So cool wie Eiskunstlauf

Rebellion und Freiheit: Snowboarden war für unsere Autorin sinnstiftender als jede andere Jugendbewegung. Doch bei den Olympischen Spielen ist von diesem Gefühl nichts mehr zu spüren - Snowboarden ist eine Leistungssportart geworden wie alle anderen auch. Ein Abschied.

Shaun White in der olympischen Halfpipe

Meine ersten Kindheitserinnerungen an Olympische Spiele waren geprägt von zu viel Make-up, Männern in Strumpfhosen und der Lehre, dass man auch nach einem Sturz immer, immer zu lächeln hat. In kurz: Eiskunstlauf. Aufgrund der Begeisterung meiner Mutter verbrachte ich ungezählte Nachmittage mit Einzel- und Paarlauf, beides war für mich eher Pflicht als Kür. Doch mit dem Einsetzen der Pubertät eröffnete sich plötzlich eine ungeahnte Dimension der Abgrenzung gegenüber diesen Pirouettenmaschinen, die nur selten etwas Menschliches unter all dem Chiffon durchblitzen ließen: Snowboarden.

Die Attribute – und Klischees -, die den Brettsport von Anfang an begleitet haben, sind bekannt: Rebellion, Individualität, Freiheit und ein Gemeinschaftsgefühl fernab vom Leistungsgedanken, verpackt in zu weiten Hosen und langen Haaren. Und so abgegriffen sich das heute auch anhören mag - das Snowboard war für mich sinnstiftender als jede Jugendbewegung es hätte sein könnten. Meine Klassenkameraden hatten Kurt Cobain, ich hatte ein Brett aus dem Winterschlussverkauf.

Nie hätte es mein Ego verkraftet, bis weit nach der Volljährigkeit mit meinen Eltern in den Winterurlaub zu fahren, hätte ich nicht den Beweis meiner Andersartigkeit auf dem Weg zur Gondel unter die Achsel klemmen können. Auch wenn sich meine vermeintlich exklusive Nische rasend schnell zum Trendsport entwickelte und ich erkannte, dass ich niemals an die Tricks der Profis herankommen würde, blieb Snowboarden im Kern für mich immer etwas Besonderes.

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Als »Die jungen Wilden« dann 1998 erstmals zu den Olympischen Spielen in Nagano eingeladen wurden, war der Aufschrei in der Szene gewaltig. Terje Haakonsen, der norwegische Lionel Messi des Snowboardens, rief zum Boykott auf, die Fahrer diskutierten heftig, ob das nun Verrat an den eigenen Idealen oder der Triumph derselbigen sei. Mitgefahren sind die meisten trotzdem und ich saß plötzlich wieder vor dem Fernseher, um etwas ungläubig mitzuerleben, wie zum ersten Mal die Nationalhymnen für Meinesgleichen gespielt wurde.

In den ersten Jahren schienen die Snowboarder nur Touristen bei Olympia zu sein: Man fuhr, wie man immer fuhr, nur eben unter den fünf Ringen, und machte sich einen Spaß daraus. Wie der Finne Heikki Sorsa, der sich 2002 einen Irokesen für seinen Halfpipe-Run hinfrisierte. Snowboarder zu Besuch bei Athleten.

Doch das änderte sich; zunächst langsam, unter dem Etikett des sportlichen Fortschritts dann immer schneller. Und hatte ich anfangs noch jede zusätzliche Körperumdrehung gefeiert, verschwand nun immer mehr von dem, was Snowboarden für mich ausmachte. Dass ich die Nullerjahre als Redakteurin eines Snowboardmagazins auch beruflich zwischen immer waghalsiger werdenden Contest-Runs verbrachte, machte die Sache nicht besser.

Seitdem werde ich ein ums andere Mal von einer Art olympischem Regelschmerz heimgesucht. Alle vier Jahre geht es nur noch darum, welcher Event als Olympiaqualifikation dient und welchen man lieber auslässt, um kein Verletzungsrisiko einzugehen. So wie bei den Eiskunstläufern. Und den Biathleten. Und allen anderen leistungsorientierten Sportarten. Dass die Fahrer heute nicht mehr von der Party direkt an den Start gehen, sondern früh ins Bett und sich über die richtige Ernährung und das effektivste Training im Sommer austauschen, ist nicht nur gesund, sondern überlebenswichtig.
Der Sturz des US-Amerikaners Kevin Pearce 2009, der sich beim Training für Olympia ein schweres Schädelhirntrauma zuzog und wieder sprechen, laufen, sogar schlucken lernen musste, war ein Schock. Aber die lebensbedrohliche Leberverletzung des Japaners Ayumo Hirano letzten März oder die Hirnblutung des Schweizers Iouri Podladtchikov, die dessen Medaillenhoffnung für Pyeongchang Ende Januar beendeten, überraschen inzwischen niemanden mehr. Denn das Trickrepertoire hat sich so sehr an die Grenzen der Physik angenähert, dass man über den doppelten Axel oder den dreifachen Rittberger nur lächeln kann.

Mit Irokesenfrisur zu fahren, kommt heute allein deswegen nicht in Frage, weil keiner der Top-Fahrer ohne Helm unterwegs ist – Pflicht hin oder her.

In sportlicher Hinsicht sind solche Leistungen natürlich beeindruckend. Ich kann mich nicht viermal in der Luft um die eigene Achse drehen – nicht einmal ohne Brett an den Füßen. Aber mal abgesehen vom Risikofaktor geht dabei etwas verloren, was ursprünglich wichtiger war als jede Rotation: die Ästhetik, »der Style«.

Wer versucht, sich so oft wie möglich um die eigene Achse zu drehen, kann schließlich weniger lang ans Brett greifen oder sich mit dem Körper so in die Luft hängen, dass es auch eine gute B-Note bringen würde. Inzwischen gewinnt selten jemand, weil er ansehnlich gefahren ist, sondern es ist herausragend, wenn jemand gewinnt, obwohl er beim Spin-To-Win auch Stil hatte.

Mit vielen der Fahrer, die gerade in Südkorea sind, bin ich die letzten 15 Jahre in kanadischen Wäldern oder japanischem Tiefschnee unterwegs gewesen. Jedem Einzelnen wünsche ich eine Medaille, doch genauso sehr wünsche ich mir, dass mehr Menschen sehen würden, wie unfassbar schön sich diese Leute in den Himmel drapieren können, wenn sie nicht dem Wertungskatalog von Juroren entsprechen müssen und der Druck eines nationalen Kaders auf ihnen lastet.

Ich weiß, die durch Olympia garantierte Sendezeit und die damit verbundenen Sponsorengelder sind wichtig. Doch wenn ich heute zu nachtschlafener Pyeongchanger Ortszeit den Fernseher einschalte, um das Halfpipe-Finale zu sehen, werde ich mit Wehmut an die Zeit zurückdenken, als die Sportler, die sich monatelang gegeißelt und in gleichgeschalteter Kleidung zum Start marschiert sind, die Anderen waren. Die schwindelerregenden 1440er-Rotationen von Medaillenfavoriten wie dem US-Amerikaner Shaun White werden mich an die Pirouetten erinnern, die ich als Kind bei Tonya Harding schon nicht verstanden habe.

Einen kleinen Trost gibt es allerdings. Hat ein Fahrer eine Landung verpatzt und nicht mehr genug Geschwindigkeit oder weiß, dass der Lauf ohnehin nicht gewertet wird, dann, dann wird die Art von Snowboarden gezeigt, bei der mir immer noch das Herz aufgeht: vermeintlich einfache Airs, ganz ohne Drehungen, nur mit viel Style und nicht für die Juroren. Oder der Moment, wenn ein Letztplatzierter am Ende der Halfpipe mit aller Kraft die Fersen in die Steilwand haut und – BÄMM - eine Ladung Schnee hinaus feuert. Oder nach einem Sturz mit Absicht auf dem Bauch in den Zielbereich herunterrutscht und dazu mit den Armen Schwimmbewegungen macht. Solche Sachen. Dann ist der Spaß wieder da, und die Fünfzehnjährige in mir versöhnt.
Denn in der vermeintlichen Niederlage zeigt sich, dass dem Snowboarden trotz allem olympischen Ernst noch etwas geblieben ist, weswegen es sich wach zu bleiben lohnt.

Foto: Getty