Wer hat den Größten?

Jahrelang haben die USA die stärksten Computer der Welt gebaut - jetzt hat China beschlossen: Das können wir besser. Es wird spannend


Für Amerikaner ist das Lawrence Livermore National Laboratory mehr als ein Labor: Es ist eine Art Sinnbild für die Erfolge ihres Landes. Über sechs Jahrzehnte wurden hier, in den Hügeln östlich von San Francisco, bahnbrechende Entdeckungen gemacht: Ein halbes Dutzend Elemente des Periodensystems haben Wissenschaftler hier identifiziert und eine Schlüsselkomponente von dunkler Materie, einem hochkomplexen Problem der Physik, das der Wissenschaft immer noch Rätsel aufgibt.

Berühmt wurde das Livermore-Labor aber für seine Hochleistungscomputer, die in geheimen, schwer bewachten Räumen vor sich hin brummen. Geheim deshalb, weil ihr ursprünglicher Zweck alles andere als friedlich war: Ziel war, mit ihnen Atomsprengköpfe zu konstruieren. Wissenschaftler haben dafür in den Fünfzigerjahren mächtige Rechner gebaut, sogenannte Supercomputer, die jeden noch so komplizierten Rechenvorgang lösen sollten. Bald wurde klar: Solche Computer können auch für Baupläne, medizinische Experimente und andere aufwendige Aufgaben nützlich sein. Lange waren die USA Vorreiter in dieser Branche. Was die Nachricht, die Bruce Goodwin, Chef der Rüstungsentwicklung im Labor, im November 2010 erreichte, gleich um einiges brisanter machte: China hatte den mächtigsten Supercomputer der Welt vorgestellt. Der Rechner mit dem Namen Tianhe-1A übertraf die Leistung von Livermores größtem Computer um das Fünffache.

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Die meisten unter uns juckt das in etwa so sehr, wie wenn Apple ein schnelleres Smartphone als Microsoft auf den Markt bringt. Doch die Wissenschaftler, die Wirtschaftsbosse und führenden Politiker aus aller Welt, denen die fragile Position Amerikas als globaler Supermacht bewusst ist, hatten ein Aha-Erlebnis wie damals, als die UdSSR den Satelliten Sputnik in die Erdumlaufbahn schoss. Diesmal hatten nicht die Russen die USA beim Wettlauf ins All bloßgestellt, diesmal preschten die Chinesen auf einem der bedeutendsten Gebiete nationaler Sicherheit voran. Die Parallelschaltung Tausender Prozessoren zu Supercomputern ermöglicht nicht nur die Entwicklung von Waffensystemen, man kann mit ihnen auch Modelle für den Klimawandel entwerfen, Codes knacken und neue lebensrettende Medikamente auf den Markt bringen. Bei 500 Billionen Rechenvorgängen in der Sekunde entwickelt ein Supercomputer eine derartige Hitze, dass das Gerät in wenigen Minuten schmelzen würde, sollte die Klimaanlage ausfallen.

Weltweit lassen sich mit Hochleistungsrechnern jährlich 25 Milliarden Euro verdienen, und der Branchenführer darf sich enorme wirtschaftliche und militärische Vorteile versprechen. Anders ausgedrückt: Sollten die USA bei den Supercomputern ins Hintertreffen geraten, könnten sie ihren Wettbewerbsvorteil in der Öl- und Gasförderung, in der Pharmaforschung und in Militärfragen verlieren.

Mit der Aktivierung des Tianhe-1A stellte China vor anderthalb Jahren eindrucksvoll unter Beweis, dass es sich gelohnt hat, viel Geld in die Ausbildung von Ingenieuren zu stecken. Und obwohl ein Team aus Japan sechs Monate später einen noch größeren Supercomputer vorstellte, der den Tianhe-1A auf den zweiten Rang verwies, war die Richtung klar. Die Chinesen hatten einen Trumpf ausgespielt und der Welt eine unangenehme Wahrheit vor Augen geführt: China hat bei der Entwicklung der neuesten, größten und schnellsten Rechner - also in einem Feld, das der Westen jahrzehntelang dominiert hatte - zu seinem größten Rivalen aufgeschlossen. Experten erwarten, dass die Chinesen schon bald wieder an Japan vorbeiziehen werden. Sie haben bereits 74 der 500 größten Supercomputer der Welt, vor einem Jahrzehnt hatten sie noch gar keinen. Nur die USA mit ihren 263 Supercomputern haben noch mehr. Doch während man dort verzweifelt neue Gelder aufzutreiben versucht, scheinen in China Mittel für die ehrgeizigen Pläne im Überfluss vorhanden zu sein: »Wir haben Angst«, sagt Dona Crawford, die Leiterin des Rechenzentrums in Livermore, Kalifornien. »Diese Technologie ist eine der Grundlagen unserer Wettbewerbsfähigkeit. Wollen wir uns das wirklich aus den Händen nehmen lassen? Ja, wir haben richtig Angst.«

Noch geben sie nicht klein bei. Das Team in Livermore arbeitet an der Entwicklung eines neuen, riesigen Supercomputers, der mehr als eine Million Mikroprozessoren verbindet und das Achtfache der Rechnerkapazität des Tianhe-1A erbringt. IBM wird ihn unter dem Codenamen Sequoia bauen und bis Ende diesen Jahres fertigstellen. Der offizielle Preis dieses Projekts wird nicht genannt, aber mehrere Hundert Millionen Dollar sind es mindestens. Livermore steuert 200 Millionen Dollar bei, IBM etliche Millionen mehr. Ein riskanter Zug, besonders angesichts der schwierigen Wirtschaftslage.

Chinas neue Rolle als Supermacht auf dem Gebiet der Supercomputer sollte eigentlich niemanden überraschen. Seit zwanzig Jahren reden die Chinesen schon davon. »Es hat ihnen nur niemand geglaubt«, erklärt Wu Feng, ein Professor für Computerwissenschaft von der Virginia-Tech-Universität in den USA. »Jetzt rauscht die Sache mit der Wucht eines Güterzugs heran. Das macht vielen Leuten Sorgen.«

Supercomputer braucht man überall

Dagegen sieht Amerika ziemlich klein aus: Chinas Supercomputer macht dem Westen Angst - er könnte die Wirtschaftsmacht der USA gefährden. Experten sprechen von einem Technik-Schaulaufen, wie man es seit der Mondlandung nicht mehr erlebt hat.

Der lange Weg zum Tianhe-1A begann im März 1986, als China das sogenannte 863-Projekt (86/3 ist die chinesische Datumsform für den März 1986) zur Entwicklung fortschrittlicher Technologien vorstellte. Anfang der Neunzigerjahre produzierte schließlich die staatlich geförderte Firma Dawning Information Industry Ltd. eine Art rudimentären Supercomputer, der von kaum jemandem wahrgenommen wurde. Doch mit dem neuen Jahrhundert kam China richtig in Fahrt. Im Jahr 2000 hob man ein riesiges Supercomputer-Zentrum in Shanghai aus der Taufe. Bald folgten weitere in Peking, Shenzhen und Tianjin. Ein neues Zentrum in Changsha - ein rundes, glänzendes Bauwerk, das an ein Raumschiff erinnert - ging erst vor wenigen Monaten ans Netz.

»Supercomputer braucht man überall«, sagt Sha Chaoqun, der Produktionsleiter bei Dawning. Dieses Jahr liefert das Unternehmen etwa 1000 Hochleistungsrechner an Kunden aus der Regierung und der chinesischen Wirtschaft. Die meisten der Rechner sind keine Supercomputer im eigentlichen Sinne, haben aber trotzdem ordentlich was unter der Haube. »Chinas Supercomputerzentren zählen inzwischen zu unseren besten Kunden«, meint Jim Cashman, Geschäftsführer der amerikanischen Firma ANSYS. Cashman stellt Simulationssoftware her, die auf Supercomputertechnik basiert und mit der sich im Grunde jede Art von Produkt entwerfen lässt - von mächtigen Düsentriebwerken bis hin zu knappen Badeanzügen. »Vor nicht allzu langer Zeit hätte man China und Supercomputer nicht im gleichen Atemzug genannt. Sie haben dort inzwischen sensationelle Fortschritte gemacht.«

Wo Dawning komplette Systeme baut, entwickeln andere Organisationen einzelne Bauteile für Supercomputer, damit China in Zukunft nicht mehr von amerikanischen Zulieferfirmen abhängig ist. Der nächste Schritt wird dann sein, alle Computerzentren zu einem einzigen, riesigen Computerhirn zu verbinden. »Ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass in fünf Jahren ihre Cyber-Infrastruktur steht. Sie können dann einen dezentralen Supercomputer bauen, der 100 Mal schneller ist als alles, was wir in den USA haben«, behauptet Wu Feng, der Professor aus Virginia.

In Livermore treffen nun die ersten Bauteile von Sequoia ein. In einem riesigen Stockwerk stehen zehn Supercomputer, darunter ein IBM-Rechner mit Namen Blue Gene/L, der zwischen 2005 und 2008 der leistungsfähigste Rechner der Welt war. Sequoia wird das 40-Fache an Leistung produzieren und dabei durch zwanzig Billiarden Operationen pro Sekunde rasseln (Nerds reden hier von 20 Peta-FLOPS).

Der Supercomputer ist kein monumentales Ungetüm, sondern vielmehr eine Aneinanderreihung von 96 Einschüben, auf denen sich jeweils 32 schlanke kleine Computer wie Pizzaschachteln stapeln. Sie alle miteinander zu vernetzen ist leicht. Die Schwierigkeit besteht darin, Software zu entwickeln, die auf all diesen Chips laufen kann. Sequoia wird aus 1,6 Millionen Prozessoren bestehen. Für so eine Plattform hat noch nie jemand Software geschrieben.

Außerdem bereiten sich die Forscher in Livermore, noch bevor Sequoia überhaupt zusammengebaut wird, schon längst auf die nächste große Entwicklungsstufe bei Supercomputern vor, die im nächsten Jahrzehnt kommen wird: sogenannte Exascale-Computer, die durch Bündelung von einer Milliarde Mikroprozessoren das 500-Fache von Sequoias Rechenleistung bringen. So ein Computer braucht eine völlig neue Art von Prozessor, der viel sparsamer mit Energie umgeht als die heutigen Chips, weil er sonst mehr Strom verschlingen würde als eine gesamte Stadt. Die Chinesen sind fest entschlossen, den ersten Exascale-Computer zu bauen, und haben bereits einen detaillierten Fahrplan ausgearbeitet, um dieses Ziel bis 2020 auch zu erreichen.

Alles in allem mag die Entwicklung solcher Megarechner in der Computerforschung das kniffligste Problem aller Zeiten sein, »mit einem viel größeren Bedarf an Innovation, als wir ihn je zuvor erlebt haben«, sagt Dave Turek, stellvertretender Direktor für Hochleistungs- und Exascale-Rechner bei IBM. Und genau daran mangele es der chinesischen Konkurrenz: »Wenn Sie etwas über Chinas Pläne wissen wollen, dann besuchen Sie einen meiner öffentlichen Vorträge. Eine Woche später sind dessen Inhalte dann Chinas offizieller Fahrplan.«


In einem Punkt sind die USA jedoch im Nachteil: Livermores Computerbudget ist im letzten Jahrzehnt geschrumpft, hat sich aber inzwischen mit knapp über 200 Millionen Dollar pro Jahr wieder ungefähr auf dem Niveau von vor zehn Jahren eingependelt. Rechnet man die Inflation mit ein, leisten die Wissenschaftler in Livermore inzwischen also viel mehr mit viel weniger Geld. Ganz anders die Chinesen: Da sind die Taschen voll. Auf einer Reise durch chinesische Supercomputerzentren musste Dona Crawford mit Bestürzung feststellen, dass eines dieser Zentren im letzten Jahr vierzig neue Mitarbeiter einstellen konnte; das Personal in Livermore dagegen wird nicht aufgestockt. Aber Crawford gibt sich kämpferisch: Ihrer Meinung nach konnten Livermore und IBM nur dank der einzigartigen Risikobereitschaft in den USA einen Supercomputer wie Blue Gene/L erfinden: »Das kriegen wir hoffentlich auch ein zweites Mal hin.« Bruce Goodwin, der Chef der Rüstungsabteilung bei Livermore, sagt es unverblümter: »Wenn Amerika diesen Wettlauf nicht gewinnt, sind wir erledigt. So einfach ist das.«

Illustrationen: Kleon Medugorac