Nächste Ausfahrt, bitte

Der Weg ist das Ziel, auch bei der Fahrt in den Urlaub: Warum es sich lohnt, mehr Zeit für die Zwischenstopps einer Reise einzuplanen.

Auch längere Unterbrechungen müssen eine Reise nicht trüben, solange die Vorbereitung stimmt.

Foto: Leonardo Setti

Einer Erkenntnis liegt oft ein Schreck zugrunde. So wie diese 1808 Kilometer, die mir Google Maps anzeigt, als ich die Entfernung zwischen München und Palermo mit dem Auto erfrage. 1808 Kilometer, knapp 20 Stunden Reisezeit, das schaffen wir nie mit zwei kleinen Kindern, sage ich. »Doch das Flugzeug nehmen?«, fragt mein Mann vorsichtig, »Ryanair fliegt echt günstig ab Nürnberg …« – »Nee, wir haben doch gesagt, wir fliegen nicht mehr innerhalb von Europa.«

Dann halt doch wieder von München in die Berge, denke ich und hole den alten Diercke-Weltatlas aus dem Regal. Ich schlage die Europa-Übersicht auf und lege ihn in die Mitte des Esstisches. »Was ist das?«, will meine Tochter wissen und fährt mit ihrem Zeigefinger über den italienischen Stiefelschaft. »Italien.« – »Und wo wohnen wir genau?« – »Da.« – »Überhaupt nicht so weit also«, sagt das Kind. Wir lachen. Tatsächlich sehen die 1808 Kilometer auf der kleinen Karte gar nicht mehr so schlimm aus.

Die meisten Einschätzungen im Leben sind ja eine Frage der Umstände, in denen man sich gerade befindet. Auf das Reisen trifft das ganz besonders zu: Wie viel Zeit hat man? Wie viel Geld? Ist ein Auto da? Gilt es, ein großes Meer oder Gebirge zu überwinden? Reisen Kinder oder ältere Menschen mit? Und, ganz entscheidend, was will man erleben?

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Fast zwei Jahrzehnte lang dachte ich, ich müsste mindestens einmal im Jahr richtig weit weg von zu Hause, um Abstand vom Alltag zu gewinnen. Wenn ich es mir leisten konnte, flog ich. War das Konto leer, nahm ich einen Zug an den Atlantik oder teilte mir mit anderen ein Auto, um nach Schweden oder Griechenland zu kommen. Zur Reisevorbereitung gehörte dann, dass ich alle Bekannten, die an der Strecke wohnten, per SMS oder Facebook fragte, ob ich eine Nacht auf dem Sofa schlafen dürfe.

So besuchte ich auf dem Weg nach Bordeaux für je einen Abend einen alten Klassenkameraden in Basel und eine Freundin in Lyon – und der Urlaub hatte begonnen, bevor ich das Meer erreichte. Mit Rotwein-Gesprächen am Küchentisch, einem Sprung in den Rhein, einem Konzert am Ufer der Saône und Milchkaffee im Klappcouch-Bett. Dass ich für die Hinfahrt drei Tage brauchte – geschenkt. Die Zwischenstopps waren nicht lästig, sondern gehörten zum Schönsten am Urlaub. Noch dazu fühlte dieser Urlaub sich durch all die Gesichter und Geschichten noch viel länger an als die paar Tage am Atlantik.

Aber wenn wir am Ziel der Reise angekommen sind oder die teure Uhr am Handgelenk tragen, sinkt der Dopaminlevel drastisch

Das Erwachsenen-Dasein bringt aber oft zwei Dinge mit sich, die dieser Form des Reisens entgegenstehen. Erstens Zeitnot. Zweitens ein besser gefülltes Konto. Beides in Kombination führt bei vielen Menschen dazu, dass sie für den Weg zu und von einem Reiseziel nicht zwei, drei Tage einplanen, sondern nur ein paar Stunden (die Flugzeit von München nach Palermo beträgt nicht mal zwei).

Das ist praktisch, klar. Aber nicht unbedingt gut. Der US-Verhaltenswissenschaftler Daniel Z. Lieberman erklärte mir mal in einem Interview, warum wir Vorfreude oft als schönste Freude empfinden: Solange wir etwas planen und uns darauf freuen, egal ob es eine Reise ist oder der Kauf einer tollen Uhr, surfen wir auf einer selbst gemachten Dopaminwelle. Dieser Neurotransmitter ist ein elementarer Bestandteil des Belohnungssystems im Gehirn. Er sorgt dafür, dass wir uns überhaupt dazu motivieren können, etwas zu tun, das uns später gefallen wird. Und dann wird er ausgeschüttet, sobald wir etwas erreicht haben, sodass wir uns kurzzeitig großartig fühlen.

Aber wenn wir am Ziel der Reise angekommen sind oder die teure Uhr am Handgelenk tragen, sinkt der Dopaminlevel drastisch – und es erscheint alles nicht mehr so toll wie erhofft. Dann ist eine Uhr nur eine Uhr, und auf Sizilien regnet es auch manchmal.

Wenn ich mir die Reisen von früher zum Vorbild nehme, bei denen der Weg mindestens ein Teilziel war, gibt es jetzt nur ein Problem: Da hatte ich keine Kinder. Was mich zum Ausgangsproblem dieser Überlegungen zurückbringt: Wie schafft man 1808 Kilo­meter mit zwei kleinen Kindern hinten drin, ohne unterwegs durchzudrehen?

»Hol mal einen dicken schwarzen Filzstift«, sage ich zu meiner Tochter, während wir über dem alten Diercke lehnen. »Und jetzt verbinde München mit Palermo, aber bleib die ganze Zeit auf dem Festland.« Konzentriert arbeitet sie sich den Stiefel nach unten, und als sie fertig ist, schauen wir, welche Städte sie dabei erwischt oder nur knapp verpasst hat: Innsbruck, Verona, Bologna, Perugia, L’Aquila, Campobasso, Potenza, Catanzaro. Die ersten fünf kennen mein Mann und ich, von den letzten dreien haben wir nie gehört, trotz einiger Italien-Urlaube.

In der Nähe von Potenza finden wir über Airbnb einige Zimmer in einem alten Schloss, bei L’Aquila eine Blockhütte, die die Kinder sofort verzückt. Trotzdem reservieren wir nicht, es ist noch etwas hin bis zum Urlaub. Außerdem ahne ich, dass wir auf dem Weg dorthin noch Unerwartetes entdecken können, und schöner als Vorfreude ist vielleicht nur die Vorfreude auf die Vorfreude.