S wie Spiegel

Der »Spiegel« ist immer noch das wichtigste Erzeugnis des deutschen Printjournalismus. Auch wenn seine Redakteure das nur allzu gut wissen.

Wenn man den Spiegel lange genug gelesen hat, so etwa dreißig Jahre lang, kommt einem immer wieder mal der Gedanke, dass man ihn eigentlich nicht mehr lesen muss. Zwar wechseln im Laufe der Jahre und Jahrzehnte sowohl die Akteure als auch die Redakteure der Geschichten. Aber irgendwie bleibt dann doch alles gleich: die kurzen Absätze; die Manie, aus jedem Vorgang eine Erzählung zu machen; die Symbolsprache der vielen bunten Bilder; die ebenso schwäbische wie hanseatische Präzision der Dokumentation, die für Humor leider keine Quellen findet. Angeblich gibt es irgendwo in der ausgeklügelten Textziselierungshierarchie eine Instanz am Ende eines langen Hamburger Flures, die für zu entfernenden Witz ein ähnlich feines Organ hat wie jene Kanarienvögel, die einst im Bergbau vor giftigen Gasen warnten.

Andererseits: Wenn man den Spiegel lange genug gelesen hat, kann man nicht mehr auf ihn verzichten. Er ist viel dicker als TIME und Newsweek, und er ist oft zwar nicht so originell wie der Economist, aber deutlich besser informiert. Die ewig langen Alles-Erklär-Geschichten können einem zwar auf die Nerven gehen, aber nirgendwo sonst findet man regelmäßig so faktenreiche, angenehm zu lesende Gesamtschauen zu Krieg und Krise, zu Berlin und Washington, zu Sex und Jesus. (Jesus nicht mehr so viel, seit Rudolf Augstein tot ist.) Beim Spiegel schreiben herausragende Journalisten, eloquente Wichtigtuer und feinsinnige Ansichselbstleidende. Eine Fußballmannschaft könnte der Spiegel nie sein, weil vom Vereinspräsidenten über ein Dutzend Trainer bis zur Reserve der Ersatzreserve immer alle auf dem Platz sein wollen. Das jedenfalls ist das Prinzip der Mitarbeiter KG, die den Spiegel zur Hälfte besitzt. Der Spiegel ist nicht jede Woche das Beste, was es gibt im deutschen Print-Journalismus, aber er ist kontinuierlich so gut, dass Deutschland wirklich ärmer wäre, wenn es ihn nicht mehr gäbe. Doch, man muss ihn lesen, unbedingt. Sonst könnte man gar nicht mit Überzeugung sagen, dass der Spiegel auch nicht mehr das ist, was er früher einmal war.

Der Spiegel ist auch eine Menschenfressermaschine. Er frisst und verdaut jene, über die er schreibt, was vielen nicht gut bekommt, denn wie man weiß, sieht eine Kartoffel vor dem Genuss auch ganz anders aus als nach der Verdauung. Wen er nicht richtig frisst, den schneidet er zu, passt ihn an, weil jeder in einer Spiegel-Geschichte eine Rolle zu spielen hat, die ihm vom Autor, vom Redakteur, vom Ressortleiter oder vom großen Spiegel-Gesamtgeist zugemessen wird. Der Spiegel will eher nicht darstellen, sondern immer einordnen, er will selten anbieten, aber meistens anpreisen, manchmal aufdrängen. Wer nicht belehrt werden mag, sollte den Spiegel nicht kaufen, und wem das Belehren fremd ist, der sollte nicht Spiegel-Redakteur werden, es sei denn, er mag gern unglücklich sein. Viele Spiegel-Redakteure können auf das Fröhlichste unglücklich sein. Der Spiegel ist manchmal brillant, hin und wieder ärgerlich, selten dumm und immer wieder voller wunderbarer Vorurteile. Er hat Profil und er ist, Stern hin oder Focus her, einzigartig geblieben. Dürfte man nur einmal in der Woche eine Zeitung oder Zeitschrift lesen, es müsste – trotz Doppelspitze, Broder, Befindlichkeitsschreibern, AugsteinKilzAust weg – der Spiegel sein. Und bleiben.

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Die Spiegel-Redaktion ist eine gut bezahlte Versammlung hochempfindlicher Frauen und Männer. Der durchschnittliche Spiegel-Redakteur kann sich über nichts auf der Welt sosehr erregen wie über die eigenen Kollegen oder Chefs, und wenn er (oder sie) selbst Chef ist, dann redet er über die Untergebenen ähnlich garstig wie die über ihn. Man kann nirgendwo so viel Negatives über Spiegel-Journalisten hören wie im Spiegel selbst. Die meisten dort sind stolz darauf, dass der Spiegel als Haifischbecken gilt. Wenn man allerdings ganz genau hinsieht, stellt man fest, dass viele der erschreckenden Fische in diesem Becken erstens wegen der Lichtbrechung um zwei Drittel größer erscheinen, als sie es sind. Zweitens handelt es sich bei den meisten gar nicht um Haie, sondern um Welse, Waller, Zitteraale und sogar einige mit einer dreieckigen Rückenflosse camouflierte Fischstäbchen. Aber wehe, die Chefredaktion wirft einen Karpfen aus Berlin, Frankfurt oder München ins Wasser.

Kurt Kister, 51, ist stellvertretender Chefredakteur der »Süddeutschen Zeitung«.

Illustration: Christoph Niemann