»Ich versuche, die beiden Realitäten zusammenzuschweißen«

Der engste Vertraute des zurückgetretenen Papstes Benedikt XVI, Georg Gänswein, ist heute auch der Sekretär von Papst Franziskus. Ein Gespräch mit dem Mann, der das Innerste des Vatikans so gut kennt wie kein anderer.

Georg Gänswein in seinem Amtszimmer in der Präfektur des päpstlichen Hauses. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich unter anderem die Anmeldungen und Anträge zu Papstaudienzen und die Listen der Pilgergruppen für die Generalaudienzen. Immer griffbereit: ein Duden.

SZ-Magazin: Herr Erzbischof, Ihr neuer Chef wohnt nicht im päpstlichen appartamento. Er trägt Straßenschuhe. Er fährt billige Autos. Viele finden das aufregend, andere denken an »Summerhill«. Sitzt da nun ein antiautoritärer Rebell auf dem Stuhl Petri?
Erzbischof Georg Gänswein: Nein. Wer mit Papst Franziskus in ständigem Kontakt ist, lernt zu unterscheiden zwischen einem Außenbild und der konkreten Persönlichkeit. Allein schon die Prägung als Jesuit spricht gegen Revoluzzer und gegen »anti«. Was die Schuhe betrifft, klar, das ist auch eine Frage der Ästhetik. Aber es war vergebliche Liebesmüh zu versuchen, ihn zu überzeugen, dass es möglicherweise nicht nur aus Gründen der Optik, sondern auch der Tradition richtiger wäre, sich in die Linie seiner Vorgänger einzufügen.

Vor allem wollte sich Franziskus nichts diktieren lassen.
Wahr ist, dass ich auch früher dem Papst nie etwas aufgezwungen habe. Wie käme ich dazu! Die Umstellung vom Vorgänger-Pontifikat zum jetzigen war in der Tat eine Herausforderung. Inzwischen komme ich sowohl mit dem Papa emeritus als auch mit dem regierenden Papst ausgezeichnet zurecht.

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Allerdings scheint vieles, was man von Benedikt gewohnt war, bei Franziskus zu fehlen: die Präzision in der Sprache, der Reichtum der Tradition, die Noblesse in der Form.
Dass beide Persönlichkeiten ganz unterschiedlich sind, liegt auf der Hand. Papst Franziskus ist ein Mann der Gestik. Jemand, der auch Akte setzt, die man von einem Papst so nicht erwartet. Papst Benedikt hat man zugehört und sich von seinem Wort ergreifen lassen. Bei Papst Franziskus will man zunächst mal sehen, wie er dies macht, wie er jenes anpackt. Er ist ein Mann, der es versteht, den ganzen Menschen anzusprechen, nicht nur den Intellekt oder einen der Sinne. Ob der Enthusiasmus anhalten wird, muss man sehen. Wir warten ja noch auf inhaltliche Vorgaben.

Hatten Sie denn eine Wahl, ob Sie beiden Päpsten dienen wollten, oder nicht?
Ich habe mir den Doppeljob nicht ausgesucht, der kam eben auf mich zu. Ich nehme jetzt die beiden Realitäten, wie sie sind, und versuche, das zusammenzuschweißen.

Tagsüber Präfekt beim amtierenden, abends Privatsekretär beim emeritierten Papst – wie ist das jetzt mit Benedikt? Sie wohnen zusammen im Kloster Mater Ecclesiae in den Vatikanischen Gärten.
Im selben Haus wohnen auch die »Memores«, die ihn auch während des Pontifikats betreut haben. Es ist ein familiäres Zusammenleben, so wie vorher, allerdings ist nun der Druck der Verantwortung abgefallen. Das macht sich natürlich auch atmosphärisch bemerkbar. Papst Benedikt ist noch milder, noch gütiger geworden. Er ist nicht mehr zusammengedrückt von der Last des Amtes. Natürlich machen sich die Jahre bemerkbar. Er ist ein alter Herr, aber ganz klar und hell im Kopf und nach wie vor sehr humorvoll.

Über die Hintergründe seiner historischen Demission kursieren die seltsamsten Versionen. Die Zeit behauptet, letztlich sei es der Vatileaks-Skandal gewesen, »der zum Rücktritt des alten Papstes führte«. Zunächst: Wie erinnern Sie sich an den 11. Februar, den Rosenmontag 2013?

Es war im Grunde wie immer. Auch der 11. Februar 2013 begann mit der Heiligen Messe, dann folgten Brevier und Frühstück. Ich hatte nicht den Eindruck, dass der Papst nervös gewesen wäre. Auch als ich ihm dann später half, die liturgischen Gewänder – Mozetta, Rochette, Brustkreuz und Stola – für das Konsistorium anzulegen, merkte ich ihm keine Aufregung an. Dann ging es in den Saal, in dem die Kardinäle bereits versammelt waren.

Es ist der Augenblick der Verkündung des Rücktritts. Viele hätten den Akt zunächst gar nicht mitbekommen, heißt es, weil ihr Latein zu schlecht war.
Ganz so war es nicht. Das Konsistorium war angesetzt zur Ankündigung verschiedener Heiligsprechungen. An die siebzig Kardinäle saßen in Hufeneisenform vor dem Papst in diesem riesigen Saal mit dem schönen Namen »Sala del Concistoro«. Die Verblüffung begann, als Papst Benedikt Lateinisch zu sprechen begann: »Liebe Herren Kardinäle, ich habe Sie nicht nur zusammengerufen, um Sie an der Heiligsprechung teilhaben zu lassen, sondern ich habe noch etwas Wichtiges mitzuteilen.« Alle waren bereits irritiert, »was ist jetzt los?« Als der Papst dann fortfuhr mit der Lektüre der Erklärung, die er selber aufgesetzt hatte, wirkten einige Gesichter wie versteinert, andere ungläubig, ratlos, schockiert. Man sah sich gegenseitig an, fragte sich: »Habe ich das richtig verstanden?« Erst als Kardinal Sodano das Wort ergriff, war allen klar geworden, was los ist.

Nach meiner Information ist die Entscheidung für den Rücktritt bereits im August 2012 gefallen. Und sie sollte ursprünglich auch nicht erst im Februar 2013, sondern schon im Dezember 2012 bekanntgegeben werden. Hintergrund ist der Weltjugendtag in Rio. Turnusgemäß hätte dieser erst 2014 stattfinden sollen, wurde aber wegen der Fußball-Weltmeisterschaft um ein Jahr vorverlegt. Nach der strapaziösen Reise nach Mexiko und Kuba im März 2012 jedoch hatte der Leibarzt Benedikt erklärt, einen erneuten Flug über den Atlantik werde er nicht überstehen. Damit sei ihm klar geworden, sagte mir der Heilige Vater in einem unserer Interviews, »dass ich zeitlich so zurücktreten muss, dass der neue Papst einen Vorlauf nach Rio hat«. Benedikt XVI. wörtlich: »Sonst hätte ich schon noch durchzuhalten versucht bis 2014.« Hatten Sie versucht, ihn noch einmal umzustimmen?

Genauso, wie Sie das jetzt sagten, hat mir Papst Benedikt seine Entscheidung dargelegt. Meine spontane Reaktion war: »Nein, Heiliger Vater, das dürfen Sie nicht!« Aber das war im Affekt gesagt, denn mir wurde sofort klar: Er teilt nicht etwas mit, um eine Entscheidung zu finden, sondern er teilt eine getroffene Entscheidung mit.

Er habe seinen Schritt, meinte er mir gegenüber, »lange genug bedacht und mit dem Herrn besprochen. Und ich sehe jeden Tag, dass es richtig war«. Er sei sich sicher gewesen, »dass meine Stunde vorbei war, und dass das, was ich geben konnte, gegeben ist«. Sie waren eine von vier Personen, die in dieses Geheimnis eingeweiht waren.
Als mir der Papst eröffnete, was er vorhat, verpflichtete er mich, es unter dem Siegel der päpstlichen Verschwiegenheit zu halten. Sie können sich vorstellen, dass es nicht leicht war, und es gab Situationen, da hätte es mich wirklich fast innerlich zerrissen.

»Trotz des Unterschieds in der Persönlichkeit, im Stil, in der Gestik, sehe ich einen nahtlosen Übergang in der Substanz, im Inhaltlichen.«

Gänswein im Treppenaufgang zum Damasushof. Dort nimmt er als Präfekt des päpstlichen Hauses die Staatsgäste in Empfang, wie etwa Angela Merkel, Wladimir Putin oder jüngst François Hollande.

Mit »Vatileaks«, so Benedikt, habe seine Entscheidung absolut nichts zu tun. Es habe weder »ein Zurückweichen unter einem Druck noch eine Flucht vor einem Nichtmehrkönnen« gegeben. »Ich konnte zurücktreten«, sagte er mir, »weil in dieser Sache wieder Ruhe eingekehrt war.« Hätte es auch nur den Versuch einer Erpressung oder eines Drängens gegeben, hätte er seinen Entschluss nicht umgesetzt. So gesehen seien auch künftig Rücktrittsforderungen gegenüber einem Pontifex ohne Aussicht auf Erfolg.
Richtig. Weil jede Entscheidung, die unter Druck und nicht wirklich frei geschieht, auch kanonisch, gemäß dem Kirchenrecht, ungültig ist.

Seinen Rücktritt begründete er mit dem Nachlassen seiner Kräfte. Tatsächlich war er am Ende völlig erschöpft. Hat Benedikt das Leiden von Johannes Paul II. als eine eigene Botschaft erkannt, zu der er selbst gewissermaßen nicht den Auftrag hatte?

Ich glaube, dass Sie das richtig sehen. Das Pontifikat von Johannes Paul II. dauerte knapp 27 Jahre. Das Pontifikat von Benedikt XVI. knapp acht Jahre, also nicht länger als die gesamte Leidenszeit von Johannes Paul II. In der gleichen Weise weiterzumachen, wie der Vorgänger aufgehört hat, oder ihn gar zu kopieren, das sah er nicht als das Seine an.

Wie war es, als Sie am 28. Februar vor einem Jahr den Vatikan mit dem Helikopter Richtung Castel Gandolfo verließen?

Es war ein Tag, der von Stunde zu Stunde dramatischer wurde. Vor allem, als wir dann das päpstliche appartamento verließen. Zunächst ging es mit dem Aufzug runter in den Damasushof, wo sich viele Mitarbeiter versammelt hatten, was wir nicht wussten. Dann weiter mit dem Auto zum Helikopter-Landeplatz. Während des Überflugs über die historische Stadt herrschte ein beredtes Schweigen. Da war mir elend zumute. Ich empfand einen tiefen Schmerz. Und der natürliche Ausdruck des Schmerzes ist, wenn es geht, dass Tränen kommen.

Die erste Amtshandlung von Benedikts Nachfolger: Er rief seinen Vorgänger an, allerdings ohne Erfolg.
Es war so: Unmittelbar nach der Wahl haben der Substitut und der Sekretär der Zweiten Sektion des Staatssekretariats sowie der Präfekt des Päpstlichen Hauses, in dem Fall ich, das Recht und die Pflicht, dem neuen Papst Obödienz, also Gehorsam, zu geloben. Als ich an der Reihe war und auf Papst Franziskus zuging, begrüßte er mich und sagte umgehend: »Ich würde gern Papst Benedikt anrufen. Wie kann man das machen?« – »Ganz einfach«, war meine Antwort, »ich habe die Nummer. Wann?« – »Sofort.« So geschah es, allerdings konnte ich in Castel Gandolfo niemanden erreichen. »Das gibt’s doch nicht!«, sagte ich mir. Ich rief einen unserer Gendarmen an, der dort Dienst tat, er möge bitte nachsehen, was da los ist. Aber auch auf das Klingeln an der Tür hat niemand reagiert. Im zweiten Anlauf hat es dann geklappt. Der Hintergrund war: Der Papst, sein zweiter Sekretär Alfred Xuereb und die Memores saßen vor dem Fernseher und haben nichts gehört.

Benedikt hatte mit jemand anderem als Nachfolger gerechnet. »Als ich den Namen hörte«, erklärte er mir, »war ich zunächst noch unsicher. Aber wie ich dann sah, wie er einerseits mit Gott redete, andererseits mit den Menschen, da war ich wirklich froh. Und glücklich.« Wie war das bei Ihnen?
Als ich hörte und dann auch mit eigenen Augen sah, auf wen die Wahl gefallen war, war mein erster Gedanke: »Was für eine Überraschung! In vielerlei Hinsicht. Ein Nichteuropäer. Keiner von denen, die als Favoriten galten. Dazu ein Ordensmann. Obendrein erstmals ein Jesuit! Man darf gespannt sein!«

Das spezielle Charisma von Benedikt war der Brückenschlag zwischen Intellektualität und Glaube. Franziskus hingegen legt sehr viel Wert auf Empathie. Es ist ein Wechsel wie vom Lehrstuhl auf die Piazza, von drinnen nach draußen. Drückt das auch einen gesellschaftlichen Wandel aus?
Empathisch reagieren heißt den Menschen annehmen, so wie er ist. Dass die Menschen angenommen werden wollen, ist ja nichts Neues. Aber ich glaube, dass Papst Franziskus darauf eine unmittelbare Antwort gibt. All die Themen, die bei Franziskus im Vordergrund stehen – die Freude, die Hoffnung, die Liebe, die Barmherzigkeit –, sind Themen, die auch bei Papst Benedikt eine große Rolle gespielt haben. Trotz des Unterschieds in der Persönlichkeit, im Stil, in der Gestik, sehe ich einen nahtlosen Übergang in der Substanz, im Inhaltlichen.

Bringt Franziskus aber nicht auch eine andere Religiosität mit ein?

Er bringt eine religiöse Musikalität mit, die wir in Europa offensichtlich erst wieder lernen müssen. Und das kann uns nur guttun. Guttut auch zu erkennen, dass so manche Lieblingsthemen, die wir als vordringlich ansehen, in Wirklichkeit lediglich Randthemen sind. Auch in Südamerika gibt es genügend Probleme im kirchlichen Alltag, vor allem mit den Sekten, die auf dem Vormarsch sind. Aber die religiöse Freude, die dort zu verspüren ist, ist ein großes Geschenk für uns in Europa.

Sein Nachfolger, so Benedikt, sei durchaus »auch ein Papst der Reflexion, ein nachdenklicher Mensch, der mit den Fragen der Zeit geistig umgeht«. Sprechen Sie mit dem »Alt-Papst« über die Arbeit des Nachfolgers?
Wenn man zusammenlebt, tauscht man sich aus. Das ist doch klar. Ich sage meine Meinung offen und ohne Scheu, Papst Benedikt antwortet in der gleichen Offenheit.

Alt- und Neu-Papst scheinen sich zu verstehen. Benedikt sei »ein subtiler Denker, den der Großteil der Menschen nicht kennt oder nicht verstanden hat«, meint sein Nachfolger. Es sei »eine Freude, Ideen mit ihm zu teilen«. Umgekehrt meinte Papst Benedikt in meinem Gespräch, er habe kein Problem mit dem Stil von Franziskus, »im Gegenteil, ich finde das gut«. Das wird manche verwundern.

Mich auch.

Papst Franziskus sagt vielfach nichts anderes, was auch Papst Benedikt gesagt hat. Dennoch werden die beiden gegeneinander ausgespielt.
Das halte ich schlichtweg für primitiv. Man darf nicht übersehen, dass Papst Benedikt schwierige Probleme anpacken musste und sich dabei nie daran orientierte, ob etwas gut ankommt, sondern an der Wahrheit und Richtigkeit. Ich bin überzeugt, dass es bei Papst Franziskus nicht anders sein wird, nur stehen eben die Bewährungsproben noch aus. Ich sehe beide nicht konträr, sondern komplementär.

Wird Franziskus vielfach nur schöngeredet? Nach dem Motto: Wir machen uns einen Papst, wie wir ihn haben möchten?
Das Hauptmerkmal, das gegenwärtig in der öffentlichen Wahrnehmung die Gestalt von Papst Franziskus kennzeichnet, ist Begeisterung, ja Enthusiasmus. Wird aber denn auch alles, was er sagt, so wahrgenommen? Mein Eindruck ist vielmehr der, dass allerlei eigene Interpretation in seine Worte hineingelegt werden. Alle meinen, ihn für sich beanspruchen zu können. Es muss natürlich der Tag kommen, an dem sich die Spreu vom Weizen scheidet.

»Dem Jubel mutig Taten folgen zu lassen, das wäre die richtige und überzeugende Antwort.«

Benedikt XVI. machte einen Protestanten zum Präsidenten des päpstlichen Wissenschaftsrates. Unter ihm wurde erstmals ein Muslim Professor an der Gregoriana, der hier Koran lehrt. Er aß mit Obdachlosen Lasagne, besuchte Jugendliche im Gefängnis. Er feuerte im Zusammenhang mit Missbrauch rund 400 Priester. Aber all das wurde kaum kommuniziert. Hat sich Benedikt verweigert, weil ihm Effekthascherei zuwider ist, oder hat man ihn einfach schlecht »verkauft«?
Wer Papst Benedikt kennt, weiß, dass ihm Personenkult zuwider ist. Er hat nie Wert darauf gelegt, gut verkauft zu werden. Dass die Pressearbeit nicht immer optimal war, gehört zu den Erfahrungen, aus denen man erst im Nachhinein lernt und die Konsequenzen zieht, um es dann in Zukunft besser zu machen. Die Öffentlichkeit nimmt hauptsächlich wahr, was die Medien vermitteln. Ob das mit der Wirklichkeit auch übereinstimmt, spielt letzten Endes kaum noch eine Rolle.

War der Camauro, diese fellbesetzte rote Samtmütze, ein Fehler?
Das war nicht meine Idee, und ich war auch nicht begeistert davon. Man suchte ganz einfach nach einer winterlichen Kopfbedeckung für den Papst. Er hat sie dann halt aufgesetzt, weil es bei der Generalaudienz auf dem Petersplatz bitterkalt und windig war. Aber das genügte, um dieses Bild pausenlos abzudrucken und zu signalisieren: Seht, das ist ein Papst, der nach rückwärts führen will, ins Mittelalter. Einfach Quatsch.

Vieles, was der neue Papst kritisiert, trifft vor allem auf die Kirche in Deutschland zu: Anpassung an den Zeitgeist, Mutlosigkeit, fehlendes Profil. Die Bischöfe jubeln Franziskus zu, aber das war’s dann auch schon.
Schön, dass sie jubeln, aber nur jubeln reicht nicht. Dem Jubel mutig Taten folgen zu lassen, das wäre die richtige und überzeugende Antwort.

Woran denken Sie da?
Darf ich es provokativ sagen? Die berühmte Forderung nach Entweltlichung, die Papst Benedikt in seiner Freiburger Rede erhoben hat, die dann aber mit wahren Interpretationspirouetten entsorgt werden sollte, diese Forderung löst Papst Franziskus auf ganz unspektakuläre Weise Schritt für Schritt ein. Haben Sie deswegen von irgendjemandem einen Aufschrei gehört, wie damals nach der Rede Benedikts?

Aktueller Streitpunkt ist der vom Vatikan herausgegebene Fragenkatalog zur Akzeptanz der katholischen Morallehre.
Die Umfrage entstand im Hinblick auf die Bischofssynode, die im Oktober in Rom stattfinden wird. Das Sekretariat der Bischofssynode hat zur Vorbereitung dieser wichtigen Zusammenkunft einen entsprechenden Fragebogen an die Bischöfe weltweit versandt, um zu sondieren, wie es »denn wirklich an der Basis« aussieht.

Weiß man das denn nicht?

Ich glaube schon. Aber es ist ja nichts Schlechtes daran, als Vorbereitung für die Familiensynode eine Fotografie der aktuellen Situation zu erstellen. Damit schafft man eine solide, realistische Grundlage, um dann im Oktober richtig an die Arbeit zu gehen. Eine Umfrage ist allerdings kein Zwangsmittel, um bestimmte Vorstellungen durchzuboxen.

Wird Franziskus hier ein Problem bekommen?
Wenn Sie die Frage konkret auf die künftige Synode beziehen, dann ist das schon möglich. Papst Franziskus sieht sich einem hohen Erwartungsdruck ausgesetzt. Dazu tragen leider auch manche Indiskretionen bei. Werden die Erwartungen nicht erfüllt, kann sich das Blatt schnell wenden.

Noch einmal zu Papst Benedikt: Kein anderer Pontifex der Neuzeit hat das Papsttum verändert wie er. Es begann, indem er die Tiara aus dem Wappen nahm – und endete mit seinem Rücktritt, der ersten Demission eines wirklich regierenden Papstes überhaupt. Der Philosoph Gottes geht nun am Ende dorthin, wo Verstand allein nicht genügt, ins Gebet, in die Meditation. Ist auch das eine Botschaft?
Ja, eine sehr klare und starke. Die Kirche wird nicht nur mit Entscheidungen regiert, sondern auch mit und durch das Gebet. In seinem letzten Lebensabschnitt als »irdischer Pilger« – so hat sich Papst Benedikt bei seiner Abschiedsansprache in Castel Gandolfo selbst bezeichnet – will er die Kirche und seinen Nachfolger im Gebet begleiten und stützen.

GEORG GÄNSWEIN
Erzbischof

Man könnte sagen, der Weg war weit für einen, der 1956 in Riedern im Südschwarzwald als ältestes Kind eines Schmieds zur Welt kam und heute Erzbischof und Präfekt des Päptlichen Haushalts im Vatikan ist. Aber vielleicht war der Weg dorthin auch kurz und direkt, wenn man wie Georg Gänswein früh eine Berufung verspürt, mit 18 beschließt, Priester zu werden, und obendrein einen messerscharfen Verstand besitzt. Er ist zugleich Privatsekretärvon Papst Franziskus und des zurückgetretenen Papstes Benedikt. Er führt den Terminkalender und filtert aus der Lawine der Briefe, Anrufe und Audienzwünsche jene heraus, die beantwortet und gewährt werden. Immer führt der Weg zum Papst an ihm vorbei.

Fotos: Armin Smailovic