Knallbunter Gehirnfrost

Slushis erinnern unseren Autor an seine Jugend. Und stellen ihn beim Schlürfen und kurzen Einfrieren noch immer vor die Frage: Was willst du eigentlich vom Leben?

Foto: Erli Grünzweil

Wir machen einen Familienausflug, eine Tour mit dem Auto durch das Safariland Stukenbrock. Gerade fahren wir durch ein Löwengehege. Das Männchen liegt regungslos auf einer Plattform, als wäre es gerade in eine Büffelherde geschubst worden. Das Weibchen ist nicht zu sehen. Bisher war das Aufregendste, dass ein Elefant uns vor die Karre gekackt hat. Dabei haben wir übersehen, dass die wohl interessanteste Spezies hier mit uns im Auto sitzt.

Ihr Lebensraum ist über den Globus verteilt. Sie hat invasive Tendenzen und kann ohne erkennbare Anstrengung das Ökosystem einer mehrköpfigen Familie auf den Kopf stellen. Dieses Exemplar ist 15 Jahre alt und heißt Nina. Sie ist meine Cousine und hat gerade Sommerferien. Man kann das Alter anhand des übergroßen Kapuzenpullovers bestimmen, in dem der eher schlanke Körper nur einen kleinen Teil einnimmt. Der Rest ist blankes, manifestiertes Unverständnis für die Welt.

Ein weiteres Merkmal sind die Laute. »Bre«, sagt sie und stupst mich mit dem Finger an. »Bre. Bre. Bre.« Sie spricht es mit langem E aus. Breee. Wir haben früher Bro gesagt, danach kam Bra. Ich frage mich, was nachfolgende Generationen sagen, wenn alle Vokale aufgebraucht sind. »Bre. Ich hab Durst.« Wir fahren in den Vergnügungsbereich. Karussells, Wurstbuden, kleine Ziegen. An einem Stand schreit Nina auf. Ich versuche zu erfassen, was ihr derart Freude bereitet. Ich starre in eine Spirale, die eine blaue Masse dreht und dreht und dreht.

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»Probier mal«, sagt sie und hält mir einen Becher hin. Nina hat einen Slushi-Mix aus zwei Sorten geholt, Blaue Himbeere und Waldmeister, eigentlich nichts als halb gefrorene Limo. Sie rührt mit einem Strohhalm herum, und die Flüssigkeit nimmt die Farbe an, die entsteht, wenn man im Malkasten alle Farben zusammenmischt.

Ich sauge am Strohhalm und bereue es sofort. Eine Sekunde später vereist mein Gehirn

Ob sich Milliardäre so fühlen, wenn sie sich von Kryonik-Firmen einfrieren lassen? Wenn ich an 15-Jährige denke, sehe ich junge Menschen vor mir, die fürs Klima protestieren, die Petitionen auf Tiktok teilen, sich »engagieren«. Sie wissen genau, dass ­etwas schiefläuft da draußen. Nina ist nicht so. Noch nicht. Irgendwie beruhigt mich das. Sie zockt Videospiele, bis ihre Mutter das Wlan abstellt. Gerade denken alle, dass Nina und Emil (bester Freund) zusammen sind, was aber gar nicht sein kann, weil Emil schwul ist, das sagt er zwar nicht, aber sie weiß es, weil Emil sagte, dass er Dominik süß findet, und immer mit <3 schreibt, und Nina findet Dominik nett, aber hässlich. Na ja, whatever.

Was wichtiger ist: Nina sucht einen Ferienjob. »Weißt du eigentlich schon, was du später mal machen willst?«, frage ich. »Nein! Das ist ja das Problem!« Ich lache. »Du bist doch 15!« – »GENAU!«, ruft sie und fuchtelt mit dem Strohhalm: »Schon!«

Ich weiß nicht, ab wann es verpönt war, keinen Plan vom Leben zu haben. Als ich 15 war, kamen jedes Jahr Berufsberater in die Schule und machten alle kirre. Ich habe nichts gegen Ziele. Aber was ist bitte schief­gelaufen, dass 15-Jährige schon Torschlusspanik haben? Mit 15 sitzt man im Wartezimmer des Lebens, zeigt einander Videos von Bottle Flips, bis ein Mann in schlecht sitzendem Anzug die Tür zum Erwachsensein aufmacht und man checkt: Hier ist es doch nicht so toll. Also lieber noch ein bisschen warten.

»Alles gut?«, fragt Nina, nachdem ich gefühlte zehn Minuten lang eingefroren war. »Äh, ja«, sage ich. »Ist nur kalt.« Ich trinke noch einen Schluck. Was will ICH überhaupt im Leben? Ach, darüber mache ich mir Sorgen, wenn ich mit den Milliardären ­irgendwann wieder aufwache, aus dem tiefen Schlaf im Eis.