Das Beste aus aller Welt

Diese Woche fragt sich unser Kolumnist, ob alle guten (und erst recht die bösen!) Erlebnisse vom lieben Gott dosiert auf die Erde geschickt werden. Und: ob wir darüber froh sein sollten - oder unglücklich.

Ich sitze am Schreibtisch, vor mir ein Foto von Mick Wilary. Mick Wilary sitzt in einem Rollstuhl, seine Beine sind hochgelagert, die Hosenbeine über die Waden aufgekrempelt, er sieht mich aus dem Foto heraus irgendwie bekümmert an. Wilary ist 58 Jahre alt und Landwirtschaftshelfer von Beruf, bloß kann er den Beruf jetzt nicht ausüben.

Im März ist ihm bei der Arbeit ein Unfall passiert, er schaufelte Tierfutter in die Schaufel eines Laders, als der Lader plötzlich vorwärts rollte und ihn gegen eine Wand drückte. Er konnte sich nicht befreien, es dauerte ein bisschen, bis Hilfe kam, und als man den Schaufellader endlich rückwärts fuhr, lag Mick Wilarys linkes Bein über seiner Schulter, und das rechte Bein war nach hinten gedreht. Also, die Sache sah nicht richtig gut aus für unseren Mann. Er fragte den Notarzt, ob er eine Zigarette für ihn habe, und der Notarzt musste lachen. Und jetzt sehe ich ihn auf dem Foto, und die Beine sehen insgesamt okay aus und das sind sie auch. Die Ärzte hätten ein Wunder vollbracht, sagt Mick, es wird sechs Monate dauern, dann wird er wieder auf diesen Beinen sein, mal sehen, was dann passiert. Man kann ziemlich sicher sein, dass wieder etwas passiert.

Wilary ist nämlich ein richtiger Unfallmagnet, er zieht Unfälle an wie George Clooney die Frauen oder Arjen Robben die Bälle. In 58 Jahren hat er sich schon das Schlüsselbein, praktisch alle Finger und eine erkleckliche Anzahl seiner Rippen gebrochen, dazu beide Sprunggelenke je zwei Mal. Einmal hat er sich eine riesige Kopfwunde zugezogen, als er, einen Ballen Heu auf der Gabel, über eine Katze stolperte und dann eine Treppe hinunterstürzte. Ein anderes Mal schnitt er sich eine Fingerspitze ab, als er an einem Stock schnitzte, von den zahlreichen Verletzungen durch Tritte der von ihm betreuten Kühe nicht zu reden, eine Tatsache, die einem den Charakter der Kühe als solcher im Zwielicht erscheinen lässt: Blöde kauend auf Wiesen lümmeln und das Gras zufladen, das können sie, und wenn ein anständiger Kerl vorbeikommt, der ihnen den Mist weglöffelt, dann treten sie zu.

Meistgelesen diese Woche:

Ist es nicht so, dass wir alle diesem Wilary dankbar sein müssen? Wenn man davon ausgeht, dass es Jahr für Jahr auf Erden eine gewisse, vom Herrgott oder seinen Mitarbeitern festgelegte Zahl von Unfällen gibt, dann ist es großartig, dass Wilary einen großen Anteil davon auf sich nimmt und ermöglicht, dass andere verschont bleiben. Wie ich auch finde, dass die Menschheit einem Mann wie mir etwas schuldet: Wann immer ich mich einem Fahrkartenautomaten nähere, ist er defekt; welche Hotline ich auch anwähle, sie ist besetzt; vor welcher Supermarktkasse ich anstehe, meine Schlange ist die längste; welche Autobahn ich befahre, sie ist am verkehrsreichsten. Alles, was mir passiert, kann niemand anderem passieren. Ich nehme es von anderen weg auf mich, unfreiwillig, aber doch. Da wäre ab und zu ein nettes Wort angebracht, finde ich.

Übrigens finde ich die Idee interessant, dass es von allem auf der Welt (in Wilarys Fall von Unfällen) immer jeweils nur eine gewisse begrenzte Menge gibt. Auf den Golfspieler Tiger Woods gewendet, würde sie bedeuten, dass auch die Menge an Sex auf Erden endlich ist und dass viele Amerikaner deshalb so wütend auf Woods sind, weil er ihnen ihr Quantum Sex weggenommen und für sich verbraucht hat. Deshalb – aus blankem Neid also! – musste er sich selbst in eine »Sexklinik« einweisen.

Doch was, fragt Leser K. aus Hamburg, geschieht in einer »Sexklinik«?
Ich weiß es nicht. Ich kann es mir nur vorstellen. Also stelle ich mir vor, dass die Klinik von Angestellten bevölkert ist, die alle eine gewisse Ähnlichkeit mit Tiger Woods’ Mutter haben. Des Weiteren: Woods muss dort noch mehr Golf spielen als ohnehin, denn wer Golf spielt, kann zumindest in dieser Zeit keinen Sex haben. Drittens sind golffreie Abende gefüllt von Vorträgen wie »Warum ein Driver manchmal nur ein Driver ist«, Betrachtungen von Sammlungen alter Granitsteine sowie guten Gesprächen, immer wieder unterbrochen von ausgiebigen kalten Duschen.

Illustration: Dirk Schmidt