Oscar Niemeyers Wohnzimmer ist an diesem Morgen von Lärm und Staub erfüllt. Arbeiter tragen Baumaterial herein und bohren Löcher in die Decke. Im Hintergrund hört man die Stimmen von Dienstmädchen und Krankenschwestern. Der 99-jährige Hausherr hat sich, um dem Trubel zu entgehen, in sein winziges Schlafzimmer zurückgezogen. Vor einigen Monaten hat er sich mehrfach die Hüfte gebrochen, eine Verletzung, die ihm immer noch zu schaffen macht. Trotzdem arbeitet Niemeyer weiter. Mehrere seiner Bauprojekte befinden sich gerade in unterschiedlichen Stadien der Realisierung, jeden Tag fertigt der legendäre Architekt neue Entwürfe an. Zum Beweis hält er seinen Block mit einer Zeichnung hoch – ein unentwirrbares Gekritzel. »Niemand versteht Architekturzeichnungen wirklich«, erklärt Niemeyer mit schwacher Stimme. »Vor allem Politiker. Wenn sie Architektur überhaupt verstehen, dann nur über Texte.«
Im Dezember wird Niemeyer hundert, schon jetzt ist er wohl der älteste aktive Architekt, den es je gab. Wie wird die große Ausstellung zu seinem hundertsten Geburtstag aussehen? »Voller Überraschungen«, betont Niemeyer, der im Pyjama in einem Sessel sitzt und eine Mischung aus Französisch und Portugiesisch spricht. Zu einer Überraschung ganz anderer Art kam es im November vergangenen Jahres, als Niemeyer kurz vor seinem 99. Geburtstag zum zweiten Mal heiratete. Tochter Anna-Maria, selbst schon über sechzig, erfuhr erst ein paar Stunden vorher von der Zeremonie und reagierte verstimmt. Das ficht den Vater nicht an: »Ein Mann braucht eine Frau an seiner Seite, alles Übrige liegt in Gottes Hand«, erklärt der Atheist Niemeyer schmunzelnd und blickt zufrieden zu seiner Gattin Vera hinüber, die gerade das Zimmer betritt, um sich für die »große Verwirrung« im Haus zu entschuldigen. Vera Lucia Cabreira, kürzlich sechzig geworden, ist Niemeyers langjährige Sekretärin und Geliebte. Ich gratuliere den frisch Vermählten. Niemeyer und ich einigen uns darauf, vor allem über die Zukunft zu sprechen. Ihm scheint dieser Gedanke zu gefallen, schließlich muss man, wenn man bald hundert Jahre alt wird, »ein paar Dinge regeln, ein paar Sachen in Ordnung bringen«. Kürzlich hat Niemeyer in einer brasilianischen Zeitung sogar ein Manifest mit dem Titel Über die Zukunft publiziert. Doch bei unserem Gespräch geht er immer wieder auf die Vergangenheit ein – kein Wunder, wenn man auf ein über siebzig Jahre währendes Berufsleben zurückblickt. Das Architekten-Examen bestand Niemeyer 1934, bereits drei Jahre später entwarf er zusammen mit Le Corbusier und Lúcio Costa seinen ersten Großbau, das Gesundheits- und Erziehungsministerium in Rio de Janeiro.
Nach dem Krieg war er unter anderem am Bau der UN-Zentrale in New York beteiligt, dauerhaften Ruhm brachten ihm schließlich zahlreiche Bauten in der neuen Hauptstadt Brasilia, die ab 1957 errichtet wurde. Als das brasilianische Militär 1964 die Macht übernahm, fand der überzeugte Kommunist neue Auftraggeber in Europa und Algerien; das Exil war für Niemeyer gleichzeitig eine Art Rückkehr zu seinen Wurzeln – der gebürtige Brasilianer hat deutsche, arabische und portugiesische Vorfahren. Den Uni-Campus in Constantine/Algerien, sagt er gerade, sieht er inzwischen als eine seiner größten Leistungen an. Eine weitere Überraschung; noch vor Kurzem hatte Niemeyer auf dieselbe Frage geantwortet, sein bestes Bauwerk sei ein aus Kirche, Kasino und Yachtclub bestehendes Ensemble in Pampulha nahe der brasilianischen Stadt Belo Horizonte. Bemerkenswert ist sicherlich auch das radikal sinnliche Museum für moderne Kunst in Niterói, 1996 eröffnet, in dessen dramatischen Wölbungen ein weiteres Mal Niemeyers Vorliebe für geschwungene Gebäudeformen deutlich wird, welche von den Kurven der Bergketten um Rio und jenen der brasilianischen Frauen inspiriert sind; dafür prägte er den Slogan »form follows feminine«, Weiblichkeit prägt die Formen.
Aber was ist nun mit der Zukunft, Senhor Niemeyer? Da erzählt der Architekt von seiner neuen Skulptur, einem Geschenk an Fidel Castro, das dieser Tage in Havanna aufgestellt wird. Das Denkmal zeigt einen kleinen Kubaner, der mit einer Fahnenstange in der Hand eine Art Monster angreift, welches den US-Imperialismus darstellen soll. Kaum fällt der Name George W. Bush, verzerrt sich Niemeyers Gesicht hasserfüllt. »Bush ist ein Niemand, er existiert gar nicht«, krächzt er. Wie die meisten Linken ist Niemeyer erfreut über den politischen Umschwung in Lateinamerika, über die Erfolge seiner Freunde Hugo Chávez in Venezuela und Evo Morales in Bolivien. Solche Politiker, meint Niemeyer, seien letztlich wichtigere gesellschaftliche Akteure als Architekten. »Genau wie die Dichtung kann die Architektur die Welt nicht allein verändern«, sagt er in einem resignierten Ton.
Die älteste Freundschaft verbindet ihn jedoch mit Fidel Castro, der zu sagen pflegt, er selbst und Niemeyer seien »die letzten Kommunisten auf diesem Planeten«. Ohne mit der Wimper zu zucken kramt Niemeyer eine Anekdote hervor, die er schon oft erzählt hat: »Ich habe mich immer geweigert zu fliegen. Also reiste Fidel nach Rio, um mich zu treffen. Wir wollten in mein Büro, aber es war schon nach Mitternacht und der Aufzug war außer Betrieb. Also mussten wir einen Nachbarn aufwecken, um durch seine Wohnung zum Service-Aufzug zu gelangen. Der Mann öffnete die Tür – und sah den baumlangen Fidel direkt vor sich. Er hätte fast einen Herzinfarkt bekommen! Als Fidel das bemerkte, reichte er dem armen Mann mit entschuldigender Geste eine kubanische Zigarre.«
Genau wie im Büro von Brasiliens anderem Architekturgenie, Paulo Mendes da Rocha, findet sich auch bei Niemeyer kein einziger Computer, der technisch wirk-lich leistungsfähig wäre. Ich frage mich, mit welcher Software Niemeyers Ingenieur José Carlos Sussekind und sein Bürochef Jair Valera die Entwürfe des Architekten praktisch umsetzen, der ständig noch größere Spannweiten für seine freischwebenden Stahlbetonkonstruktionen anstrebt und auch jetzt davon murmelt, dass es stets sein Ziel sei, noch ein paar Meter mehr ohne Stützpfeiler zu schaffen. Ist Niemeyers Architektur Form – nichts als Form? »Nein, hier wird die Natur von der Technik eingeholt«, hat sein Büroleiter Valera dazu gesagt. »Wir berechnen Oscars sinnliche Formentwürfe, um sie dann in Architektur umzusetzen.« Niemeyer selbst umschreibt das Verfahren etwas poetischer: »Es geht um Technik auf der Suche nach Schönheit.«
Exemplarisch besichtigen lässt sich dieses Ringen der Kunst mit technischen und wirtschaftlichen Hindernissen an Niemeyers Entwurf für ein Schwimmbad, das gegenüber vom Potsdamer Hauptbahnhof errichtet werden soll. Die im Sommer 2005 vorgestellte Planung sieht vor, die verschiedenen Becken mit elegant geschwungenen Kuppeln zu überkrönen, welche mit einer gläsernen Galerie verbunden sind. In der Lokalpresse wurde der Entwurf »futuristisch« genannt, tatsächlich bezieht er sich auf das Formenrepertoire der klassischen Moderne und belegt dessen dauerhafte Anziehungskraft. Aber wird Niemeyers Bad je gebaut werden? Bald nach Vorstellung des Entwurfs gab es Bedenken wegen der Kosten, und selbst eine abgespeckte Version ohne Tiefgarage und Saunagebäude, die der Architekt anfertigte, ist Brandenburgs Finanzminister noch zu teuer. Das Schicksal des Baus wird sich wohl in diesem Frühjahr entscheiden, wenn der Förderausschuss des Landes Brandenburg darüber berät, ob für das Projekt Zuschüsse im zweistelligen Millionenbereich bewilligt werden.
Niemeyer verfolgt die Querelen aus der Ferne, ohne sich über den ungewissen Fortgang der Geschichte allzu sehr zu erregen. Zu oft hat er erlebt, wie es bei Großprojekten zu Schwierigkeiten kam. Trotzdem hat er kein Interesse daran, kleiner zu denken und beispielsweise Privathäuser für die brasilianische Mittelschicht zu bauen. »Das wäre zu einfach«, knurrt er. Dann fällt ihm noch ein weiteres Gegenargument ein: »Außerdem gibt es immer eine Ehefrau, die gewisse Änderungen an der Innengestaltung ihres Hauses wünscht. Für mich hängen außen und innen eng zusammen, das kann man nicht einfach voneinander trennen.« Seine Frau Vera lacht. War sie es, die den Auftrag für die Bohrungen in der Decke des Wohnzimmers erteilte?
Niemeyer wird müde, seine Stimme versagt: »Ich will weiterhin für die Menschen bauen, zwischenmenschliche Begegnungen fördern. Eine Architektur, die Begegnungen ermöglicht, daran bin ich interessiert.« Während den alten Mann die Kräfte verlassen, denke ich darüber nach, wie die Fachwelt sein Werk beurteilt. Niemeyers Beitrag zur Architektur des 20. Jahrhunderts ist nicht von der Hand zu weisen. Er hat das Programm der internationalen Moderne um volkstümliche und lokale brasilianische Traditionen und Formen vom Kolonialbarock bis zur tropischen Natur bereichert. Das macht die Größe seiner Architektur aus und daraus erklärt sich wohl auch seine Beliebtheit bei zeitgenössischen Designern und Künstlern. Wie manch anderer brasilianischer Kunst-Radikaler, etwa der Musiker Caetano Veloso oder der bildende Künstler Hélio Oiticica, hat Niemeyer einen zugleich lyrischen und volkstümlichen Stil entwickelt.
Eine Krankenschwester kümmert sich um Niemeyer, der soeben eingenickt ist. Ich verabschiede mich von Vera und muss dabei an einen früheren Besuch in dieser Wohnung denken. Vor einigen Jahren begleitete mich der berühmte niederländische Architekt Rem Kohlhaas zu Niemeyer. Eine anstrengende Stunde lang lauschten wir dem Meister, der uns, unaufhörlich skizzierend, die Geschichte seiner Architektur erläuterte. Dann entschloss er sich, ein Nickerchen zu machen. Plötzlich auf uns allein gestellt, schauten wir uns ein wenig in den Räumlichkeiten um. Mit Erfolg: Auf dem Schreibtisch von Niemeyers winzigem Privatbüro entdeckten wir den wahren Ursprung seiner Baukunst: ein schönes großes Schwarz-WeißFoto eines nackten, horizontal hingestreckten Frauentorsos. Die sanfte Wölbung der Vulva, die anmutigen Rundungen des weiblichen Körpers glichen exakt den Umrissen von Niemeyers Bauten.
Auf der anderen Seite des Schreibtisches stand hingegen das Bild eines der Gründungsväter der Kommunistischen Partei Brasiliens. »Niemeyer ist der lebende Beweis dafür«, befand Rem Kohlhaas damals, »dass interessante Architektur Sex und Kommunismus vereint.«