Die Frau meines Lebens - Tilda Swinton

Warum für Annika Reich die Schauspielerin Tilda Swinton für immer mit den Marmorkuchen ihrer Großmutter verbunden sein wird, lesen Sie hier.

Schauspielerin Tilda Swinton, 49, im Februar 2010. Im Jahre 2008 gewann sie den Oscar als beste Nebendarstellerin in dem Film Michael Clayton

Meine Großmutter war eine kleine Frau mit einer schmalen Nase und schwarzen Locken, die erst spät grau wurden und dann so weiß, dass die Menschen sich auf der Straße nach ihr umdrehten. Sie war Bäckerin. Ihr Laden lief nicht besonders gut, weil sie sich neben der Backstube ein kleines Zimmer eingerichtet hatte, in dem sie las und Geschichten schrieb, und so waren die strohgeflochtenen Körbe morgens manchmal leer. Das habe ich aber erst sehr viel später erfahren, erst als sie gestorben war, und meine Mutter den Laden entrümpelte. Meine Mutter hatte all die Zettel, die meine Großmutter mit ihrer sorgfältigen Handschrift vollgeschrieben hatte, in eine Umzugskiste verpackt und sie mit fünf Lagen rotem Klebeband zugeklebt – als ob daraus etwas entweichen könnte, etwas Unaufhaltsames.

Ich habe immer noch nicht gewagt, alle Zettel zu lesen; ich bin noch zu jung, um schon alle Geschichten meiner Großmutter gelesen zu haben. Auf dem ersten Zettel, den ich mit zittrigen Händen aus der Kiste herausfischte, stand: »Ich schreibe Dir entgegen.«

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Ein anderer Mann?

Erst später begriff ich, um wen es ging. Kein anderer Mann. Mein Großvater war mein Großvater – auch wenn er auf keinem der Zettel vorkam oder vielleicht gerade deswegen.

Die Kiste ist nun mein Nachttisch, an einer Seite sinkt sie in sich zusammen. Ich habe das Klebeband restlos entfernt, aber es hat Spuren hinterlassen; den Pappgeruch, den sie verströmt, kann man nicht entlüften – aber mich stört das nicht. So viele Dinge, die mich früher immer wunderten, verstehe ich jetzt.
Die Namen ihrer Kuchen zum Beispiel.

Meine Großmutter verehrte Virginia Woolf. Wie eine Bäckerin aus einem bayerischen Dorf Virginia Woolf verehren konnte, bleibt mir ein Rätsel, aber die seltsamen Namen ergeben nun endlich einen Sinn: Der Marmorkuchen hieß Nacht und Tag, die Biskuitrolle Die Welle und die Erdbeersahneschnitte Leuchtturm. Sie hatte sie nach Romanen benannt.

»Kennst du eigentlich Virginia Woolf?«, hatte meine Großmutter mich gefragt, als ich auf dem Gymnasium war. Ich schüttelte den Kopf. »Was bringt man euch denn bei auf der höheren Schule?«, hatte sie gefragt und mir die Butter daumendick auf eine dampfende Brezel geschmiert. Orlando war ihr Lieblingsbuch, dafür war kein Kuchen gut genug.

An dem Tag, an dem meine Großmutter starb und meine Mutter mir die Nachricht reglos verkündet hatte, traf ich Tilda Swinton das erste Mal. Ich war 19 und stand mitten auf einer Kreuzung in Madrid. Ohne meine Großmutter war ich allein in meiner Familie; die anderen waren anders, ganz anders. Ich stand da und weinte. Eine rothaarige Frau in einem gelben Mantel radelte an mir vorbei und angelte meinen Blick. Es traf mich wie ein Schlag. Sie bremste.

Ich formte mit den Lippen die Worte: »Sie ist tot.« Die Frau hielt meinen Blick, so wie meine Großmutter immer meinen Blick gehalten hatte. Sie war unglaublich schön. Wie konnte man nur gleichzeitig so eine Eleganz und so eine Widerspenstigkeit ausstrahlen? Zwei, drei, vier Minuten blieb sie stehen, bis ich mich umdrehen und weitergehen konnte – in ein Leben, in dem es meine Großmutter nicht mehr geben würde.

Ein paar Wochen später ging ich ins Kino. Es lief Derek Jarmans Film Edward II. Die Hauptrolle spielte die rothaarige Frau auf dem Fahrrad. Es erstaunte mich nicht, ich war nur einfach unendlich froh, sie wiedergefunden zu haben. Dem Spanier mit den grauen Augen, der neben mir saß und mir die Hand unter die Bluse schob, erzählte ich es nicht.

Tilda Swinton hatte den Platz meiner Großmutter eingenommen. Sie hatte sich verwandelt, so wie Virginia Woolfs Orlando sich verwandelt hatte. Bis dahin war mir nicht klar gewesen, wie widerspenstig meine Großmutter gewesen war, wie schön. Ihre Nasen sind identisch.

Seitdem schaue ich jeden ihrer Filme, und mit jedem Film wird die Ähnlichkeit der beiden frappierender: die Art, wie sie ihre Lippen aufeinanderlegen, bevor sie etwas ganz und gar Unerwartetes sagen, das Mus-ter ihrer Falten auf der Stirn, ihr Mut, ihr Schillern, ihr Witz. Und jedes Mal, wenn Tilda direkt in die Kamera schaut, zwinkere ich meiner Großmutter zu. In Madrid begann ich zu schreiben. Und immer wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann denke ich: dir entgegen.

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Annika Reich empfiehlt Omas Marmorkuchen Tag und Nacht: 250 g
Butter, 250 g Zucker,
2 Päckchen Vanillezucker und
4 große Eier schaumig rühren.
Dann 500 g Mehl, 1 Päckchen Back-pulver und 3/8 l Milch dazugeben.
Zuletzt färben Sie die Hälfte des Teigs mit 2 EL Kakao, geben den hellen und dunklen Teig in die Backform und ziehen mit einer Gabel Spiralen. Bei 180 Grad
eine Stunde goldbraun backen.

Foto: dpa; Christian Schneider