Ingrid & Peter

Es war nur eine Nacht. Sie waren beide mit anderen verheiratet. Aber sie vergaßen einander nie. Bis sie sich wieder trafen, dreißig Jahre später. Heute gehen sie putzen, immer zusammen - damit keiner von ihnen allein ist.

Er hatte es darauf angelegt. Sie war zwanzig, er 23. Sie kannten sich schon vorher. Hatten sich ein paar Mal mit ihren Ehepartnern zusammen gesehen. Und dann war seine Frau auf einmal im Urlaub. Und ihr Mann bei der Nachtschicht. Er besuchte sie. Musste keine Widerstände überwinden oder überzeugen. Atome, die sich anziehen, in gleicher Schwingung vereint. Es war so schön. Es tat so gut.

»Der Peter war eben ein richtiger Mann«, sagt Ingrid Gieseler heute. Ihr eigener war es damals nicht. Auch Peter war mit seiner Ehe unzufrieden. Aber sie beide zusammen: ein loderndes Feuer. Doch sie legten keine neuen Scheite nach, sie sahen sich nur das eine Mal. Ihre Geschichte schien vorbei zu sein. Zukunftslos. Ein Sturm, der vorüberzieht und ein paar zerbrochene Fenster hinterlässt, die man reparieren kann. Keiner von beiden war an einer Fortsetzung interessiert. Beide hatten bekommen, was sie wollten. Sie ein bisschen mehr als er. Aber das wusste er noch nicht.

»Sex, was anderes war es nicht«, sagt sie heute. »Ja, ganz genau!«, pflichtet er bei. Hand in Hand sitzen Ingrid und Peter Gieseler ein halbes Jahrhundert später auf ihrem Sofa und erinnern sich an jenes Rendezvous, das sie zusammenführte und zugleich trennte. Erst dreißig Jahre danach würden sie sich wiedersehen.

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Bei aller Beiläufigkeit war ihre erste Begegnung ein nachhaltiges Treffen. Zumindest für sie. Damals will sie nichts mehr von ihrem Mann wissen, den sie, minderjährig und nur mit Zustimmung des Jugendamtes, ohnehin nur geheiratet hat, um der großelterlichen Obhut zu entfliehen. Und: Sie ist schwanger von Peter Gieseler. Ihm, ihrem Liebhaber, sagt sie nichts. Die Wahrheit bleibt bei ihr, denkt sie. Aber sie ist auch anderen bekannt.

Ihrem damaligen Mann zum Beispiel, der zeugungsunfähig ist, ihr dies aber verschwiegen hat. Auch die Mutter ihres Liebhabers hat einen Verdacht. Als sie eines Tages den Kinderwagen sieht, sagt sie zu ihrem Sohn: »Der ist von dir!« Peter Gieseler selbst kann sich keinen Reim darauf machen. Weder seiner Mutter noch seiner damaligen Frau hat er von jenem Abend erzählt, »aber irgendwie hat sie was geahnt«. Weil Frauen ja meist etwas ahnen. Nach drei Jahren schlechten Gewissens gesteht er es. Aber ob dieses Kind, das tatsächlich ein bisschen aussieht wie seine anderen Kinder, wirklich von ihm ist, kann auch er nicht sagen. Denn wenn es so wäre, hätte sich diese Frau doch sehr wahrscheinlich bei ihm gemeldet. Wieso hätte sie auf seine Unterhaltszahlungen verzichten sollen?

»Weil ich das Kind ja wollte«, sagt Ingrid Gieseler. Warum hätte sie diesen verheirateten Mann in die Pfanne hauen sollen? Ein Kind. Eine schöne Erinnerung. Und eigentlich auch ein Versprechen. Wie es sein kann zwischen Mann und Frau. Natürlich hätte sie einen Vaterschaftstest erzwingen können. Aber das will sie nicht. Dass das Kind nicht von ihrem Mann stammen kann, erfährt sie erst beim Scheidungstermin. Eigentlich hätte sie es ganz gern früher gewusst. Vermutlich hätte sie keinen Mann geheiratet, mit dem sie keine Kinder bekommen kann. Kinder gehören für sie dazu. Jetzt hat sie eins. Aber keinen Mann.

Dreißig Jahre später, im August 1996, klingelt bei Peter Gieseler das Telefon. Ein junger Mann, der ihn gleich duzt und sagt, er würde ihn gern mal kennenlernen. »Du hast mit meiner Mutter mal irgendwann…« – »Ja, stimmt«, sagt Gieseler, er weiß sofort Bescheid. Sie treffen sich. Keine Vorwürfe, dass er sich nicht gekümmert habe. Nur unsicheres Interesse. Eine kleine Verlegenheit auf beiden Seiten. Am Ende lässt er ausrichten, dass er die Mutter eigentlich auch gern wiedersehen würde. Er sagt es absichtslos. Kein Gedanke an das, was passieren wird. Aber als er sie dann zwei Wochen später sieht, kann er verstehen, wieso er sie damals, an jenem Abend, besucht hat. Ihr Lächeln, das sich in ihn eingegraben hat. Ihr Mund, der immer noch reizvoll ist. Aber sie sind jetzt älter. Er 56, sie 53. Da fällt man nicht mehr einfach übereinander her. Aber erinnern darf man sich schon daran.

Sie erzählen sich ihr Leben.
Sie von ihrer zweiten Ehe, die – trotz der drei Kinder – ein noch größerer Fehler war als die erste. Wenn sie früher die Kraft gefunden hätte, hätte sie sich diese 16 Jahre gespart. Ihr Mann säuft, prügelt andere krankenhausreif und schlägt auch die Kinder. Sie versteckt die Küchenmesser vor ihm. Er randaliert, dreht mitten in der Nacht die Musik ohrenbetäubend laut auf, und sie schämt sich am nächsten Tag, wenn sie den Nachbarn im Hausflur begegnet. Außerdem ist er Spieler, verzockt das gemeinsame Geld oder verschenkt es in der Kneipe. Sie muss es wieder einsammeln. Erst vor Kurzem hat sie die Reißleine gezogen.

Ihr Leben hat nun eine Freistelle.
Seines noch nicht. Obwohl es sich bereits abzeichnet. Er hat drei Kinder mit seiner ersten Frau, hat noch einmal geheiratet, aber seit Langem verkehren sie, wie er sagt, »nur noch wie Bruder und Schwester«. Vor einer Woche erst hat sie diesen Satz in den Raum geworfen, der seltsam in ihm nachhallt: »Dann können wir uns ja scheiden lassen.« Ein bisschen hat ihn der Satz geärgert, weil er so dahingesagt war. Weil er eine Kühle in ihm gelesen hat, die ihm Angst machte. Und vielleicht auch, weil er ihn nicht selbst gesagt hat.

Nun trinkt er Kaffee mit einer Jugendaffäre, die sich vor vielen Jahren aus seinem Leben verabschiedet hat, und wird langsam nervös.

»Wir können ja da weitermachen, wo wir letztes Mal angefangen haben …«

Dreißig Jahre lang wusste er nicht, dass sie ein Kind von ihm hat. Dann klingelte das Telefon.

Theoretisch, stellen sie fest, hätten sie sich viel früher kennenlernen können. Ohne voneinander zu wissen, sind sie in derselben Straße aufgewachsen. Friedbergstraße, Berlin-Charlottenburg, sie in der 12, er schräg gegenüber in der 25. Aber sie laufen sich nicht über den Weg. Sie lebt bei der Großmutter und schaut nicht nach den Männern, weil es sich nicht gehört. Und weil sie ein bisschen rundlich ist, denkt sie, war sie vielleicht nicht so interessant für ihn.

Dabei ist ja auch er nicht der professionelle Herzensbrecher, für den man ihn leicht halten könnte, wenn man ihn auf den alten Fotos mit seinen breiten Schultern und der Elvistolle sieht. Seine Mutter hat ihm mal gesagt: »Weißt du, mein Junge, ich war für deinen Vater die erste Frau. Und dein Vater war für mich der erste Mann.« Was für ein schöner Satz, hat er sich gedacht und sich vorgenommen, ihn auch für sich zu beherzigen. Mit 19 hat er zwar schon geküsst, aber weiter geht es erst, als er mit 21 seine erste Frau heiratet. Ingrid ist Nummer zwei.

Am Ende ihres ersten Wiedersehens nach all den Jahren will er mit der U-Bahn zurück, aber sie bietet ihm an, ihn nach Hause zu fahren. Irgendwann fragt sie: »War es das nun?« Er braucht eine Weile, bis die Frage bei ihm ankommt. Er spürt, dass sie gern etwas von ihm hören würde. Aber er hat in seinem Leben immer gewartet, bis er sicher sein konnte. Weil er Gefühlen nie ganz traute – mit Ausnahme jener Nacht vor dreißig Jahren. »Ach, so meinst du das«, sagt er, nachdem er eine Weile nachgedacht hat. Je länger sich ihr Satz in ihm setzt, desto klarer wird ihm, dass ihre gemeinsame Geschichte, die eigentlich kaum eine ist, vielleicht eine zweite Chance verdient. Und dann schiebt sie noch einen Satz hinterher, gegen den er sich nur schwer wehren kann: »Wir können ja da weitermachen, wo wir letztes Mal angefangen haben …«

Wie lange kann man von einer Erinnerung zehren? Wann muss man sie mit Wirklichkeit auffüllen? Wissenschaftler können relativ exakt bestimmen, wie lang radioaktive Isotope strahlen. Aber über die Halbwertszeit von Gefühlen gibt es keine Daten. Man weiß, wie ein Haus gebaut werden muss, damit es nicht zusammenbricht. Aber über die Statik der Liebe ist wenig bekannt. Wie belastbar sie ist, was sie aushält, kann niemand sagen. Wie zwei Himmelskörper haben sie einander umkreist, dreißig Jahre lang, jeder auf seiner Bahn, nun treffen sie erneut aufeinander. Und holen das nach, von dem sie denken, dass sie es viel zu lange versäumt haben.

So wird eine Nacht, die sie zunächst beide eher bereut haben, dreißig Jahre später zur Grundlage einer ganz anderen, viel größeren Geschichte: Sie entdecken die Liebe, die für sie immer nur Sehnsucht war. Sie haben sie ja nie empfangen. Er nicht von seiner Mutter, die schwer arbeiten musste, um die Kinder durchzubringen. Nicht von seinem Vater, den er nie kennengelernt hatte, der trank und im Krieg blieb. Und wo hätte sie die Liebe lernen sollen? Ihre Mutter hatte acht Kinder, drei davon gab sie weg, auch Ingrid, das uneheliche Kind. In ihren beiden Ehen gab es keine Liebe. Der erste Mann herzenskalt. Der zweite ein prügelnder Trinker. Aber jetzt ist Peter da. Peter, der sich nie jemandem wirklich geöffnet hatte, auch seiner ersten Frau nicht, der von sich selbst sagt, er sei »kein Gefühlsmensch«, wird in ihrer Gegenwart ganz weich. »Wir haben die Liebe erst im Alter gelernt«, sagt sie.

Vor 15 Jahren haben sie geheiratet. Jetzt sitzt Peter Gieseler auf dem blaugrauen Ledersofa, das sie, als der Sessel hinüber war, kurzerhand in zwei Hälften geteilt haben, und wünscht sich, dass er nach der Liebe seiner Frau mal wieder etwas anderes gewinnt. Vor vier Jahren war er ganz nah dran. Normalerweise setzt er einfach auf die Minuten, in denen bei Hertha die Tore fallen. Aber da war grad keine Bundesliga. »Mensch, was machste?«, hat sich Gieseler da gefragt. An einem 23sten haben sie sich kennengelernt, Ingrid und er, an einem 28sten war Hochzeitstag, er Jahrgang 40, sie 43, an einem elften und einem 16ten. Macht sechs Lottozahlen. »War’n Fünfer«, sagt Gieseler und holt, damit die Sache sozusagen amtlich wird, die Gewinnbestätigung von nebenan: 4026 Euro. Stellt man seine kleine Rente und die seiner Frau auf die eine Seite und ihre Schulden auf die andere, wird schnell klar: Eigentlich hätten sie einen Sechser gebraucht.

Dabei hat er ein gewisses Händchen dafür. Etwa zur gleichen Zeit, als er beim Fußballtoto einmal satte 77 000 Mark gewann, bekam Ingrid Gieseler von ihrer Großtante ein Haus geschenkt. Hätte sie es schlau angestellt, wäre sie damit einigermaßen über den Berg gewesen. Aber sie machte Fehler. Verkaufte das Haus, spendierte ihren Kindern mehr, als nötig gewesen wäre. Und begann sich für Autos zu interessieren. »Hatte so einen kleinen Autofimmel.« Alle drei Jahre einen Neuwagen. Und jedes Mal einen größeren. Immer nur die Hälfte der Kaufsumme gezahlt, weil die andere Hälfte ja durch den Wagen gedeckt wurde, den sie in Zahlung gab. Ein verführerisches Modell. Verständlich nach einem Leben voller Entbehrungen. Aber wieder einmal die falsche Liebe: »Das letzte Auto hat mir das Genick gebrochen.«

»Wir haben gelebt.« Wenigstens zwischendurch.

Ingrid und Peter Gieseler gehen zusammen putzen. Er kümmert sich ums Grobe, sie übernimmt die Feinarbeiten.

Ein Honda Accord. »Schöner Wagen«, sagt sie und fährt mit der Hand fast zärtlich über den Lack, der im letzten Licht der Abendsonne immer noch funkelt wie ein Versprechen. Dunkelblau metallic. Sonderausstattung. Navi, Einparksensoren, 201 PS, wie ein Brett auf der Straße, »auch bei 230 bleibt er ganz ruhig«. Ihr Mann hat bis zuletzt gehofft, dass sie den Kredit nicht bekommt, aber er wusste auch, dass es keinen Sinn hatte, ihr die Sache auszureden. Verkaufen geht nicht, weil er finanziert ist. »Die Suppe, die man sich einbrockt, muss man auch auslöffeln«, sagt Gieseler, der durch seine Arbeit – 28 Jahre technischer Arbeiter in einer Nervenklinik – gelernt hat, dass man Probleme am besten pragmatisch angeht.

Deshalb gehen sie putzen. Rund neunzig Stunden jeden Monat. Etwa 800 Euro, die sie ihrem Traum, schuldenfrei zu sein, ein bisschen näher bringen. Sie hat schon früher geputzt, es ist kein Traumjob, das wissen beide, aber doch eine Möglichkeit. Weil sie niemanden stören wollen, und auch weil es besser ist, selbst ungestört zu sein, richten sie es so ein, dass sie zu ihrer Arbeit kommen, wenn noch niemand da ist. Oder alle schon weg sind. Sehr früh am Morgen oder nach Feierabend. »Wir möchten nicht unangenehm auffallen«, sagt Ingrid Gieseler. »So ist unsere Art eigentlich«, ergänzt ihr Mann.

Es ist ein Liebesbeweis, dass er sie begleitet, was er, streng genommen, natürlich nicht müsste. »Ich kann doch nicht zu Hause rumsitzen, wenn meine Frau arbeitet«, sagt er. Zusammen schaffen sie es in der Hälfte der Zeit. Er macht das Grobe, sie die Feinarbeiten. Sie schaut noch genauer hin als er. Bei den Tischplatten, anders als beim eigenen Leben, das man am besten mit etwas Abstand betrachtet, guckt sie immer aus der Nähe, schräg von der Seite. Weil man dann die Fettspuren am besten sieht. Wenn alles gut geht, ist der Wagen in vier Jahren bezahlt. Ingrid Gieseler weiß, dass er ein Fehler war. Aber sie bereut ihn nicht: »Wir haben gelebt.« Wenigstens zwischendurch.

Irgendwann, wenn ihre Liebe mal wieder mehr Zeit bekommt, würden sie mit dem Wagen gern wie früher nach Österreich fahren. Wandern. Sie hofft, dass sie sehr alt werden. Dass Peter ihr lange erhalten bleibt, ihr spätes Glück. Sie möchte die Dinge stets genau so haben, wie sie es sich vorstellt; er nimmt sie lieber, wie sie kommen. Er habe keine Angst vor dem Tod, sagt er. Auf Sorgen, die ihm gelten, reagiert er eher ungehalten. Was sie ungerecht findet, weil Sorgen zwar niemandem nutzen, aber genau genommen doch Zeichen der Zuneigung sind. Wenn er sich nicht gut fühlt, behält er es meist für sich. Es gab zwei, drei Momente der Eifersucht, nicht mehr. Sie findet, dass er ihr beim Einparken manchmal etwas zu sehr dreinredet. Sonst hält er sich zurück, hört lieber zu, als selbst zu reden. »Bringt doch nüscht, wenn zweie quatschen.«

Sie ergänzen sich. Er liest die Zeitung, sie schaut die Serien. Sie hat einen Computer, ihm sind sogar Handys nicht geheuer. »Bin noch vom alten Zopf«, sagt er. Wenn sie mal streiten, dann fast nie über sich, meist über andere. Ihren gemeinsamen Sohn zum Beispiel, der Maler ist, aber auch gut tischlern kann – leider aber beides nicht tut. Oder seine Kinder, die den Kontakt abgebrochen haben, was vermutlich mit seiner Exfrau zu tun hat. Er würde sich freuen, wenn sie eines Tages wieder vor ihm stünden. Aber er hat sein Pulver verschossen. Zweimal hat er versucht nachzuhaken, jetzt wäre es an ihnen, findet er.

Zwischen den Arbeitszimmern des Labors, das Gieselers gerade vom Staub befreien, gibt es eine Art Durchreiche. Während der Arbeit reden sie nur das Nötigste, aber hin und wieder wirft Gieseler, mit einer ganzen Menge Restverliebtheit, einen Blick durch die Luke.

»Wenn ich die Frau arbeiten seh, könnt’ ich meinen Hut ziehen«, sagt Gieseler in aufrichtiger Verzückung. Als er den Staubsauger schwenkt, spürt er plötzlich ein Stechen an seiner künstliche Hüfte. Irgendwas bei der Operation ist schiefgelaufen. Beim Aufstehen muss er sich immer ein bisschen abstützen, aber er kann damit leben, sagt er. »Bewegung hat noch nie geschadet.« An Tagen, wo sie vier oder fünf Jobs hintereinander haben, muss er eine Schmerztablette nehmen, weil die Narbe manchmal auf den Nerv drückt. Aber Gieseler ist hart im Nehmen. Natürlich
hat er sich seinen Ruhestand etwas anders vorgestellt.

Aber sie sind zusammen, immerhin.
Freitagabend, halb elf, nach einem langen Putztag gönnen sie sich vor dem Fernseher das einzige Hefeweizen der Woche. Ein paar Stunden Ruhestand, die Vorfreude auf den freien Tag. Am Sonntag müssen sie wieder früh raus. Sie leben bescheiden. Weil es nicht anders geht, aber auch, weil sie beide aus ihrer Vergangenheit wissen, wozu es führt, wenn man das Maß verliert. Das letzte Mal im Restaurant essen waren sie vor vier Jahren, beim Jugoslawen zum Hochzeitstag. Im Supermarkt kaufen sie nur Angebote und frieren sie ein. Mit Geschenken ist es weniger geworden, aber das wäre es vielleicht sowieso.

Dabei hat sich der Frühling bei ihnen – über alle Jahreszeiten hinweg – gehalten. Nach so vielen Jahren müsse man sich natürlich nicht mehr jeden Tag versichern, dass man sich liebt, sagt seine Frau. »Wir wissen das!« – »Ja, genau«, sagt Gieseler und nickt. Und damit ist es sozusagen amtlich. Was sie am meisten aneinander schätzen? »Seine Zuverlässigkeit«, sagt sie, »eigentlich den ganzen Mann.« Der beste, den sie je hatte. Sie ist stolz auf ihn. Und natürlich auch ein bisschen auf sich. Weil sie ihn noch einmal, wenn auch sehr spät, in ihr Leben gelassen hat. Er ist der letzte Sonnenstrahl ihres Beziehungslebens. Aber wenn man es genau nimmt, ja eigentlich auch der erste.

Vielleicht liegt es daran, dass sie gerade vom Putzen kommen, auf jeden Fall hinkt ihr Mann bei diesem komplexen Thema noch ein wenig hinterher. Er sagt: »Meine Frau ist eine saubere Frau, die ist sehr sauber, macht eher zu viel als zu wenig, so ist sie. Ja, mmh, eigentlich ist damit alles gesagt.« Jedenfalls auf der Putzebene. Aber als er merkt, dass er den Kern des Ganzen damit noch nicht ganz getroffen hat, schwingt er sich noch zu einem Satz auf, der den Raum bis in alle Ecken füllt. »Die Liebe«, sagt er, »das ist so ein Punkt: Die steht.« Vielleicht merke man sie besonders dann, wenn der andere nicht da ist. Einmal musste seine Frau ins Krankenhaus, zwei oder drei Tage, und Gieseler war allein zu Hause: »Da hab ich einen Weinkrampf bekommen, weil sie auf einmal weg war.« Als hätte jemand das vertraute Schlagen der Wanduhr abgestellt. Als würden die Vögel im Hof nicht mehr singen. Als gäbe es nur noch dunkle Stille. Als er sie dann endlich besuchen durfte, sagte sie zu ihm: »Ein Tag ohne dich ist ein verschenkter Tag.« Jedenfalls was in der Art.

Im Flur ein selbst gemaltes Bild der Cousine, bei dem sich beide fragen, was es wohl zeigt: »Soll ’ne Frau sein«, sagt Gieseler. Na, seine sieht zum Glück anders aus. Er findet sie immer noch schön. Sie ist wie ein spätes Geschenk für ihn. Und dann schaut er sie an und murmelt, dass sie eigentlich nur zusammen sind, weil sie damals einen Fehler gemacht haben. »Aber im Nachhinein«, sagt Gieseler, »war es dann ja doch kein Fehler.« So ist das manchmal im Leben.

Fotos: Jo Jankowski Illustration: George Butler