»Die Deutschen haben in den Dreißigern Swing höchster Klasse gespielt«

Der Plattensammler und Musikhistoriker Rainer Lotz im Interview über die von ihm herausgegebene CD-Reihe »Der Jazz in Deutschland«, das Musikleben in der Weimarer Republik und die sagenumwobene Frühgeschichte des Jazz.

Foto: Privat

Herr Lotz, ich dachte immer, der Jazz sei Anfang des 20. Jahrhunderts in New Orleans entstanden. Nun klappe ich Ihre Zwölf-CD-Edition Der Jazz in Deutschland auf – und stoße ganz am Anfang auf ein Musikstück, das bereits im Jahr 1899 von einem deutschen Orchester aufgenommen wurde. Wie kann das Jazz sein?
Kein Mensch weiß, wann der Jazz genau entstanden ist. Aus der Frühzeit gibt es keinerlei Tondokumente. Die ersten Schallplatten, auf denen so etwas wie Jazz zu finden ist, stammen etwa aus dem Jahr 1917. Aber was damals aufkam, hat sich natürlich aus vielen verschiedenen Quellen gespeist. Zu diesen Vorläufern des Jazz gehören auch Tänze afro-amerikanischen Ursprungs, zum Beispiel der Ragtime und der Cake Walk. Die Edition beginnt deshalb mit den frühesten, mir bekannten Aufnahmen, bei denen deutsche Orchester afro-amerikanische Tänze spielen. Und das ging schon zur Kaiserzeit los.

Erstaunlich, dass deutsche Musiker schon so früh von amerikanischer Unterhaltungsmusik fasziniert waren!
Faszination ist nicht das richtige Wort. Sie müssen bedenken, dass große Teile des deutschen Hinterlandes zum Ende des 19. Jahrhunderts völlig verarmt waren. Viele Menschen sind als Wanderarbeiter umhergezogen, oft als Musiker. Es gab ganze Landstriche in Deutschland, die als Musikantenland galten, zum Beispiel die Oberpfalz; da war es Tradition, sich im Ausland zu verdingen.

Sie wollen mir jetzt aber nicht erzählen, dass die Musiker aus der Oberpfalz nach New Orleans gegangen sind und dort den Jazz erfunden haben?!
Zum größten Teil sind die Deutschen nach England gegangen, aber auch in die USA, nach Nordafrika, Siam, eigentlich überall hin. Sie mussten natürlich das musikalische Repertoire draufhaben, das in ihrem Gastland gefragt war. In den USA kamen um diese Zeit zahlreiche neue Tänze auf: Cake Walk, Ragtime, Two Step, Grizzly Bear und so weiter. Die deutschen Musiker mussten diese Musik spielen – und sie haben sie mit zurück nach Deutschland gebracht. Anhand von Notenbüchern kann man nachweisen, wie sich das Repertoire vieler deutscher Kapellen verändert hat, wie die afro-amerikanischen Tänze nach und nach die Walzer, Polkas und Ländler verdrängt haben.

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Ich habe den Eindruck, dass diese Frühgeschichte des Jazz bisher kaum erforscht wurde.
Die ersten Leute, die über Jazz geschrieben haben, waren europäische Schallplattensammler, das war Ende der Zwanziger. Da gab es einen Engländer und einen Franzosen, die haben die ersten Jazz-Diskografien verfasst – ohne zu wissen, dass es vor der Schallplatte noch andere Tonträger wie mechanische Musikautomaten gegeben hatte. Alle kommenden Generationen haben voneinander abgeschrieben, und so ist die ganze Musikgeschichte gewissermaßen verkürzt worden, weil keiner sich mehr an Phonographenwalzen, Musiknotenscheiben, mechanische Klaviere, Pianolas und ähnliches erinnern konnte.

Auf Ihrer CD-Edition sind nun tatsächlich einige Aufnahmen von Klavierrollen zu hören, die mit Hilfe von mechanischen Klavieren abgespielt wurden. Was hat es damit auf sich?
Die mechanischen Klaviere waren eine extrem ausgefeilte Technologie, die in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt wurde. Grob gesagt funktioniert das so: Man spielt auf einem Klavier, aber die Tasten hauen nicht in die Saiten, sondern punzen einen Stachel in eine sich abwickelnde Papierrolle. Mit den Löchern auf diesen Rollen wurde der Verlauf des Stücks festgehalten, und man konnte sie mittels einer speziellen Abspielmechanik wieder zum Klang erwecken; auf den ursprünglichen mechanischen Klavieren allerdings einigermaßen hölzern. Ein Erfinder, Herr Welte aus Freiburg, hat es jedoch fertig gebracht, zusätzliche Signale auf den Rollen zu speichern – die Lautstärke, den Charakter des Anschlags –, so dass man beim Abspielen der Rollen alle Feinheiten hörte, so wie der Pianist sie gespielt hat. Von Weltes Geräten haben nur ganz wenige überlebt. Wir haben uns das gesucht, das am besten restauriert ist, haben in der Nähe von Stuttgart eine Kirche mit guter Akustik gemietet und haben dort die überlebenden Rollen abgespielt.

Wie ist denn die musikalische Qualität dieser Aufnahmen?
Die Creme der Musikwelt ist damals nach Freiburg gefahren, um für Welte aufzunehmen, zum Beispiel so berühmte Komponisten wie Gustav Mahler, Richard Strauss und Claude Debussy. Für die Ragtime-Aufnahmen, die mich interessieren, haben sich die damaligen Top-Leute allerdings nicht hergegeben. Die wurden wahrscheinlich von Musikstudenten eingespielt, die die Musik nur von Noten kannten. Wenn man echten amerikanischen Ragtime von den großen Komponisten wie Scott Joplin hört, dann ist das eine ganz andere Liga. Aber für mich liegt der große Reiz darin, dass die Deutschen damals, als es in den USA losging, zeitgleich dieselbe Musik gemacht haben. Das finde ich atemberaubend.

Auch einige Kuriositäten finden sich auf Ihren CDs, zum Beispiel eine Aufnahme des Wolkowski Balalaika-Trios von 1911 – ein Ensemble, das man nicht ohne weiteres als Jazzband erkennen würde.
Balalaika-Orchester sind eine typisch russische Sache, aber in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg gingen viele russische Musiker ins Ausland; viele jüdisch-russische Musiker sind vor Pogromen in Russland geflohen. Die erste Station im Ausland war immer Preußen, wo es also viele russische Musiker gab. Nun stellte sich heraus, dass die Balalaika ganz ähnlich klingt wie das Banjo. Und das Banjo wiederum war ein typisches afro-amerikanisches Instrument. Schwarze Musiker, die nach Europa kamen, hatten oft Banjos dabei. So konnten die Balalaika-Orchester diese Musik von den gedruckten Banjo-Noten übernehmen, ohne viel adaptieren zu müssen.

Wir reden die ganze Zeit über die Frühformen des Jazz – wann kam denn nun der echte Jazz nach Deutschland?
Zwischen 1919 und 1925 hat der Jazz auf der ganze Welt den Durchbruch geschafft. Bloß nach Deutschland kamen die amerikanischen Orchester nicht, es herrschte Inflation und Devisenbewirtschaftung, man hätte die Leute schlicht nicht bezahlen können. Erst als die Rentenmark eingeführt wurde, war es wieder möglich, ausländische Musiker nach Deutschland zu holen. Es sind gleich zwei oder drei schwarze Revuen ins Land gekommen, die unglaubliches Aufsehen erregt haben. Wie gigantisch deren Erfolg war, sieht man daran, dass selbst heute noch jedermann Josephine Baker kennt, die in einer dieser Revuen aufgetreten ist. Und in den Revue-Orchestern saßen richtig gute Musiker, die echten »Neger-Jazz« gespielt haben, wie man damals sagte.

War das der Startschuss zum deutschen »Jazz Age«?
Die Deutschen hatten einen großen Nachholbedarf in Sachen Amüsement. Und für kurze Zeit, von 1925 bis 1933, explodierte das kulturelle Leben von Berlin auf eine Art, die es vorher und nachher nicht noch einmal gegeben hat. Berlin war wirklich der Nabel der Kulturwelt. Film, Theater, Kunst, ernste Musik, Jazz – alles hat in Berlin stattgefunden. Künstler aus der ganzen Welt sind nach Berlin gekommen, darunter etliche Jazz-Orchester, die in den Berliner Varietés und Nachtclubs gespielt haben.

Wie haben die deutschen Musiker reagiert?
Die konnten keinen Jazz spielen. Da gab es nur ganz wenige Ausnahmen. Eric Borchardt ist eigentlich der einzige, der ungefähr verstanden hat, was amerikanischer Jazz ist.

Man hört die Aufnahmen aus dieser Zeit und vermisst etwas. Dann merkt man: Es swingt nicht!
Die Musiker kamen aus der Klassik, die haben von der Geige aufs Banjo umgesattelt und das hört man auch. Die Deutschen mussten in den Zwanzigern aber auch keinen Jazz können, da jede Menge Amerikaner und Engländer im Land waren, die hervorragende Musik gemacht haben. Die Deutschen haben erst dann angefangen, richtigen Jazz zu spielen, als er verpönt war, nämlich nach 1933. Nach Hitlers Machtergreifung haben viele ausländische Musiker, vor allem Juden und Schwarze, keine Arbeitserlaubnis mehr bekommen. Die deutschen Musiker, die sich vorher hinter ihren anglo-amerikansichen Kollegen verkriechen konnten, mussten nun selbst ran. Der Treppenwitz ist, dass der Jazz in dieser Zeit der Repression aufblühte, wie nie zuvor. Die Deutschen haben in den Dreißigern Swing höchster Klasse gespielt – unglaublich.

Sie sagen, dass die Deutschen lange überhaupt keinen Jazz spielen konnten. Trotzdem sind viele solcher Aufnahmen auf Ihrer CD-Edition. Haben diese Stücke für Sie nur einen historischen, oder auch einen musikalischen Reiz?
Ich sage immer: Leute, wenn ihr wirklich nur Jazz von höchster Qualität hören wollt, müsst ihr tatsächlich keine Platten von deutschen Musikern mehr kaufen, weil das die Amerikaner im Zweifelsfall immer besser können. Aber auch die deutsche Jazz-Tradition ist auf ihre Weise bemerkenswert, unter anderem deswegen, weil sie Beleg für einen kulturellen Austausch ist, der bis in die Kaiserzeit zurückreicht. Die Kenntnis darüber ist heute völlig verloren gegangen und ich finde es spannend, diese verschollenen musikalischen Wechselwirkungen wieder ans Tageslicht zu befördern.

Grundlage der CD-Edition und Ihrer musikhistorischen Forschungen ist Ihre riesige Sammlung alter Schellackplatten. Welche der Aufnahmen auf Der Jazz in Deutschland ist eigentlich die seltenste?
Die seltensten sind immer die, die nicht drauf sind: Platten, von denen wir aus Katalogen wissen, die aber nicht mehr erhalten sind.

Gut, aber es werden auch sonst noch genug Raritäten auf den CDs zu finden sein.
Um ein Beispiel zu nennen: Die Aufnahme »Oh You Drummer« von 1919, das erste Stück auf der zweiten CD. Das Stück stammt von einem schwarzen Komponisten und wurde niemals sonst, weder in den USA noch in Europa, auf Schallplatte aufgenommen. Und die Aufnahme, die wir präsentieren, stammt vom einzigen bekannten Exemplar dieser Schallplatte. Für jeden Musikhistoriker ist das eine Trouvaille sondergleichen. Aber auch die allererste Aufnahme auf der CD, von Wilhelm Iff und seinem Orchester, ist das einzige mir bekannte Exemplar dieses Titels. Im Grunde sind alle Aufnahmen auf der ersten CD Unikate, von denen mir nicht bekannt ist, dass es in Archiven oder Sammlungen weitere Exemplare gibt.

In den USA werden Schellackplatten mit Blues- und Jazzaufnahmen inzwischen für viele tausend Dollar gehandelt. Werden für deutsche Platten ähnliche Preise gezahlt?
Für die Jazzkapellen aus der Weimarer Zeit, ja. Für die frühen Ragtime-Stücke allerdings nicht, da sich der Musikgeschmack so geändert hat, dass heute außer mir und wenigen anderen Sammlern keiner mehr gewillt ist, dafür viel Geld auszugeben.

Von den vielen tausend Titeln in ihrer Sammlung sind nun einige Dutzend auf die CD-Edition gelangt. Was aber passiert mit dem Rest? Haben Sie die Befürchtung, dass Ihre Platten irgendwann in einem Archiv verschwinden, wo sie keiner mehr hört?
Sie sprechen da eine sehr traurige Geschichte an. Ich habe fast 60 Jahre lang diese Sachen zusammengetragen und habe vermutlich die weltgrößte Sammlung solcher Stücke, von denen viele Unikate sind. Es läge mir sehr daran, dass diese Sammlung als Ganzes erhalten bleibt, an einem Ort, der der Wissenschaft und dem interessierten Publikum zugänglich ist. Ich könnte alles verschenken, aber ich möchte wenigstens etwas Geld dafür haben, da meine Familie unter meiner Sammelwut gelitten hat und ich meinen Kindern etwas zurückgeben will. Aber den Wert meiner Sammlung kann niemand finanziell darstellen. Privatsammler haben das Geld nicht, die öffentlichen Archive auch nicht. Und die deutschen Institutionen haben vor allem auch nicht das Verständis dafür. Die Library of Congress in Washington hat jetzt meine ganz frühen Sachen aufgekauft, die Ragtime- und Cake-Walk-Platten, aber das Deutsche Muskarchiv in Berlin scheint kein Interesse an meiner Sammlung zu haben.

Die Frage, was damit geschehen wird, ist also ungelöst.
Ja, die ist ungelöst. All diese Sachen, die ich vor dem Verderben gerettet habe, sind im Kulturbetrieb leider ohne Wert. Unsere Kulturfunktionäre würden sofort Millionen ausgeben, wenn man ihnen eine Gutenberg-Bibel anbietet oder einen Picasso. Die kämen niemals auf die Idee, in einer vergleichbaren Situation zu sagen, statt des Original-Picassos reicht uns auch ein Vierfarb-Druck. Das wäre eine völlig absurde Vorstellung. Aber Tondokumente behandelte man so. Es gibt doch alles auf CD, heißt es, wozu braucht ihr die Originale? Weiß der Kuckuck, warum das so ist.