Sein wahres Gesicht

Vor 65 Jahren tat der Hitler-Attentäter Graf von Stauffenberg das Richtige. Aber es ist falsch, den strikten Anti-Demokraten heute zum Superhelden zu verklären. Anmerkungen zum Start des Films "Operation Walküre".

Nur wenige Ereignisse der innerdeutschen Geschichte des Zweiten Weltkriegs waren von höherer Dramatik als der Versuch des Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 den Führer des deutschen Reiches, Adolf Hitler, zu ermorden. Die geflüsterten Gespräche und geheimen Unterredungen der Verschwörer im Vorfeld; die abgebrochenen Attentatsversuche am 11. und 15. Juli; die atemberaubende Kühnheit bei der Durchführung des Bombenanschlags; der Zufall, durch den Hitler mit dem Leben davonkam; die chaotischen Zustände bei Beginn der Operation Walküre, die immer aussichtslosere Lage der letzten Stunden im Armeehauptquartier in der Berliner Bendlerstraße; die tiefe Tragödie der hastigen Hinrichtung Stauffenbergs; das Rätsel seiner letzten Worte: »Es lebe das geheiligte Deutschland!« Dass die Verschwörung des 20. Juli 1944 jetzt Thema eines Hollywood-Films geworden ist, überrascht nicht.

Doch Stauffenberg eignet sich nicht für die Rolle des Actionhelden, der aus dem einfachen moralischen Antrieb handelt, wie er dem Bestreben Hollywoods genügt, Geschichte im Rahmen starker Gegensätze von Gut und Böse abzuhandeln. Stauffenbergs Moralverständnis war ein vielschichtiges Konglomerat aus katholischer Lehre, einem aristokratischen Ehrenkodex, dem Ethos des Alten Griechenland und deutscher romantischer Dichtung.

Mehr als alles andere prägte ihn in dieser Hinsicht wohl der Einfluss des Dichters Stefan George, dessen Ehrgeiz es war, ein »Geheimes Deutschland« wiederzubeleben, das den Materialismus der Weimarer Republik hinwegfegen und das Leben in Deutschland zu seiner wahren Spiritualität zurückführen sollte. Vom Gedankengut Georges inspiriert, ersehnte Stauffenberg ein idealisiertes mittelalterliches Reich, durch das Europa – unter der Führung Deutschlands – ein neues Maß an Kultur und Zivilisation erlangen würde. Eine Sinnsuche dieser Art war nicht untypisch für die utopistischen Ideen, die am Rande der Weimarer Republik gediehen – optimistisch und ehrgeizig, aber auch abstrakt und unrealistisch: eine völlig ungeeignete Grundlage für eine reale politische Zukunft. Diese Denkart unterschied Stauffenberg von anderen, oft langjährigen Mitgliedern des Widerstands innerhalb des Militärs. Deren Pläne, Hitler zu stürzen, reichten bei manchen bis 1938 zurück und waren vor allem von der Überzeugung getrieben, dass der Krieg, den die Nationalsozialisten anstrebten, nicht zu gewinnen war. Diesen Krieg vom Zaun zu brechen, so glaubten sie, werde Deutschland unabsehbaren Schaden zufügen.

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Mehr als eine prinzipielle Opposition zum Nationalsozialismus war es diese Befürchtung, die die Anführer des militärisch-aristokratischen Widerstands in den ausgehenden Dreißiger- und beginnenden Vierzigerjahren motivierte. Wie diese Männer verstand sich auch Stauffenberg zuerst als Soldat, ganz nach der jahrhundertealten Tradition seiner Familie, und für lange Zeit wog dieses Selbstverständnis schwerer als die Einflüsse, die im Kreis um Stefan George auf ihn wirkten.

Selbst gegen Ende der Dreißigerjahre war Stauffenberg merklich stärker dem Nationalsozialismus zugetan als viele ältere Offiziere. Verwandte beschrieben ihn als das einzige »braune« Mitglied der Familie. Obwohl er später jegliche Begeisterung für den Nationalsozialismus verlieren sollte, hatte er für die parlamentarische Demokratie zeitlebens nur Verachtung übrig. Allein schon aus diesem Grund ist Stauffenberg als Vorbild für künftige Generationen schlecht geeignet.

In den 1930ern war Stauffenberg zuerst begeistert von der geistigen Erneuerung, wie sie die Nationalsozialisten versprachen. Er unterstützte Hitler 1932 bei der Reichspräsidentenwahl und begrüßte seine Ernennung zum Reichskanzler: In der Nacht des 30. Januar 1933 nahm er an einer Straßendemonstration zur Feier des Ereignisses teil. Später stand er einem befreundeten Künstler für eine monumentale Soldatenstatue der Nationalsozialisten Modell.

Zwar trat er bei aller Begeisterung nie in die Partei ein – für ihn war die einzige Partei der Kreis um Stefan George –, doch er glaubte, die Nationalsozialisten führten eine Bewegung der nationalen Erneuerung an, die mit den schäbigen parlamentarischen Kompromissen der Weimarer Zeit aufräumen würde. Darüber hinaus war er auch der Meinung, dass eine Politik der Bereinigung der deutschen Rasse und des Ausmerzens jüdischer Einflüsse daraus ein entscheidender Teil dieser Erneuerung sein müsse.

Und obwohl er offene Gewalt gegen Juden ablehnte, protestierte er nur ein einziges Mal, nämlich als das vulgäre antisemitische Hetzblatt Der Stürmer schrieb, Stefan Georges Dichtung sei von ihrem Wesen her jüdisch und dadaistisch. Hitlers Erfolge bei der Revision des Versailler Vertrags blieben für Stauffenberg eine überragende Leistung.

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Stauffenbergs Bedenken, ob es klug sei, einen großen europäischen Krieg zu beginnen, wurden vom überwältigenden Erfolg der Wehrmacht 1939 und 1940 zerstreut. Er sah darin einen entscheidenden Schritt hin zur Schaffung jenes europäischen Großreichs, von dem er als »Jünger« Stefan Georges geträumt hatte. In Feldzügen der ersten beiden Kriegsjahre kämpfte Stauffenberg tapfer und mit Begeisterung. Erst 1941, in den Monaten nach der Invasion der Sowjetunion, kamen ihm Zweifel, ob der Nationalsozialismus die Ideale verwirklichen würde, die er erreichen wollte. Stauffenberg erkannte, dass Hitler die deutschen Ressourcen in einer Weise beanspruchte, die ein Scheitern unausweichlich machte.

Wichtiger noch, die Massentötungen von Zivilisten hinter der Ostfront, die Ermordung von dreieinhalb Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen und vor allem die Erschießung Hunderttausender Juden überzeugte Stauffenberg, dass das nationalsozialistische Regime rücksichtslos jenes Wohlwollen zertrampelte, das ihm die Völker, die es vom Joch Stalins befreit hatte, anfänglich entgegengebracht hatten. Es verriet seine Vorstellung eines neuen Europa, das unter der gütigen Herrschaft des Deutschen Reichs gedieh. Das Regime, so dachte er, verriet sogar die Ideale des Nationalsozialismus selbst.

Wie die wenigen anderen Offiziere, die die Art und Weise der Kriegsführung an der Ostfront missbilligten, fand Stauffenberg also zuerst zu einer Haltung, die eher von militärischen als von moralischen Überlegungen geprägt war. Im Verlauf des Jahres 1942 erkannte Stauffenberg allerdings, dass diese Gräueltaten nicht nur kontraproduktive Begleiterscheinungen einer brutalen Politik der Kriegsführung waren, sondern letztlich das Wesen des deutschen Kriegseinsatzes darstellten. Hitler und die Führung der Nationalsozialisten verrieten Deutschland: Sie verhinderten nicht nur die Umsetzung der spirituellen Werte des »Geheimen Deutschland«, sie negierten diese.

Sie pervertierten militärische Werte und verwickelten die Streitkräfte in grauenvolle Verbrechen, die gegen die grundsätzlichsten Prinzipien verstießen, nach denen er und andere Offiziere lebten. Hätte Stauffenberg den Krieg überlebt, dann hätte er kein Verständnis für diejenigen gehabt, die später behaupteten, die Wehrmacht sei vom mörderischen Geist des Nationalsozialismus unbefleckt geblieben. Die Armee selbst war zu einem Instrument des Verbrechens geworden.

Es war diese moralische Überzeugung – gewonnen, als Deutschland in Europa noch die absolute Vorherrschaft innehatte –, die Stauffenberg von den eher pragmatischen Ansichten einiger anderer Verschwörer unterschied. Von jenen, denen vor allem daran gelegen war, Deutschland vor der totalen Niederlage zu retten, mit der das Land nach Stalingrad rechnen musste. Stauffenberg wurde aktiv, als viele andere Mitglieder des militärisch-aristokratischen Widerstands noch zögerten.

Der Schwur, den er für die Verschwörer ersann, verpflichtete sie auf eine neue Ordnung, »die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht« – aber auch dazu, »die Gleichheitslüge« zu verachten« und sich »den naturgegebenen Rängen« zu beugen. Wie beinahe alle Zweige des Widerstands war Stauffenberg der Meinung, der Parlamentarismus, die einzig praktikable Form einer demokratischen Politik, habe in der Weimarer Republik seine Bankrotterklärung abgeliefert; dass dieses politische System nach dem Krieg wiederauferstehen sollte, hätte Stauffenberg verärgert und auch überrascht.

Auch hier waren seine Vorstellungen – in ihrer arroganten Zurückweisung sozialer und politischer Gleichberechtigung – eher rückwärts- als zukunftsgewandt. Diese Ablehnung von Gleichheit und Demokratie teilten, in verschiedenen Ausprägungen, die vielfältigen Gruppierungen innerhalb des Widerstands. Somit hatte der Versuch, politische Persönlichkeiten anderer Weltanschauungen, etwa Sozialdemokraten, mit ins Boot zu holen, nie eine realistische Aussicht auf Erfolg.

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Die führenden Figuren des 20. Juli revidierten mehrfach ihre Ziele und wurden merklich bescheidener, je schlimmer die militärische Situation Deutschlands wurde. Doch noch im Mai 1944 fanden sich darunter Friedensverhandlungen auf der Grundlage der deutschen Grenzen von 1914 inklusive Österreich, dem Sudetenland und Südtirol, die Selbstverwaltung für Elsass-Lothringen und der Erhalt schlagkräftiger Wehrmachtstruppen zur Verteidigung im Osten.

Diese hochgesteckten Ziele, die Deutschland weiterhin als vorherrschende Macht auf dem Kontinent etabliert hätten, zeigen, dass Stauffenberg und seine Mitverschwörer bis zum Ende deutsche Nationalisten blieben. Diese Ziele, wären sie je durchgesetzt worden, hätten eine schlechte Garantie für Frieden und Zusammenarbeit in Europa abgegeben.

Mit Blick auf die Tatsache, dass die Alliierten auf einer bedingungslosen Kapitulation beharrten, sind die außenpolitischen Ziele der Verschwörung nur extrem unrealistisch zu nennen. Als die Bombe explodierte, hatten die meisten ihrer Anführer diese unappetitliche Wahrheit bereits erkannt. Nach der Invasion in der Normandie zweifelte Stauffenberg, ob die Ermordung Hitlers noch irgendeinen politischen Nutzen habe.

Jetzt war mit Sicherheit jede Hoffnung geschwunden, in Verhandlungen mit den Alliierten eine Einigung zu erreichen und zumindest einen Teil Deutschlands vor dem Ruin zu retten. Doch seine Mitverschwörer überzeugten ihn, dass Pragmatismus ausgedient habe: Es ging nur mehr darum zu zeigen, dass der deutsche Widerstand bereit war zu handeln.

Stauffenberg wusste daher, dass seine Bombe vor allem als moralische Geste bedeutsam war. Als er sie zündete, war sein Ziel, damit die Ehre des deutschen Volkes zu retten. Doch auch diese Absicht schlug fehl. Der Ehrbegriff, auf den die Verschwörung in ihren letzten Phasen baute, war dem nicht unähnlich, der ein Jahr zuvor die Juden des Warschauer Ghettos dazu bewog, sich nicht kampflos dem letzten Vernichtungsschlag der SS zu ergeben.

Ein letztes demonstratives Aufbegehren, das wohl auch vergleichbar ist mit dem der deutschen Marineoffiziere, die Anfang Oktober 1918, als schon alles verloren war, versuchten, die Flotte gegen die Royal Navy in Stellung zu bringen. In gewisser Weise ähnelt Stauffenbergs Entscheidung sogar dem Entschluss Hitlers, Goebbels’ und anderer Parteigrößen der Nationalsozialisten, sich in den letzten Kriegsmonaten für ihre ganz spezielle Version einer deutschen Zukunft selbst zu opfern.

Doch die Führung der Nationalsozialisten opferte natürlich auch Millionen anderer Menschen. Die Verluste unter deutschen Soldaten erreichten in den letzten Kriegsmonaten einen Höhepunkt, ebenso die Zahl deutscher Zivilisten, die bei Bombenangriffen starben. Und der Massenmord an den Juden ging bis zum Ende weiter. Auch wenn Stauffenbergs Bombe Hitler getötet hätte, ist es unwahrscheinlich, dass der Militärputsch, den die Gruppe im Anschluss geplant hatte, die Verschwörer an die Macht gebracht hätte.

Große Teile der Armee, der SS und der NSDAP hätten sich mit Waffengewalt gewehrt; in der Folge wäre Bürgerkrieg wohl das wahrscheinlichste Szenario gewesen. Es besteht allerdings kaum ein Zweifel daran, dass dies den Alliierten massive militärische Vorteile gebracht hätte. Der Krieg wäre schon mehrere Monate früher beendet worden. Millionen Menschen hätten gerettet werden können.Das allein ist schon Rechtfertigung genug für Stauffenbergs Tat. Sein Scheitern war jedoch ein Scheitern auf ganzer Linie.

Der Krieg ging weiter: Weitere Millionen Menschen starben. Anti-Demokrat, Elitist und Nationalist, der er war, hatte Stauffenberg der Politik künftiger Generationen nichts zu geben, weniger noch der Politik von heute. Der verzweifelte Heroismus Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer konnte auch nicht das Ansehen Deutschlands retten. Der Verschwörerkreis umfasste nur eine winzige Minderheit des deutschen Volkes. Die große Mehrheit kämpfte weiter bis zum Ende.

Die meisten waren über die Nachricht des Attentats entsetzt – und erleichtert, dass Hitler überlebt hatte. Als moralische Geste war Stauffenbergs Bombe ohnehin völlig unzureichend, um die Verbrechen auszugleichen, die im Namen Deutschlands und mit der überwältigenden Unterstützung, der Duldung oder dem schweigenden Einverständnis des deutschen Volkes begangen wurden.

Lange vor Stauffenbergs Attentatsversuch, am 16. Juni 1943, schrieb der Offizier Wilm Hosenfeld, ein Katholik und ehemaliger Dorfschullehrer: »Mit diesem entsetzlichen Judenmord haben wir den Krieg verloren. Eine untilgbare Schande, einen unauslöschlichen Fluch haben wir auf uns gebracht. Wir verdienen keine Gnade, wir sind alle mitschuldig.«

Richard J. Evans, geboren 1947 in London, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Cambridge mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus und Autor von »Das Dritte Reich, I: Aufstieg« (DVA, 2004), »II: Diktatur« (DVA 2006). Der dritte Band »III: Krieg« erscheint im Oktober 2009.

Aus dem Englischen von Stephan Klapdor