Sie nennen ihn Brother Sharp

Wie ein Obdachloser in China ohne sein Wissen zu einer Stilikone wurde - eine Geschichte über das Web, über Zynismus und unsere Sehnsucht nach Geheimnissen.

(Montage aus Screenshots: Katharina Bitzl)

Seit einigen Wochen kursieren im Internet Fotos von einem jungen Obdachlosen. Ein Fotograf hat sie gemacht. Er wollte nur mal seine Kamera testen, machte dazu unter anderen ein paar Bilder von einem Obdachlosen und stellte das Ergebnis online. Die Fotos brachten es erst in China und nun auf der ganzen Welt zur Bekanntheit. Sie zeigen einen Mann, der in zerwetztem Lagenlook, abgetragenen Frauenkleidern und stets rauchend durch die Straßen der chinesischen Stadt Ningbo läuft - und dabei ziemlich gut aussieht.

Zahlreiche asiatische Modeblogger tauften ihn „Beggar Prince“, „Handsome Vagabond“ und wegen seines „scharfen und eindringlichen“ Blickes auch „Brother Sharp“. Sie feierten seine Ähnlichkeit zu attraktiven asiatischen Jungschauspielern und seinen gekonnt lässig wirkenden „Homeless-Chic“-Stil so ausschweifend, dass es nach kurzer Zeit im Netz hieß, Brother Sharp sei der „coolste Mann Chinas“. User montierten sein Foto unter anderem neben das eines Catwalk-Models des Modelabels Dolce&Gabbana. Die Montage soll vielleicht ein Beweis sein. Sie soll deutlich machen, dass der Mann eigentlich einer anderen Welt zuzurechnen ist. Dass er vielleicht in einem falschen Leben gefangen ist. „Schau nur, wie er seine Stirn runzelt, dazu braucht man nichts mehr sagen... sexy...“, schreibt eine Kommentatorin in einer chinesischen Online-Community. Ein anderer schreibt: „Er sieht gar nicht aus wie ein Bettler, vielmehr wie ein Vagabund. Die Qualität seiner Klamotten scheint außerdem gar nicht so übel zu sein, sogar eine Lederjacke trägt er drunter. Sie sind zwar etwas dreckig, aber allesamt in guter Verfassung. Er sieht aus wie ein Schauspieler aus Hong Kong“.

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Nun heißt es in einigen asiatischen Modeblogs, Brother Sharp sei „der neue Bryan Boy“. Bryan Boy ist ein philippinischer Modeblogger, der seine Berühmtheit innerhalb der Modeszene ebenfalls dem Internet zu verdanken hat. Der Unterschied zwischen Bryan Boy und Brother Sharp ist aber, dass Bryan Boy ein Selbstdarsteller ist. Er hat es darauf angelegt, bekannt zu werden. Bei Brother Sharp ist das, nach allem, was man weiß, anders.

Angeblich heißt der Mann in Wahrheit Cheng Guorong und ist 34 Jahre alt. Vor gut zehn Jahren zieht er, heißt es, von zu Hause aus und kommt nach Ningbo. Dann reißt der Kontakt zu seiner Familie ab. Die Zeitung China Daily schreibt, dass vor einigen Jahren Cheng Guorongs Vater und seine Frau ums Leben gekommen sind. Diese Tatsache und andere Faktoren seien für die psychische Labilität des Mannes verantwortlich. Manche sagen, er sei schlicht krank und brauche Hilfe. So ist es kein Wunder, dass "Brother Sharp" der seltsame Hype um seine eigene Person fremd vorkommt. Nachdem die ersten Bilder im Internet aufgetaucht waren, bildete sich schnell eine Art Anhängerschaft. Viele suchten mit Fotoapparaten nach ihm, sie wollten neue Bilder machen. Cheng Guorong reagierte verstört, wie ein kürzlich auf Youtube erschienenes Video zeigt. Der Film zeigt, wie eine Journalistin ihn auf der Straße interviewen will. Er beantwortet ihre Fragen gar nicht oder bloß unverständlich. Während des Gesprächs ist er von städtischen Sozialbeauftragten umringt und beginnt schließlich vor Verwirrung zu weinen. Dann dreht er sich um und geht davon. Die Kameras verfolgen ihn noch einige Straßenecken lang und in der Schlussszene sieht man ihn sitzend eine Rolltreppe hinunterfahren. Die Szene ist von trauriger Musik begleitet. Dann ist das Video aus. Und man selbst ist ratlos.

Die Sache mit den Internetberühmtheiten ist ja bekannt: Menschen, die sich durch keine besonders hervorstechende Begabung auszeichnen, schaffen es durch kluge Selbstdarstellung oder durch pures Netzwerken in die Berühmtheit. Bei Brother Sharp sind die Dinge anders, weil da ein Mensch zum Star wird, der allem Anschein nach nicht einmal etwas davon weiß. Diese Variation des Phänomens ist so zynisch, dass sie beinahe wie eine ausgedachte Parodie auf vorherige ,It‘-Geschöpfe des Internets wirkt. Der Blogger Daniel Saynt kommt auf FashionIndependent aus der Verwunderung nicht mehr heraus. „Brother Sharp ist ein psychisch labiler, obdachloser Kerl, der sich anzieht wie ein psychisch labiler, obdachloser Kerl und aufgrund dessen nun zu einer Fashionikone geworden. (...) Leute, kann Brother Sharp es schaffen, mehr Freunde auf Facebook zu bekommen als sie?“ Es folgt ein Link zu Brother Sharps Facebookprofil, das mittlerweile mehr als 2000 Fans zählt. Natürlich hat Brother Sharp es nicht selbst aufgesetzt, sondern einer seiner zahlreichen Anhänger. In der Bildergalerie finden sich Fotomontagen: Brother Sharp in einer Parfumwerbung, Brother Sharp vor brennendem Filmszenenhintergrund und schließlich wieder Brother Sharp vs. das Laufstegbild eines D&G Models. Der Hype setzt sich fort. Im Onlineshop Cafepress gibt es Shirts und Tassen mit Brother Sharps Motiv zu kaufen.

Wahrscheinlich funktioniert dieser Personenkult auch nach dem Motto „Das ist so schlecht, dass es schon wieder cool ist“. Menschen überbieten sich vor allem im Web darin, absurde Vorkommnisse oder Sachverhalte mit Geltung zu beladen. Die gute Geschichte zählt. Da ist es zum Schluss dann auch völlig egal, ob sie wahr ist. Was, wenn in einigen Tagen herauskommt, dass das Ganze bloß die virale Werbeaktion eines Modehauses war? Oder der zurechtgelegte PR-Plan eines ehrgeizigen Jungschauspielers? Das Interessante an der Geschichte ist nicht, welche Wahrheit ihr zugrunde liegt. Interessant ist, dass sie funktioniert. Vielleicht treibt die Menschen, die nun Brother Sharp nachhängen die Sehnsucht nach dem Geheimnis. Das Web wirkt da wie die Rumpelkammer der eigenen Großmutter, in der man immer neue, spannende Entdeckungen machen kann. Vielleicht mögen wir die Vorstellung, nach der es irgendwo auf der Welt dann doch das nie Gesehene, das absolut Neue gibt. Womöglich funktioniert bei Brother Sharp aber auch eine andere Erklärung für die Berühmtheit: Der Mann könnte der Beweis dafür sein, dass Modegeschmack in welcher Form auch immer angeboren ist; dass Stilempfinden aber auch wirklich gar nichts mit dem Geldbeutel sondern nur mit der Persönlichkeit eines Menschen zu tun hat.

Was das alles jetzt aber für die Zukunft des jungen Chinesen bedeutet - so fern seine wahre Identität tatsächlich der im Netz bisher publizierten entspricht - weiß man nicht. Glaubt man den Medienberichten, gibt es vor allem einen guten Effekt: der Hype ist auch zu Cheng Guorongs Familie durchgedrungen. Mutter und Bruder hatten den Kontakt verloren und nahmen ihn nun wieder zu Hause in Empfang. Ob er dort nun Frieden findet, ist nicht sicher. Verschiedene Regisseure haben bereits verlauten lassen, einen Film über ihn drehen zu wollen. So sagt beispielsweise der chinesische Regisseur Johnni To: „Sein Image und sein Verhalten sind gute Ansätze um eine Geschichte daraus zu machen. Sie wird das Publikum interessieren. Der Widerspruch seiner Obdachlosigkeit auf der einen, und sein avantgardistisches Styling auf der anderen Seite machen eine gute Story.“ Und Regisseur Jeffrey Lau vermutet, dass Brother Sharp sicher schon einen Manager habe. „Warum sonst sollten sich zufällig Bilder von ihm im Internet finden“, fragt er. „Sogar echte Stars laufen dieser Tage nicht viel anders gekleidet herum. Falls dem aber nicht so ist, muss er tatsächlich eine schlimme Vergangenheit haben. Es würde sicherlich eine gute Comedy abgeben, eine Geschichte über so einen öffentlichkeitsscheuen, aber legendären Könner zu machen.“ Mehr Texte von jetzt.de finden Sie hier.

Mitarbeit: Peter Wagner