfassung der Volksrepublik aufgenommen wurden.

Meistgelesen diese Woche:

Wer sich gegen Xi stellt, heißt es, ist seither automatisch Feind der Partei und Feind des Staates. Wie aber könnte man sich gegen einen wie ihn stellen? Ist er nicht der Quell der »chinesischen Weisheit«? »Er ist unser aller Vorbild«, schreibt die Nachrichtenagentur Xinhua, »er nährt die Kraft der Nation mit seinem literarischen Ruf«.

Sein literarischer Ruf, tatsächlich: Unter all den unermüdlichen Autoren dieser Erde ist Xi der unermüdlichste, Autor nämlich von »Bestsellern in mehr als 160 Ländern« (Xinhua). Die Forscher vom Hongkonger China Media Project zählten in den ersten zehn Jahren von Xi Jinpings Herrschaft im Durchschnitt erstaunliche zwölf Bücher pro Jahr, die in seinem Namen veröffentlicht wurden. Macht bis heute mindestens 120 Bücher, die Xi als Autor zählen. (Die Vorgänger schafften gerade mal ein bis zwei Titel pro Jahr.) Allein bis November dieses Jahres kamen nach unserer Zählung noch einmal um die zwanzig dazu: Werke wie Xi Jinpings Reden zur nationalen Ernährungssicherheit; Über die Arbeiterklasse; Wichtige Gedanken zum starken Internetstaat; Über die Achtung und den Schutz der Menschenrechte; Zur Modernisierung nach chinesischem Vor­bild; Zu Hause bei den einfachen Menschen; Xi Jinping diskutiert Frauen und Kinder und die Arbeit der Frauenföderation, oder aber zuletzt das von Wasseringenieuren im ganzen Land sehnsüchtig erwartete Xi Jinping über die Verwaltung der Wasserressourcen.

In China kommen die Parteikader, die Beamten und die Studenten mit dem Lesen gar nicht mehr nach

Vom ersten Band seines Werkes China regieren sollen allein bis 2021 weltweit mehr als dreißig Millionen Bände verkauft (vielleicht aber auch verschenkt) worden sein. Facebook-Chef Mark Zuckerberg hatte sich einst als fleißiger Leser geoutet und das Werk öffentlichkeitswirksam auf seinem Schreibtisch platziert, damals, als er noch auf Marktzugang in China hoffte. Soeben erschien Band vier, unter anderem auch auf Deutsch, Französisch, Spanisch, Russisch und Arabisch. Pekings Propagandapresse weiß von einer »enthusiastischen Reaktion des Publikums in Übersee« zu berichten: In Bangladesch konnten atemlose Leser die Fortsetzung von Xis Verwaltungs-Thriller »kaum erwarten«, meldet Xinhua, in Afrika werde das Buch als »Inspiration« empfangen. Wer anderes als Xi nämlich hat der Welt die Augen geöffnet: Nicht der in Chaos und Verfall begriffene Westen ist das Modell für die Welt, »Chinas Erfolg weist den Weg«.

Zu Hause in China aber kommen die Parteikader, die Beamten und die Studenten mit dem Lesen gar nicht mehr nach, so schnell haut der oberste Lehrmeister die Lektionen raus: Jeder einzelne Titel ist auch Lehrbuch, Material für unzählige Stunden gemeinsamer Studien unter aufmerksamer Anleitung der lokalen Parteizelle. Nur so, schreibt Xinhua, lernten die Massen im ganzen Land, was es bedeutet, zum Beispiel »die ›vier Bewusstseine‹ zu stärken, die ›vier Selbstvertrauen‹ zu nähren sowie die ›zwei Etablieren‹ und die ›zwei Absichern‹ zu verwirklichen«. Alles zentrale Slogans aus den Reden Xis. Aber die Mühe lohnt sich, steht am Ende all der Weiterbildung doch »ein hohes Maß an Kohärenz mit dem Zentralkomitee der Partei – mit dem Genossen Xi Jinping als Kern«.

Ausgewählte Werke in mehreren Bänden (Peking, April 2023) gibt es auch schon, kleine rote Xi-Bibeln schon lange – weil Xi Jinping aber auch der »Weise des Internets« (Xinhua, 2016) ist, hat der Propaganda-Apparat Xis Gedanken längst in eine Vielzahl von Apps gegossen. Die erste und bis heute bekannteste kleine rote App hieß »Studieren und das Land stark machen«, was sich auch lesen lässt als »Von Xi lernen und das Land stark machen«. Als sie 2019 erschien, war sie binnen Kurzem die meistheruntergeladene App des Landes. Das war Propaganda, gefüttert vom Algorithmus. Propaganda als Quiz.

Parteizellen überall veranstalten seither Wettbewerbe. Das Volk sammelt Punkte in den Apps: Xi-Reden lesen, Xi-Reden schauen gibt Punkte, Xi-Quizfragen beantworten noch mehr. Nutzungszeit und Punktestand werden direkt weitergeleitet an die Prüfer. Hat aus deren Sicht den Vorteil, dass keiner mehr das Handy in die Ecke pfeffern kann, wie das bisweilen geschieht mit der ungelesenen Volkszeitung und Büchern aus Papier. Eine Zeit lang ließ sich der Algorithmus austricksen, indem man etwa ein Xi-Video – und damit den Punktezähler – weiterlaufen ließ, während man pfeifend in der Dusche stand. Geht schon lange nicht mehr: Die Apps haben jetzt Anwesenheitskontrolle, alle paar Minuten per Gesichtserkennung.

Xi Jinping sieht dich, der Volksführer vergisst keinen.