Die schwarze Stadt

Orson Welles' Filmklassiker »Der dritte Mann« prägt Wien bis heute - über und unter der Erde.

Nachmittags leuchtet die Brühe in Wiens Kanalisation ultramarinblau oder zinnoberrot. Ab Mai starten Kanalarbeiter für Besucher ihre Lichtshow und erzählen von den Gefahren bei Regengüssen. Stinkt nicht mal sonderlich da unten, denn die Fäkalien werden mit genügend Regen- und Brauchwasser verdünnt. In den Tunnelgängen ist Zithermusik zu hören. »Dritte Mann Tour« nennt sich der geführte Einstieg in den beleuchteten Untergrund, nach dem berühmten Spielfilm mit Orson Welles. Er spielt darin einen skrupellosen Schwarzmarkthändler im Nachkriegs-Wien, der am Ende in die Kanalisation flieht.

Die Tour ist oft ausverkauft. Kegelvereine, freiwillige Feuerwehren, Touristen, Rentner, Schulklassen schauen sich den Drehort in der 2000 Kilometer langen Kanalisation an. Die Leute, für die die Tour 1999 erfunden wurde, bleiben weitgehend aus: Filmliebhaber buchen eher die Fahrradtour oder den Abendspaziergang zu den überirdischen Drehorten rund um den ersten Bezirk. Oder sie gehen in das Museum, das den Film und die Nachkriegszeit in der Nähe des Naschmarkts dokumentiert.

Es ist weltweit das einzige Museum, das sich allein einem Film widmet. Geöffnet ist es nur jeden Samstag – und für seinen Direktor eher ein teures Hobby, denn die Ausstellungsstücke hat er in der ganzen Welt zusammengekauft: ein Originaldrehbuch, die Handkamera, mit der die Szene auf dem Riesenrad gedreht wurde, einen Gullydeckel, durch den die sterbende Hauptfigur namens Harry Lime ihre Finger streckt. Und der Museumsdirektor hört nicht auf mit dem Sammeln, er mietet immer wieder Nachbarräume am Naschmarkt an. Das Museum begreift er als sein Lebensprojekt, die Stadt soll den Film nicht vergessen.

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Gerhard Strassgschwandtner betreibt das Museum seit den Neunzigerjahren ohne öffentliche Gelder. Er arbeitet als Fremdenführer und organisiert auch die Fahrradtouren. Als Kind hat er in den Kanälen gespielt, dort, wo das Filmende gedreht wurde, bei kleinen Jungs galt es als Mutprobe, ohne Taschenlampe hinabzusteigen. Jahrgang 1955 ist er, in seiner Schulzeit verlor man kein Wort über den Krieg und die Nazizeit. Das begann sich erst 1986 allmählich zu ändern, nachdem der damalige Bundespräsident Kurt Waldheim seine SA-Vergangenheit als Mitgliedschaft in einem harmlosen Reiterverein beschönigt hatte. Der Film ist für Strassgschwandtner eine trauriges Sinnbild für Österreichs anhaltende Verdrängung seiner Vergangenheit – und die Reise in die Filmgeschichte ist auch eine Reise in die Stadtgeschichte. Deswegen sammelt er neben skurrilen Filmdevotionalien und glamourösen Plakaten aus aller Welt auch Fotos, die den Abtransport von Juden aus der Stadt zeigen. Oder selbst gedrehte Interviews mit ehemaligen amerikanischen Bomberpiloten. Strassgschwandtner hat Architektur, Geschichte und Kunstgeschichte studiert, alles abgebrochen, aber sein Wissen macht ihn zu einem kurzweiligen Stadtführer – wie auch seine Hassliebe zur Heimat. Der gebürtige Wiener Strassgschwandtner sagt: »Der Wiener ist von seinem Wesen her grantig und böse, Beethoven verkauft er als einen Österreicher und Hitler als einen Deutschen. Gut, dass es immer weniger echte Wiener gibt.«

Der dritte Mann lief weltweit sehr erfolgreich. In Wiener Kinos wurde er schon nach fünf Wochen abgesetzt. Die Wiener sahen ihre Stadt als düstere Räuberhöhle verunglimpft und haben den Film nie sonderlich geschätzt. Das mag Strassgschwandtner seinen Landsleuten nicht verzeihen.

Düster ist der Film wirklich. Viele Szenen spielen nachts in den Straßen, und zwischen den Häuserruinen taucht immer wieder der bedrohliche Schatten der Hauptfigur auf, die sich im russischen Bezirk des besetzten Wiens versteckt.

Bis lange in die Nachkriegszeit drehte man Nachtaufnahmen am Tag und unterbelichtete die Aufnahme durch niedrigere Blendenwerte. Oder man verdunkelte den Film in der Nachbearbeitung – »Amerikanische Nacht« nannte man dieses Verfahren, das war viel billiger und technisch einfacher. Die Nachtaufnahmen beim Dritten Mann waren großteils echt und gelangen außergewöhnlich gut. Das Filmteam hatte sich einen Trick einfallen lassen: Ein Sprühwagen sorgte am Drehort dafür, dass die Straßen stets feucht waren und sich das schwache Licht der Straßenlaternen im glänzenden Trottoir spiegeln konnte. 1951 bekam der Film einen Oscar für die beste Kamera.

Noch heute zählen Cineasten und alle möglichen Charts den Dritten Mann zu den besten US-Filmen der Geschichte – obwohl er eigentlich eine englische Produktion war. Die Filmmusik von Anton Karas hat die Zither als Instrument in der ganzen Welt bekannt gemacht, die Beatles haben seine Filmmusik gecovert, die größte U-Bahnstation Tokios spielt sie bis heute beim Einfahren jedes Zuges.

Und Orson Welles war ein großer Schauspieler. Schon in den Dreißigerjahren machte er sich in New York einen Namen als Shakespeare-Interpret. Er war auch ein erfolgreicher Journalist, der 1938 mit einer fiktiven Reportage über eine Invasion Außerirdischer an der Ostküste der USA in regelrechte Massenpanik auslöste. Sogar zaubern konnte er: Während des Krieges unterhielt er die Soldaten an der Front damit, Marlene Dietrich zu zersägen. Mit 25 Jahren drehte er Citizen Kane, er schrieb am Drehbuch mit, führte Regie, produzierte den Film und spielte auch mit. Der dritte Mann war der einzige Film, in dem Welles nur mitspielte (und den er auch nach dem Dreh noch anschauen mochte).

Als Produzent hatte Welles Pech, vielleicht lag ihm das auch nicht. Drei Filme wurden nie fertiggestellt. Weil ein Schauspieler während der Dreharbeiten gestorben war oder das Geld ausging oder Filmrollen spurlos verschwanden. Oja Kodar, die Lebensgefährtin von Welles, Beatrice Welles, seine Tochter, und Peter Bogdanovich, einer der Schauspieler, stritten sich zwanzig Jahre darum, wie ein weiterer Film möglichst im Sinne des mit siebzig Jahren verstorbenen Filmgenies geschnitten werden solle. The Other Side of the Wind soll dieses Jahr endlich ins Kino kommen. Hundert Jahre nach der Geburt von Orson Welles, dreißig Jahre nach seinem Tod. In der Bar des Wiener »Hotels Sacher« trank Welles gern Bloody Mary, im Café aß er die Sacher-Torte, immer gleich zwei, drei Stück. Im Sacher wurden auch einige Szenen des Dritten Mannes gedreht. Graham Greene wohnte im »Sacher«, als er 1947 zwei Wochen in der Stadt war, um für seinen Roman zu recherchieren, der dem Drehbuch als Vorlage diente. Niemand erinnert sich, wo der damals nicht ganz so bekannte englische Schriftsteller genau untergebracht war. Mit Sicherheit schlief er aber nicht in den beiden Zimmern, die heute mit Filmplakaten an der Wand als Dritte-Mann-Suite vermietet werden.

So was passiert in Wien öfter. Beethoven hat laut Strassgschwandtner auch nie in der Wiener Wohnung gelebt, von der man das bis heute behauptet und in der das Beethoven-Museum eingerichtet wurde.

Essen

Natürlich Wiener Schnitzel - und zwar im »Gasthaus Pöschl«, Weihburggasse 17, 1010 Wien.

Übernachten

»Hotel Sacher«, Philharmonikerstraße 4, 1010 Wien. DZ ab 425 Euro, sacher.com

Unbedingt

Das Dritte-Mann-Museum besuchen, Preßgasse 25, 1040 Wien, geöffnet samstags 14-18 Uhr oder auf Anfrage.

Foto: Peter Rigaud; Illustration: Edith Carron