»Ich mag einfach keine Kleidung, die dumm ist«

Sie wollen mal wieder Ihren Schrank ausmisten? Vintage-Experte Cameron Silver erklärt, was Sie lieber behalten sollten.

SZ-Magazin: Herr Silver, Sie sammeln und verkaufen nicht nur Vintage-Kleidung, Sie tragen sie auch selbst. Was fasziniert Sie denn an den alten Sachen?
Cameron Silver: Kleider sind ein visueller Ausdruck unseres Lebens. Natürlich gibt es auch tolle zeitgenössische Mode, doch zu den besonderen Stücken gehören jene, die repräsentativ sind für eine bestimmte Zeit. Oder Raritäten wie die bisher einzige Männerkollektion von Haider Ackermann. Ich habe fast alles davon gekauft.

Alte Siegelringe hält Cameron Silver momentan für besonders wertvoll.

Stört es Sie nicht, dass jemand diese Sachen vor 30 Jahren schon mal getragen hat?
Überhaupt nicht. Weder mich noch meine Kunden. Neuerdings begeistern sich die Leute sogar für Vintage-Schuhe. Und es gibt bei uns ja keine T-Shirts, die Leute schon tausendmal anhatten. Was bei uns hängt, haben die Leute in ganz besonderen Momenten ihres Lebens getragen.

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Der klassische Gucci-Loafer, den Silver trägt, erinnert ihn an seinen Vater.

Jahrzehntelang ging es in der Mode immer darum, vorn dran zu sein, das Neueste zu haben. Wie passt dazu diese Begeisterung für das Alte?
Es geht ja nicht um Entweder-oder. Wer Vintage liebt, liebt auch Modernes. Im Übrigen beziehen die Designer ihre Inspiration ja aus der Vergangenheit. Wer sich ein bisschen auskennt, kann bei den heutigen Shows die historischen Vorbilder hinter den modernen Kleidern leicht erkennen. Vintage-Liebhaber wollen das Original. Sie kaufen die Vorbilder für das, was heute in den Läden hängt. Die Vintage-Welle hat viel zu tun mit unserer allgemeinen Geschichtsobsession.

Ob in der Popmusik oder im Fernsehen: Ständig wird uns Altes neu serviert. Sieht deswegen auch die neue Mode heute oft aus wie Vintage?
In der Vergangenheit kennen wir uns immerhin aus, wir sind dankbar für diese Gewissheit. Das wirklich Neue ist uns oft unheimlich: Als ich ein Kind war, stellte ich mir vor, im 21. Jahrhundert würden wir auf dem Mond wohnen oder in fliegenden Autos herumschwirren. Von wegen!

Würde Cary Grant das tragen? Das kann für Cameron Silver die alles entscheidende Frage sein, bevor er etwas anzieht.

Sie haben 1997 Ihr Geschäft »Decades« in Los Angeles eröffnet. Heute kommen Leute aus der ganzen Welt angereist, um bei Ihnen einzukaufen.
Das war nicht immer so. Gebrauchte Kleidung hatte in den Neunzigern das Flohmarkt-Stigma. Das trug man nicht, wenn man sich Neues leisten konnte. Es war die große Zeit des Minimalismus, von Helmut Lang und Calvin Klein. Und da kamen wir daher und wollten den Leuten diese prunkvollen alten Kleider verkaufen. Entsprechend verhalten war die Reaktion. Das hat sich total geändert.

Hat das auch etwas mit Konsum- und Umweltbewusstsein zu tun?

Klar. Vintage ist Recycling. Wir sind Teil der Ökobewegung. Wir kaufen alle so viel, wir ertrinken ja in dem Zeug. Dank H&M kann sich zwar jeder heute die neuesten Sachen leisten, aber ich finde, wir sollten intelligenter kaufen, selbst in diesen Läden: wenige Stücke, die die eigene Garderobe bereichern. Wer tonnenweise Geld für Wegwerfmode ausgibt, sollte sich überlegen, ob ein gutes Stück von einem modernen Designer nicht mehr wert ist. Irgendetwas von Givenchy oder Ann Demeulemeester. Ich mag einfach keine Sachen, die dumm sind.

Gute Vintage-Mode für Männer, gibt es das auch?

Als wir den Laden eröffneten, hatten wir eine große Auswahl für Männer. Aber es wurde immer schwerer, besondere Stücke zu finden. Männer sind heute so viel größer und kräftiger gebaut, die richtigen Größen sind rar. Außerdem haben Männer früher noch weniger Mode gekauft als heute. Die Nachfrage wächst und wächst, aber es gibt nicht genug.

Die Sammlung von Nietenschuhen kam zustande, weil Cameron Silver ein Faible für die Achtzigerjahre hat.

Was raten Sie jemandem, der beginnt, sich für Vintage-Mode zu interessieren. Wie fängt man an?
Am besten mit Accessoires, Schmuck, Handtaschen – allem, was man nicht anprobieren muss. Das kann man auch online kaufen, ohne viel zu riskieren. Ich würde nicht gleich mit den teuersten Stücken anfangen. Wenn Sie sich dann ein bisschen umgesehen haben, können Sie Kleidung kaufen. Wichtig ist, alles zu vermeiden, was Sie kostümiert aussehen lässt. Man sollte Vintage auf moderne Weise tragen, also Altes und Neues mischen.

Welche Marken sollte man auf gar keinen Fall wegwerfen, wenn man einen alten Kleiderschrank ausmistet?
Chanel, Dior, Hermès. Das wegzugeben oder gar wegzuwerfen wäre fatal.

Bereits Vintage: Sarah Jessica Parker bei der Premiere von »Sex and the City 2«, in einem Kleid des 2010 verstorbenen Designers Alexander McQueen..

Sollte man diese Marken auch kaufen, wenn man ein besonderes Vintage-Teil möchte?
Ja! Aber jeder soll kaufen, was ihm steht. Es hängt ja auch von der Ära ab. Der einen steht die Fifties-Silhouette besser, der anderen die Sixties-Silhouette. Ist der Markt nach Jahren der Vintage-Begeisterung nicht allmählich leergeräumt? Es gibt Frauen, die haben schon vor 15 Jahren Vintage-Stücke gekauft. Mit den Jahren verändern sich ihre Körper, also trennen sie sich jetzt von diesem und jenem. Außerdem steht die Zeit ja nicht still. Bis vor Kurzem waren die Sechzigerjahre gefragt. Jetzt gilt auch Mode aus den Achtzigern und Neunzigern, sogar aus den ersten Nullerjahren als Vintage. Ich hätte mir vor 15 Jahren nie vorstellen können, dass wir bei Decades Kleider von 2001 verkaufen.

2001 soll Vintage sein?
In manchen Fällen ja. Denken Sie an die Designer, die gestorben sind oder aufgehört haben. Alexander McQueen zum Beispiel. Ich habe neulich eine McQueen-Jacke in einem Auktionskatalog gesehen. Der Schätzpreis lag bei 25 000 Dollar!

Sind Sie Geschäftsmann oder Kunstsammler?

Ich bezeichne mich immer als Mode-Archivar. Da ist inzwischen eine ziemlich umfangreiche Sammlung zusammengekommen. Neulich habe ich dem Los Angeles County Museum of Art ein paar Stücke geschenkt. Die werden dort 2014 in der Ausstellung Reigning Men zu sehen sein. Keine Ahnung, ob ich mit den Kleidern jemals Geld verdienen werde. Vielleicht habe ich ein bisschen mehr Erfahrung als andere, aber so viel heißt das nicht.

Dass Männer wenig Schmuck tragen, findet er schade und geht deshalb mit gutem Beispiel voran. Ringe: Hermès.

Wechseln die Vintage-Trends genauso schnell wie die zeitgenössischen Trends?
Es gibt immer wieder Momente, in denen ein Designer besonders gefragt ist, weil er in den neuen Kollektionen zitiert wird oder weil er irgendwo eine Retrospektive hat. Aber so kurzlebig wie in der modernen Mode sind die Zyklen nicht.

Welche Rolle spielen dabei kulturelle Einflüsse?
Eine große. Denken Sie an Mad Men. Seit der Serie interessieren sich die Leute für die späten Fünfziger und frühen Sechziger. Es hilft den Leuten, den Look einer bestimmten Ära zu verstehen. Annie Hall, Bonnie and Clyde, Flashdance: Das sind alles kulturelle Phänomene, die enormen Einfluss darauf haben, wie wir uns anziehen. Haben Sie diese Art-déco-Referenzen in der Show von Marc Jacobs neulich bemerkt? Das ist kein Zufall. Er hat eben auch The Artist gesehen. Früher kauften die Leute Vintage eher aus Spaß oder weil sie etwas für eine Motto-Party brauchten. Neuerdings sammeln manche Vintage wie Kunst. Wir haben einige solcher Kunden. Eine begann für ihre Tochter Kleider des legendären Designers Courrèges zu kaufen, als sie zwölf war. Die Dame hielt das zu Recht für eine gute Investition. Sie wollte ihr Geld lieber für diese historisch wichtigen Kleider ausgeben, als Sachen von Marc by Marc Jacobs zu kaufen. Es gibt immer mehr Auktionen, mehr Ausstellungen. Die Alexander-McQueen-Retrospektive im Metropolitan Museum of Art letztes Jahr brach alle Besucherrekorde.

Alles nicht neu und doch modern: Art-déco-Vasen.

Wird Kleidung von heute in 20 oder 30 Jahren auch Vintage-Wert haben?
Der Luxusmarkt hat heute ganz andere Dimensionen. Gucci und Louis Vuitton gibt es ja mittlerweile an jeder Ecke, die sind ähnlich präsent wie »McDonald’s«. Schwer zu sagen, ob die Kleider unter diesen Umständen ihren Wert behalten oder sogar steigern werden. Ihre Verbreitung ist viel größer. Ganz sicher ist, dass die Kriterien heute viel komplexer geworden sind. Yves Saint Laurent produzierte über Jahre großartige Kleider. Heute, wo Designer ihre Häuser so oft wechseln, gibt es diese Kontinuität nicht mehr. Der Zeitraum, in dem Mode mit bleibendem Wert entsteht, ist kürzer. Sachen aus Tom Fords Zeit bei Gucci haben heute schon Sammlerwert. Ebenso das, was Phoebe Philo als Designerin bei Chloé gemacht hat. Was den Markt auch verändert, ist die Tatsache, dass die Leute Kleidung heute schlauer kaufen. Sie denken beim Kauf schon: Ah, das könnte mal Vintage-Wert bekommen.

Woran erkennt man das?
In unserem Laden gelten ein paar einfache Regeln: Wir kaufen nichts Langweiliges, keine Basics und wenig Schwarzes. Ich habe zum Beispiel gerade etwas aus John Gallianos letzter Kollektion gekauft, eine sehr kunstvolle, bestickte Weste. Ich fand sie sofort interessant: Erstens weil sie von Galliano ist. Zweitens weil bei diesem aufwendigen Stück die Produktionszahlen sicher sehr niedrig waren. Das sind schon mal wichtige Anhaltspunkte. Eine schlichte Hose von einer Designermarke wird in 20 Jahren wohl weniger gefragt sein. Ein Kleid, das auf dem Vogue-Cover war oder das ein Star bei den Oscars getragen hat, hingegen sehr wohl.

Eine alte Lederjacke der Designerin Katharine Hamnett.


Sie bezeichnen sich als Geschichtenerzähler.

Das ist ja jeder Verkäufer. Der Unterschied ist, dass ich die interessanteren Geschichten habe. Was das für ein Schnitt ist, was für ein Stoff, wer der Designer war und dass vielleicht Catherine Deneuve oder Raquel Welch das Kleid schon getragen hat. Und natürlich wie und wo ich das Stück gefunden habe.

Und wo finden Sie Ihre Kleider?
Die guten Zeiten, als man die Sachen noch auf Flohmärkten fand, sind leider vorbei. Ich kaufe überall: auf Auktionen, auf Messen, von anderen Händlern. Und weil der Laden bekannt ist, kommen die Leute jetzt auch direkt zu mir. Entweder sind es die Frauen selbst oder ihre Erben. Um ehrlich zu sein, ich verbringe einen Großteil meiner Zeit in Kleiderschränken älterer Damen.

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Fotos: StyleLikeU.com, AFP