Sparen oder helfen

Weil Geld fehlt, sind die Notaufnahmen griechischer Krankenhäuser nur noch alle vier Tage geöffnet. Wer einen Arzt braucht, kann da nur hoffen. Und warten.


Wartesaal, Notaufnahme. Viele, die einen der rund 50 Sitzplätze ergattert haben, sind eingenickt, sie warten schon seit Stunden. Die meisten stehen eng gedrängt vor dem Eingang und hoffen darauf, dass bald ihr Name aufgerufen wird. Jeder Patient hat zuvor von einer Krankenschwester eine Dringlichkeitsnote zugeordnet bekommen, von vier bis zwei. Vier bedeutet, dass es sich auf den ersten Blick um eine Lappalie handelt, Magen- oder Ohrenschmerzen. Durchschnittliche Wartedauer: etwa fünf Stunden. Drei bedeutet, dass der Fall zwar bald behandelt werden muss, aber nicht akut ist, Kreislaufbeschwerden zum Beispiel. Wartezeit: drei Stunden. Wer eine Zwei zugewiesen bekommen hat, braucht dringend Hilfe. Zweier haben zum Beispiel tiefe Schnittwunden oder leichte Frakturen und deshalb Vorrang. Nur Patienten mit der Note eins kommen ohne Anmeldung sofort in den sogenannten »Shock Room«. Bei ihnen besteht Lebensgefahr.

Manche der Wartenden haben Tränen in den Augen. Einige pressen sich Wattebällchen auf frische Einstiche, sie warten auf die Ergebnisse ihrer Bluttests. Ein Krankenhauspfleger, der sich durch den Saal schlängelt, rät den Menschen im Vorbeigehen: »Wenn Sie den ganzen Tag hier zubringen müssen, waschen Sie sich bitte alle zwei Stunden die Hände oder führen Sie zumindest Ihre Hände nicht an Mund oder Nase.« Die Notaufnahme ist ein Viren- und Bakterienherd. Eine alte Frau sitzt in einem Rollstuhl, der Schlauch aus ihrer Vene führt hoch zu einem Infusionsbeutel. Sie bittet einen der zwei Security-Männer, die den Eingang zu den Behandlungsräumen bewachen, um ein Glas Wasser.

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Security-Firmen sichern mittlerweile in vielen griechischen Krankenhäusern den Eingang zur Notaufnahme. Es kommt immer wieder zu Wutausbrüchen, Streit und auch Schlägereien. »Die Menschen haben ihre Geduld verloren«, sagt der Sicherheitschef Konstantinos. »Sie werden schnell wütend oder randalieren, um Frust abzubauen. Wir haben auch mehr Alkoholfälle als früher.« Er deutet zu einem dürren alten Mann hinüber, der in einer Ecke seinen Rausch ausschläft. Nähert man sich ihm, wird der Uringeruch stechender. Manche der Wartenden verlangen lautstark, dass ihn jemand auszieht und wäscht. Einer ruft, man sollte ihn samt Liege nach draußen in die Kälte schieben. Betretenes Schweigen. Der alte Mann bekommt davon nichts mit. Konstantinos betrachtet ihn mitleidig. »Als er vorhin eingeliefert wurde, weinte er, weil er sich schämte, dass seine Hose uringetränkt ist. Er griff meinen Arm und sagte: ›43 Jahre habe ich auf Baustellen in ganz Griechenland gearbeitet: harte, ernste, gute Arbeit. Jetzt haben sie meine Rente noch einmal gekürzt, auf 527 Euro. Kannst du mir sagen, wie ich davon leben soll?‹ Ich habe nur den Kopf geschüttelt. Was sollte ich ihm auch sagen?«

Die Notaufnahme des Papageorgiou-Krankenhauses in Thessaloniki, dem Ruf nach eines der besten Krankenhäuser des Landes, behandelt am Tag etwa 1500 Menschen. Zum Vergleich: In der Notaufnahme des Münchner Klinikums rechts der Isar werden täglich 71 Menschen verarztet, in den verschiedenen Notaufnahmen der Berliner Charité, der größten Universitätsklinik Europas, sind es 580. Der Grund für den enormen Andrang: Die Notaufnahmen griechischer Krankenhäuser haben – um Ausgaben zu sparen – nicht täglich geöffnet, sondern nur alle vier Tage. Die Kliniken wechseln sich ab. Für den Großraum Thessaloniki, dessen Einwohnerzahl in etwa vergleichbar ist mit München, bedeutet das: An einem Tag haben nur zwei Notfall-ambulanzen im gesamten Stadtgebiet Dienst. Man muss sich immer erst telefonisch erkundigen, welche gerade geöffnet ist.

»Das, was Sie hier sehen«, sagt Jobst Rudolf, der deutsche Chefneurologe des Papageorgiou-Krankenhauses in Thessaloniki, »ist ein Auszug aus dem täglichen Überlebenskampf des griechischen Gesundheitssystems. An manchen Tagen herrscht in unserer Notaufnahme das blanke Elend. Wie im Krieg.«

Das griechische Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps

Das griechische Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Und die Schuldenkrise beschleunigt den Zusammenbruch. Fast jedes Sparpaket, das in den vergangenen Jahren im griechischen Parlament beschlossen wurde, beschnitt die Ausgaben im Gesundheitsressort. Während die Gesundheitsausgaben im Jahr 2009 noch 14 Milliarden Euro betrugen, lagen sie im Jahr 2012 nur noch bei etwa 9,5 Milliarden. In diesem Jahr sollen sie auf Druck der Troika – bestehend aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds – noch mal gesenkt werden. In Brüssel, Frankfurt und Washington wird das als Erfolg der Sparbemühungen gefeiert. In Griechenland stürzt es die Bevölkerung in tiefe Not.

Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung wurden in den letzten Jahren Stück für Stück zurückgeschraubt. Eine der Folgen: Selbst krebskranke Menschen, die auf teure Medikamente angewiesen sind, müssen diese in der Apotheke erst einmal selbst bezahlen. Der Staat verspricht zwar, bis zu 70 Prozent des Preises innerhalb von drei Monaten zu erstatten. Aber in der Realität warten die von ihrer Krankheit bereits Gezeichneten oft vergeblich auf die Einlösung dieses Versprechens. Meist handelt es sich um Rentner, deren Pension schon mehrmals gekürzt worden ist und die sich ihre Medi-kamente jetzt nicht mehr leisten können. Bilder bettelnder und flehender alter Menschen vor Apotheken in Athen, Thessaloniki oder Patras zeigt das griechische Fernsehen regelmäßig. Sie dienen als Warnbilder. Die Botschaft: Wenn du in diesem Land krank wirst, kannst du nur noch auf den lieben Gott hoffen.

Kiparisia Karatzidou, Oberärztin im Papageorgiou, resolut und erfahren im Umgang mit ihren Patienten, antwortet auf die Frage, ob irgendetwas gut läuft im griechischen Gesundheitssystem, zunächst mit zusammengekniffenen Augenbrauen. In etwa so, als hätte man ihr gerade einen schlechten Witz erzählt. »Nein, nichts«, sagt sie. »Ich erlebe immer mehr Patienten, die erst zu uns kommen, wenn sie keinen anderen Ausweg mehr sehen oder ihre Krankheit schon zu weit fortgeschritten ist. Etwa Asthma-, Zucker- oder Krebskranke. Ich erlebe immer mehr Patienten, vor allem Mütter mit ihren Kindern, die keine Krankenversicherung mehr haben und deshalb nur noch zu uns kommen können, weil wir in der Notaufnahme die Einzigen sind, die sie gratis behandeln. Wäre dieser Job nicht zu meiner täglichen Routine geworden, würde ich jetzt losheulen. Aber ich erspare Ihnen das.«

Von Alexandroupoli hoch im Norden Griechenlands bis hinunter zur Südspitze der Peloponnes – in den meisten griechischen Krankenhäusern geht ohne die Hilfe von außen nichts. Ärzte und Krankenschwestern bitten schon lange Verwandte und Freunde von Patienten, Verbandszeug, Tupfer oder gar Antibiotika in der Apotheke zu kaufen und dann ins Krankenhaus zu bringen, weil die Hospitäler selbst nichts mehr vorrätig haben. Ein Freund von mir, Dimitris Tsatsaris, hat sich in seinem Aluminium-Geschäft im November den Unterarm aufgerissen, die Wunde klaffte tief. Er wurde von einem Arbeitskollegen aus seinem Dorf Zacharo nach Pirgos ins mehr als 30 Kilometer entfernte Kreiskrankenhaus gefahren. Dort bat der Arzt den Kollegen, erst mal in die Apotheke zu gehen, um die Fäden zu kaufen, mit denen dann die Wunde genäht wurde.

Vasilis Pappas, der Vorstandsvorsitzende des halb staatlichen, halb privaten Papageorgiou-Krankenhauses, erklärt die Misere an einem anderen Beispiel: »Wir zahlen bis zu 40 Euro für einen Dialysefilter der deutschen Firma Fresenius, der die Kliniken in anderen europäischen Staaten, etwa in Deutschland, Frankreich oder Zypern, nur die Hälfte kostet. Warum? Weil die zuständigen griechischen Behörden die Preisvorgaben machen. Wir brauchen aber jeden Tag mindestens 90 bis 170 dieser Filter für unsere Dialysepatienten. Der höhere Preis verursacht im Jahr mehr als 700 000 Euro Mehrkosten. Ich habe mehrmals mit dem griechischen Gesundheitsministerium telefoniert, E-Mails und Briefe geschrieben. Auch an Fresenius mit dem Vorschlag, ihnen die Filter direkt abzukaufen, von mir aus auch für 20 Euro. Aber es hieß auf beiden Seiten nur, die Preise seien in Ordnung. Absurd, nicht wahr?« Pappas zieht die Schultern bis an die Ohren und breitet die Arme aus.

Die Aussichten auf einen neuen Job könnten kaum schlechter sein

In einer schriftlichen Stellungnahme bestätigt Fresenius Medical Care, dass die Preisvorgaben zwar von den griechischen Behörden festgesetzt werden, aber: »Die Verkaufspreise für Dialysefilter in Griechenland liegen je nach Ausführung derzeit eher im europäischen Mittelfeld.« 40 Euro zahle in Griechenland kein Krankenhaus dafür. Aus dem griechischen Gesundheitsministerium heißt es pauschal, man arbeite gerade daran, die Preise für Medikamente und andere Gesundheitsprodukte herabzusetzen.
Vielleicht ist es also falsch, von einem »System« im griechischen Gesundheitswesen zu sprechen. Denn hier greift kein Rädchen mehr ins andere: Apotheker streiken, weil ihnen die griechische Gesundheitskasse EOPYY Geld schuldet. Ärzte und Krankenschwestern streiken, weil ihnen die staatlichen Kliniken bis zu acht Monatsgehälter schulden. Viele Medikamentenhersteller haben ihre Lieferungen bereits eingestellt, weil noch offene Rechnungen bestehen. Krankenhäusern fehlt es an Basis-Utensilien.

Lambrini Asteriou ist Krankenschwester im Papageorgiou, das auf Grund privater Zuwendungen mit den Gehaltszahlungen noch nicht in Rückstand geraten ist. Und trotzdem: Vor der Krise hat sie 1400 Euro netto verdient, jetzt sind es noch rund 1000 Euro. Für ihre Zehn-Stunden-Nachtschicht in der Notaufnahme erhält sie einen Nettozuschlag von gerade einmal 14,73 Euro. Sie sagt: »Früher war ich am Dritten jeden Monats noch im Plus. Heute bin ich immer im Minus. Und das bei einem Arbeitspensum, das die 60-Stunden-Woche häufig überschreitet. Verdammt noch mal! Ich habe einen regulären, kräftezehrenden Job in einem der besten Krankenhäuser dieses Landes, und es reicht vorne und hinten nicht.«

Der Chefneurologe spricht von Zuständen »wie im Krieg«, der Oberärztin ist zum Heulen zumute, der Vorstandsvorsitzende ist ratlos, die Krankenschwester stocksauer.  Die Nationale Gesundheitskasse EOPYY, die für fast alle Griechen zuständig ist, hat Schulden in Höhe von rund zwei Milliarden Euro: bei Krankenhäusern, Apothekern,  Medikamentenherstellern. Experten führen diese Ausstände auf die rasant gestiegene  Arbeitslosenrate in Griechenland zurück. Je weniger Menschen einem regulären Job nachgehen, desto weniger Einnahmen verbuchen die staatlichen Sozialkassen. In den vergangenen drei Jahren hat sich die Arbeitslosenrate von neun Prozent im Oktober 2009 auf 26 Prozent im September 2012 nahezu verdreifacht. Und in Griechenland existiert kein soziales Netz, kein Hartz IV, das die Menschen auffängt. Wer seinen Job verliert, erhält ein Jahr Arbeitslosenhilfe. Danach stellt der Staat seine Unterstützung ein. Vollends. Das bedeutet auch, dass jeder nach einem Jahr Arbeitslosigkeit seine Krankenversicherung verliert. Zurzeit sind mehr als 1,3 Millionen Griechen arbeitslos. Die Aussichten auf einen neuen Job könnten kaum schlechter sein.

Und selbst diejenigen, die noch Arbeit haben, sind am Ende ihrer Kräfte. Für Kiparisia Karatzidou, die Oberärztin, und Lambrini Asteriou, die Krankenschwester, steht fest: »Wenn sich hier nicht schnell etwas ändert, werden auch wir Griechenland verlassen.«

Fotos: Nikos Pilos