»Ich kann mir keine erfüllendere Arbeit für einen Musiker vorstellen«

Zum 250. Geburtstag Ludwig van Beethovens im Jahr 2020 beauftragt die Bonner Pianistin Susanne Kessel 250 Komponisten, ihm ein Ständchen zu schreiben – darunter der Keyboarder von David Bowie und der Bandleader von Harald Schmidt.

250 Stücke für Beethoven – wie, wann und wem wollen Sie die denn überreichen?
Susanne Kessel: Allen Beethovenliebhabern – bei vielen Konzerten, mit einer Notenedition und auf CD. Dieses Geburtstagsgeschenk ist ein lebendiger Prozess, der über mehrere Jahre ablaufen wird und auch nach Beethovens 250. Geburtstag im Dezember 2020 Bestand haben soll. Die gesamte Musikwelt steuert ja auf diesen Geburtstag zu. Wir haben mit dem Feiern einfach schon jetzt angefangen.

Wie meinen Sie das?
Ich habe 2013 die ersten Komponisten eingeladen, jeweils ein Werk zu komponieren, das sich auf Beethovens Musik oder seine Person bezieht. Mehr als 50 der bisher eingetroffenen Stücke habe ich schon in Bonn uraufgeführt und auch in anderen Städten gespielt, zum Beispiel in Paris und Hamburg. Durch die Notenedition, in der alle Stücke veröffentlicht werden, werden immer mehr Menschen mit einbezogen. Bis 2020 lade ich weitere Komponisten ein, mitzumachen. Zum eigentlichen Geburtstag sollen die 250 Werke dann komplett sein.

Hätte es nicht eine Nummer kleiner sein können?

Im Gegenteil. Beethoven war ein unfassbares Genie, und er ist heute der weltweit meistgespielte Komponist. Die Zahl 250 ist natürlich zum einen symbolisch zu sehen, aber sie steht auch für enorme musikalische Vielfalt. Ich habe mich gefragt, worüber sich Beethoven an seinem 250. Geburtstag am meisten freuen würde. Er wäre wahrscheinlich sehr interessiert daran, Werke seiner »Kollegen« kennenzulernen. Und er wäre sicher überrascht, zu erfahren, wie vielfältig die Musik heute ist.

Inwiefern?
So viele verschiedene Stile und Genres wie heute gab es nie zuvor, auch in Beethovens Zeit nicht. Der Schwerpunkt meines Projekts liegt auf der sogenannten Neuen Musik, aber ich lade auch Komponisten anderer Genres ein. Gemeinsam ist allen Stücken eine spürbare Liebe und Verbundenheit zu Beethovens Werk. Aber jeder Komponist ist natürlich auf seine eigene Weise durch Beethoven inspiriert.

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Wie zum Beispiel?
York Höller, einer der großen deutschen Komponisten zeitgenössischer Musik, hat aus den vertonbaren Buchstaben in Beethovens Vor- und Zunamen Motive gebildet und ein Stück geschrieben, das in seiner Rhythmik und Kompositionstechnik deutlich an Beethoven erinnert, aber dennoch eine ganz moderne, eigene Musiksprache besitzt. Der Titel »Weit entfernt und doch so nah«, könnte übrigens auch ein guter Arbeitstitel fürs gesamte Projekt sein. Das Stück des Münchener Komponisten Moritz Eggert heißt »Abweichung«. Eggert ist jemand, der selbst mit seinem kompositorischen Werk stilistische Grenzen überschreitet. Sein Stück bezieht sich weniger auf Beethovens Tonmaterial als auf Beethovens Freiheitsliebe. Beethoven war stets auf der Suche nach Neuem, er wollte zudem als Künstler unabhängig sein. Dieses »Abweichen« ist ein wichtiges Erbe, das er uns hinterlassen hat.

Sie haben aber auch Komponisten eingeladen, die eher dem Pop oder der Elektronischen Musik zuzuordnen sind.
Ja, zum Beispiel Mike Garson, Pianist und Keyboarder unter anderem von David Bowie, darüber bin ich als Bowie-Fan tief gerührt. Er hat sofort zugesagt und mir innerhalb weniger Tage sein Stück geschickt. Er hat eine jazzige Version des zweiten Satzes von Beethovens Sonate Pathétique komponiert. Auch Gershon Kingsley, der berühmte Moog-Synthesizer-Komponist des Superhits »Popcorn« aus dem Jahr 1969 ist dabei mit einem für seinen Stil sehr typischen Beitrag, es heißt »Beethoviana«. Helmut Zerlett, die meisten kennen ihn als Bandleader aus der Harald-Schmidt-Show, hat wieder was anderes gemacht. Er hat sich auf den ersten Satz von Beethovens Mondscheinsonate konzentriert und daraus den ersten Akkord verwendet. Entstanden ist ein meditatives, stilles Stück. Es klingt ein wenig so, als höre man jemandem live beim Komponieren am Klavier zu.

Susanne Kessel

Für eine Komposition mussten Sie sogar einen Beethoven bauen.
Ja, Georg Nussbaumer, ein österreichischer Komponist, schickte mir ein frühes Beethoven-Menuett und dazu die Zeichnung einer Mini-Beethovenbüste mit bleigefülltem Sockel, die zur Aufführung des Stückes benötigt wird. Den Sockel musste ich allerdings erst selbst anfertigen. Diese Beethovenbüste wird genau nach Notation vom Pianisten über die Tasten geführt, während er das Menuett spielt, und drückt durch ihr Gewicht einige Tasten stumm herunter. Beethoven steht quasi während des Stücks im Weg und »stört« sein eigenes Stück. Der Bleisockel ist unter anderem auch als Anspielung auf Beethovens Todesursache gedacht, denn man vermutet, dass er an einer Bleivergiftung starb.

Ihre Künstlerauswahl ist sehr vielfältig, wo ist denn da der rote Faden?
Der rote Faden ist die Darstellung der Vielfalt selbst. Ich stelle mir vor, Beethoven käme an seinem 250. Geburtstag zurück ins Leben und wir könnten ihm die Musikwelt des frühen 21. Jahrhunderts vor Augen führen. Und welche Rolle er selbst für die heute lebenden Komponisten noch spielt. Das macht mich mutig, was die Verschiedenartigkeit der Komponisten betrifft. Aber es gibt noch einen weiteren roten Faden: Die Komponisten müssen eine gewisse Relevanz im heutigen Musikleben haben.

Was verstehen Sie darunter?
Relevanz bezieht sich darauf, dass jemand den musikalischen Bereich, in dem er arbeitet, weiterentwickelt oder prägt. Man denkt beim Beruf des Komponisten oft zuerst an bekannte Namen des zeitgenössischen, »klassischen« Konzertlebens. Relevant für unsere heutige Kultur sind daneben aber auch Komponisten, deren Musik wir tagtäglich begegnen, deren Namen uns aber vielleicht nicht geläufig sind. Es gibt TV- und Filmkomponisten, von denen man als Laie manchmal eher die Filmtitel kennt als den Namen. Relevanz ist für mich der Faktor, nach dem ich auswähle bei der Fragestellung »Wen möchte ich Beethoven gerne vorstellen?«.

Ist das auch der Grund, dass Sie Ihr Projekt im Alleingang machen?
Wenn Sie damit meinen, dass ich sowohl bei der Einladung der Komponisten als auch bei inhaltlichen Entscheidungen keinem Auftraggeber verpflichtet bin, haben Sie Recht. Auch das kann man von Beethoven lernen: Freiheit der Kunst. Es entsteht durch das Projekt ein freundschaftlich-künstlerisches Netzwerk, so etwas ist unbezahlbar. Dass ich das Projekt organisiere und auch die Stücke spiele, ist einfach der kürzestmögliche Kommunikationsweg zwischen allen Beteiligten. Ein kurzer Anruf, und die Sache ist geregelt. Das funktioniert irritierend gut.

Wie treten Sie mit all diesen Komponisten Kontakt?
Viele kenne ich aus meiner Arbeit der vergangenen Jahre persönlich, mit diesen habe ich natürlich als erste angefangen zu arbeiten. Nun hat das Projekt eine Phase erreicht, in der ich auch Komponisten anspreche, die ich vielleicht nur durch ihr Werk kenne. Meist geht das ganz gut übers Internet. Ich habe noch eine lange Liste. Das Projekt läuft ja noch einige Jahre.

Und die Komponisten machen immer sofort mit?
Allein die Reaktionen der Komponisten auf meine Anrufe und Emails zu erleben, ist den ganzen Aufwand für mich schon wert. Und natürlich der Moment wenn eine neue Komposition bei mir ankommt. Oder wenn die Komponisten auf eigene Kosten aus dem Ausland zu den Piano-pieces-Konzerten nach Bonn anreisen, um dabei zu sein. Alle stellen mir ihre Komposition honorarfrei zur Verfügung.

Sie machen die Uraufführungen all dieser doch sehr unterschiedlichen Stücke selbst, worin genau liegt da die Herausforderung für Sie als Pianistin?
Jedes Stück ist ein Unikat. Darin liegt für mich der Reiz, aber auch eine enorme Verantwortung, denn ich bringe das Werk ja in die Öffentlichkeit. Ich arbeite mit jedem Komponisten so lange, live oder übers Internet, bis wir das Gefühl haben, dass ich es uraufführen kann. Jede Partitur sieht anders aus, jedes Werk erfordert ein anderes Spielgefühl, eine ganz eigene innere Haltung. Einige Stücke sind spieltechnisch sehr kompliziert, andere sind leichter zu spielen. Ich kann mir ehrlich gesagt keine erfüllendere Arbeit für einen Musiker vorstellen als seine künstlerischen Fähigkeiten den Komponisten seiner Zeit zur Verfügung zu stellen.

Welchen Langzeiteffekt soll Ihr Projekt haben?
Ich wünsche mir, dass Bonn zu einem Anziehungspunkt auch für Komponisten wird. Und ich wünsche mir, dass einige der 250 Klavierstücke vielleicht irgendwann zum festen Repertoire auch anderer Konzertpianisten gehören. Von einigen Zuhörern im Publikum weiß ich, dass sie sich bisher wenig auf Neue Musik eingelassen haben. Wenn es um Beethoven geht, tun sie das auf einmal mit Begeisterung und Neugier.

Und was planen Sie für Beethovens eigentliches Geburtstagsjahr 2020?
Ich denke an einen Konzertmarathon mit allen Stücken. Wie genau der aussehen wird, weiß ich noch nicht genau. Ich hoffe, dass viele der Komponisten 2020 aus aller Welt persönlich anreisen und in Bonn mitfeiern werden.

Fotos: kallejipp / photocase.de; Bernd Zöllner