Cornel Schulz steht im Supermarkt, er will Windeln kaufen. Die Verkäuferin lächelt, freut sich sichtlich über den jungen Mann im besten Vateralter. Sie bringt ihn in die Baby-Abteilung. Nein, er suche Windeln für Erwachsene. Ach so. Ein Missverständnis. Aber wer kennt schon das spanische Wort für »Inkontinenzprodukt«?
Schulz ist Pflegehelfer im »Seniorendomizil an der Panke« in Berlin-Wedding. Auf dem Weg zur Arbeit hatte er wochenlang die Inselradio-App gehört. Seitdem Flug und Finca gebucht waren, hatte ihm sein Handy täglich gesagt, wie viele Tage noch zu zählen sind. Der Countdown ist vorbei. Er ist auf der Insel, für die letzten zehn Tage im September. Mit ihm: fünf weitere Pfleger und sieben Pflegebedürftige. Im Gepäck: fünf Rollstühle, vier Rollatoren, zwei Gehstöcke, personalisierte Medikamentenboxen, Blutdruck- und -zuckermessgerät, Fieberthermometer, Mittel gegen Verstopfung, Durchfall, Schmerzen; Feuchttücher, Verbände, Kreuzworträtsel, Mensch ärgere Dich nicht, Sonnenmilch, Insektenschutz.
Tag eins nach der Ankunft. »Guten Morgen, Herr Schack. Na, gut geschlafen?«, fragt Berkan Olguner, der Pflege-Azubi. »Nöööö«, raunzt der 68-Jährige. Er räuspert sich heftig, macht große Augen, dreht den Kopf zu Olguner. Sein Körper bleibt regungslos liegen. Der schmächtige Mann mit den tiefen Lachfalten um Mund und Augen wartet auf Hilfe. Olguner holt Reinigungsschaum, Einmal-Waschlappen und ein Inkontinenzprodukt (IKP) aus dem Bad. Über die Matratze ist eine blaue Plastikfolie gespannt – gegen das Bettnässen. Nach eineinhalb Litern gibt das IKP – im Volksmund Windel genannt – auf. Olguner richtet Schack auf, schiebt sein Gesäß zur Bettkante. Nur das linke Bein setzt am Boden auf. Das rechte ist so lang wie ein 30-Zentimeter-Lineal. Wo er den Rest verloren hat, weiß er nicht mehr. »Lange her, in der Jugend«, sagt er. Schack ist sicher, dass es irgendwo aufbewahrt wird, tiefgefroren. Irgendwann wolle er es sich zurückholen und an das übrige Bein kleben.
»Bereit?«, fragt Olguner. Er brummt nur; »das Schack-Ja«, nennt es der Pfleger. Herr Schack ist keiner, der viele Worte macht. Das Sprechen strengt ihn an. Auf Mallorca allerdings spreche er so viel wie im ganzen Jahr nicht, sagt Olguner. Herr Schack kreuzt seine Arme hinter Olguners Nacken, der packt ihn und wuchtet ihn in den Rollstuhl. Im Bad nennt Olguner dem 68-Jährigen jedes Gesichtsteil, an das Wasser soll. Olguner wartet. Er will aktivierend pflegen, also so wenig wie möglich eingreifen. »Das gibt Selbstbewusstsein.« Das Nasenhaare-kurz-Schneiden und Fingernägelstutzen übernimmt Olguner. Dann fragt er: »Wen sehen Sie denn da im Spiegel?« – »Herrn Schack«, spuckt Herr Schack seinem Spiegelbild laut entgegen und gluckst heiser. So, als wollte er sagen: »Demenz, du Arschloch. Noch hast du nicht gewonnen.«
Video: Unser Fotograf Armin Smailovic zeigt in einem Film seine Eindrücke von der Reise
Kein tick, tock im Sekundentakt
Dreißig Minuten dauert es, bis die Morgenwäsche beendet ist. Im Heim haben die beiden rund 20 Minuten. Da gibt es nicht nur Bernd Schack, da liegen 17 weitere Menschen auf Station. Mit seinem Kollegen hat Olguner drei Stunden Zeit für sie. Nicht viel. Seine Schicht startet um sechs Uhr, um 14.30 Uhr hat er Feierabend. Auf Mallorca ist er 18 Stunden im Dienst, muss neben der Pflege noch einkaufen, kochen und die Wäsche erledigen. Nachts ist er in Bereitschaft. Ein 24-Stunden-Job, von denen acht bezahlt werden.
Und trotzdem macht er all das gern. Er hört hier kein tick, tock im Sekundentakt, muss nicht jede Befindlichkeit dokumentieren, nicht jede Selbstverständlichkeit der Verordnungen abhaken, nicht jedes Tun und Unterlassen protokollieren. Den Computer, der sonst viel zu viel seiner Arbeitszeit absaugt, gibt es hier nicht. Im Urlaub hat die Bürokratie mal Pause. »Das ist so viel gechillter«, sagt Olguner, »einfach nur volle Aufmerksamkeit für den Menschen.«
Olguner, 21 Jahre alt, in Berlin geboren, mit türkischen Wurzeln, ist immer gut gelaunt, nie um einen flotten Spruch verlegen. Mit 15 fliegt er von der Hauptschule, wöchentliche Verweise, Prügeleien, »halt viel Scheiß gebaut«. Er will Altenpfleger werden. »Sie?«, lachte die Dame in der Arbeitsagentur süffisant, »Sie Macho ziehen das doch niemals durch.« Seine Freunde machten Scherze. »Da war ich der Arschabwischer. Der Dumme, der für das bisschen Geld jeden Morgen aufsteht«, sagt Olguner. Im Heim ist er einer von acht männlichen Pflegern. Mit ihnen arbeiten 42 Pflegerinnen.
Olguner schiebt Herrn Schack ins Freie. Es ist 9.30 Uhr, der Himmel wolkenlos, 28 Grad. Auf der großen Sonnenterrasse warten schon die Kollegen. Sie blicken auf Feigen- und Olivenbäume, Kakteen und Palmen. Fast 15 000 Quadratmeter Grundstück sind es, die sie umgeben, davon 420 Quadratmeter Wohnfläche in der behindertengerechten Finca »Es Turo«.
Was zählt, ist der Moment
Auf die Idee mit dem Urlaub kam die Heimleiterin Clarissa Meier durch eine alte Frau im Rollstuhl. Meier erzählte der Bewohnerin, dass sie die nächsten Wochen mit ihrem Mann im Urlaub auf Mallorca sein werde. »Mallorca… , Frau Meier!«, rief die alte Dame entzückt. »Das würde ich so gerne noch einmal sehen, bevor ich sterbe.« Zehn Jahre ist das her. Zehnmal war sie seitdem mit ihren Heimbewohnern im Nordosten der Insel, in Can Picafort. Trotz Pflegestufe, trotz Demenz, Inkontinenz und schwieriger Vergangenheit. Oder gerade deswegen.
Manchmal würden sich Angehörige trauen und fragen, ob sich das mit den Dementen überhaupt lohne. Ob die den Sangría nicht schon beim Trinken vergessen hätten, ob da mallorquinische Palmen nicht gleich Berliner Linden seien, Naturstein-Finca nicht gleich Plattenbau-Heim. Dann antwortet Meier: »Es geht doch um den Moment.« Im Urlaub sehe sie viel öfter ein Lächeln, einen neugierigen Blick, mehr Appetit, höre mehr Worte als im Heim. »Und überhaupt«, sagt sie, »können Sonnenstrahlen auf der Haut, Zeit und Zuwendung schlecht tun?«
Weiches für die Zahnlosen
10 Uhr: Die Pfannkuchen kommen auf den Tisch. Zwei hohe Türme à 30 Stück bringt Pflegerin Herrmann mit. »Das ist ja wie Weihnachten«, sagt Rüdiger Schettling. Jeder greift das, was vor ihm steht, und muss nicht bedient werden. »Ist doch nicht schön, das ständige Betteln um Hilfe«, sagt Frau Schulz. Helmut de Fries, 73, pikst mit zittriger Hand und breitem Grinsen einen Pfannkuchen auf. Er ist zum ersten Mal in seinem Leben im Ausland, zum ersten Mal geflogen. »Bin ich froh, dass ich nicht verhungere. Schön weich«, sagt er und beißt herzhaft in die Pfannkuchen-Rolle mit Nutella. Die untere Zahnprothese ist ihm am ersten Urlaubstag aus dem Mund gefallen. Beim kräftigen Husten. Sie brach in der Mitte durch.
Auch der Pfleger Schulz isst Toastbrot ungetoastet, Baguettebrötchen ohne Rand, Pizza ohne Kruste. Er hat nur noch einige wenige Vorderzähne im Ober- und Unterkiefer. Dringend bräuchte er Backenzahn-Prothesen. Sein Zahnarzt rechnete aus: rund 3000 Euro. Das sind fast drei Brutto-Monatsgehälter eines Pflegehelfers. Unbezahlbar. Also muss das Zahnfleisch zermalmen. Schulz ist 31 Jahre alt.
Anneliese Schulz, 74, amüsiert das. Auch sie habe große Zahnlücken, aber »in meinem Alter steckt mir niemand mehr die Zunge in den Hals«. Als ihr Mann mit 46 Jahren die Diagnose Blutkrebs bekam, erhängte er sich. Für ihre Kinder machte sie weiter. Tagsüber kümmerte sie sich um sie, nachts arbeitete sie Schicht, bis vier Uhr morgens, in einer Fabrik. »Man will den Kindern ja was bieten«, sagt sie, »wenigstens ein bisschen was.« Eines Nachts schlief sie am Fließband ein, nur für wenige Sekunden. Die Stanze schnitt Zeige- und Mittelfinger der linken Hand mit aus.
Frau Schulz trägt ihre Haare kurz, gescheitelt und weiß, viel Schmuck und dezent Lippenstift. Nach drei Hüftoperationen kann die korpulente Frau kaum noch laufen. Im Heim ist sie seit einem halben Jahr. Weil der ambulante Pflegedienst ihr die Getränke dorthin stellte, wo sie nicht ran kam, dehydrierte sie, musste ins Krankenhaus. Wie bei Herrn de Fries war es ihr erster Flug und ihr erstes Mal raus aus Deutschland. Denn »Österreich zählt nicht, oder?« Dieses Jahr haben ihre vier Söhne die Reise bezahlt. Weil sie immer alles für sie getan habe.
Tausend Euro – das kosten zehn Tage Malle pro Urlauber. Für die meisten der 93 Heimbewohner im Berliner Pflegeheim sehr viel Geld, unbezahlbar viel. Für sie ist allein schon die Eigenleistung für den Heimplatz – zwischen 1500 und 2100 Euro im Monat – nicht aus Rente oder Vermögen zu bezahlen. Nur für neun Bewohner kam die Reise finanziell überhaupt infrage. Drei Teilnehmer fielen aus. So sind es am Ende sechs und ein Gast von draußen.
»Noch einmal eine Frau kennenlernen, mit der ich kuscheln kann – das wäre ein Traum.«
Mit dem Rolli durch den Sand
Es ist 30 Grad heiß. Als die Pfleger den Ausflug zum Strand ankündigen, ertönen keine Hurra-Schreie, Diskussionen oder Gemaule gibt es aber auch nicht. Bevor das Sonnenbad beginnt, müssen die sieben »Berlin-Mallorquiner« aber erst über den heißen Sandstrand von Can Picafort transportiert werden. Der Pfleger Carsten Dulitz dreht sich mit dem Rücken zu Herrn de Fries, der im Rollstuhl sitzt. Er packt die Griffe, kippt ihn nach unten, sodass der alte Mann samt Gefährt in der Luft hängt. Dann schleift er ihn wie einen Schubkarren voller Kartoffel-säcke 200 Meter hinter sich her.
Bei Anneliese Schulz packt der Pflege-Azubi Olguner die Rollstuhlgriffe, der Pfleger Schulz die Fußstützen, und die zwei stemmen sie nach oben. Am Ziel fällt Olguner auf die Knie, drückt seinen Rücken durch, schwitzt wie nach zehn Stunden Sonnenbrutzeln. Aber schwächeln ist nicht. Der Rest wartet.
Doch am Meer zu sein ist nur halb so schön wie im Meer: Zwei Pfleger bringen Herrn de Fries bis an den Saum der Wel-len. Als das Wasser seine Zehen berührt, schließt er die Augen. »Noch einmal eine Frau kennenlernen, mit der ich kuscheln kann – das wäre ein Traum.« Weiter als bis zu den Knien will er nicht. Alte Haut sei so empfindlich. Bei der nächsten Welle macht er einen winzigen Satz in die Luft. »Früher, da bin ich noch unter jede gehechtet.«
Michael Oschitzki schaut sehnsuchtsvoll aufs Meer, dann deprimiert zu Boden: »Entweder ganz oder gar nicht«, brummt er. »Dich muss man halt zu deinem Glück zwingen«, sagt Dulitz. Er schiebt ihn mit dem Rollstuhl ins Meer. Die Räder graben sich in den nassen Sand, das Wasser deckt sie zu. Nach dem »Eins, zwei, drei, hau ruck!« des Pflegers steht Oschitzki, dann sinkt er ins Wasser. Nur der Kopf lugt noch aus dem Blau. Der Rollstuhl schaukelt wild im Wasser. Oschitzki grinst bis zu den Ohren, spritzt kleine Wasserfontänen durch die Lippen. Er sieht aus wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal mit seinen Schwimmflügeln das Wasser besiegt hat. Nur dass bei ihm die Schwimmweste hilft. »Fast ganz alleine«, flötet er im Trockenen. Er drückt die Brust raus, bläst die Backen auf und sieht aus wie ein Superheld, der zum ersten Mal seine Superkräfte entdeckt hat.
Wie nach einer Flasche Wodka
Michael Oschitzki wohnt nicht im Heim, seine Frau pflegt ihn zu Hause. Er ist 55 Jahre alt und sitzt seit einem halben Jahr im Rollstuhl: Folge eines Schlaganfalls. Seine linke Körperhälfte kann er kaum noch bewegen. »Und plötzlich fühlst du dich wie 95 und deine Kinder sehen dich in Windeln liegen.« Sein Arm hängt schlaff am Körper, nach einem halben Jahr Reha kann er wenige Meter am Stock laufen. Seine Schritte sehen wackelig aus, wie bei einem Kleinkind, das gerade Laufen lernt. »So fühlt man sich also nach einer Flasche Wodka«, sagt er. Mallorca habe er auch für seine Frau gemacht, als Pflegepause. Wenn er in seinem E-Reader liest, stehen da Buchstaben in Schriftgröße 24, zehn Minuten lang. Konzentrieren geht nicht länger.
Abends befeuert Dulitz den Grill auf der Barbecue-Terrasse. Auf dem Tisch stehen Teelichte und Blümchen, dazwischen Palmwedel. Da können schon mal romantische Gefühle aufkommen. »Mein Rehlein, hast du was für mich?«, fragt Herr de Fries die Pflegerin Iwona Mieczkowska. Seine Augen leuchten. »Aber sicher doch, mein Hirsch«, sagt sie. »Und ich?«, fragt Wolf Szillat und blickt gierig. Sie weiß, was die beiden meinen: die heiß ersehnte Zigarette. Eine nach jedem Essen. Eine Schachtel besitzt keiner. »Die wäre innerhalb einer Stunde leer«, sagt Mieczkowska, »das kann keiner bezahlen.« Nur Rüdiger Schettling kann so viel rauchen, wie er will. Seine Mutter zahlt. Die drei Herren sehen zufrieden aus. Für sie ist der neue Glimmstengel das, was für kleine Jungs das neue Rennauto für die Carrera-Bahn ist.
Lerne leiden ohne zu klagen
»Kleene, wann fahren wir nach Hause?«, fragt Wolf Szillat. Er wiederholt die Frage alle zehn Minuten. Manchmal variiert er. »Am Montag geht’s nach Hause, wa?« oder »Wie viele Tage noch?«, »Nach Berlin, ha, in mein Berlin geht’s zurück, wa?« Seinen Zimmergenossen, Pfleger Olguner, holt er jede Nacht mit diesen Fragen aus dem Schlaf. Mal um drei, mal um fünf Uhr früh. Manchmal steht er mit dem Rollator direkt neben Olguners Bett und rüttelt ihn.
Die Demenz ist bei Wolf Szillat weit fortgeschritten. Er hat das Korsakow-Syndrom. Herr Szillat sitzt im Rollstuhl, kurze Strecken schafft er noch mit dem Rollator. Dann läuft er stark gebückt, mit ausgestreckten Armen und weit gespreizten Beinen. Er ähnelt einem kranken Pinguin.
Das bunte Hawaiihemd trägt er weit geöffnet. Auf seiner linken Brust ist ein großes Tattoo zu sehen. »Das haben meine Knastbrüder mit verbrannter Butter gemacht«, sagt Szillat. Sie schrieben: »Lerne leiden ohne zu klagen.« Auf dem rechten Handrücken steht ein zweites Tattoo: 2.9.71. Der untere Strich der Zwei ist bis zur letzten Ziffer durchgezogen. Eine Zäsur. Es ist das Datum seines Fluchtversuchs von Ost- nach West-Berlin. Als er floh, war er 16 Jahre alt; mit dem Paddelboot über eine Wasserstraße im Alleingang. Ins StasiGefängnis nach Bautzen wurde er gesteckt. Acht Jahre lautete das Urteil. »Da war Knast noch Knast«, sagt Szillat und nickt. Immer wieder nickt er. Nach fünf Jahren kaufte ihn die Bundesregierung frei, holte ihn in den Westen und überwies 20 000 Mark Entschädigung. »Davon habe ich mir Frauen und Alkohol gekauft.« Im Puff blieb er hängen, wohnte dort, arbeitete als Türsteher. Er handelte mit Gold, das er sich illegal beschafft hatte, und verkaufte es an reiche Russen. Bald flog er auf. Zweimal saß er dafür ein, insgesamt sieben Jahre. Seine Liebesbeziehungen zerbrachen.
Er hat es mit Männern und mit Frauen versucht. »Nichts hat gehalten«, sagt er. Er schaut auf die Asche im Becher, dann auf sein Drei-Punkte-Tattoo in Dreiecksform zwischen Zeigefinger und Daumen. »Die bedeuten: schwul, pervers und arbeitsscheu«, sagt er und lacht. Viele Jahre sei er schon im Heim, genau wisse er es nicht. Nur eines wisse er: »Im Heim bleibe ich, bis ich sterbe.« Wolf Szillat ist 58 Jahre alt.
Shoppen in Palma
Mit den Worten »Gönnen Sie sich was!«, stimmt die Heimleiterin Meier die Senioren auf den Einkaufsbummel in Palma de Mallorca ein. Jeder hat sein Taschengeld dabei, etwas Erspartes von dem monatlichen Barbetrag von 103,14 Euro. Auf dieses »Taschengeld zur freien Verfügung« hat jeder Heimbewohner Anspruch, der auch Sozialhilfe zur Deckung der Heimkosten erhält.
Die Pflegerin Herrmann verschwindet in der Drogerie, sprüht sich vier Düfte auf den Unterarm, lässt Frau Schulz schnuppern. Der dritte gefällt ihr, weil er so schön blumig ist. »Giorgio Armani«, sagt Herrmann. »Bitte kaufen«, sagt Schulz. So geht’s: Ein Teil der Pfleger wartet mit den Rollstuhlfahrern draußen, die anderen kramen und wagen sich mit T-Shirts, Pullis, Schuhen bis zur Ausgangstür, gerade so weit, dass der Alarm nicht ausgelöst wird. Olguner streckt ein gestreiftes Polohemd für Herrn Szillat in die Luft. Der nickt. Geritzt.
Weniger am Einkaufen, mehr an den Sehenswürdigkeiten interessiert ist Horst Handke, mit seinen 85 Jahren der älteste Urlauber. Er legt aber mit seinem Stock noch das beachtlichste Spazier-Tempo hin. Als ihm ein Händler Rosen anbietet, schiebt er einen Blumenkopf schier ins Nasenloch, saugt wie ein Bär und urteilt: »Nein, danke.« Vor einem Jahr wurde der eigentlich sanftmütige Mann aggressiv, schlug um sich, wurde unberechenbar. Seine Frau erkannte ihn nicht wieder, war überfordert. Die Diagnose: Demenz. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, sagte ihm niemand, dass der nächste Stopp das Pflegeheim sei. Im Büro der Panke warf er mit Locher und Tacker um sich. »Ich habe mich wie vergewaltigt gefühlt. Ich wollte doch nach Hause«, sagt Handke.
Das Leben muss doch Spass machen
»’Tschuldigung für das böse Wort«
Mit der historischen Eisenbahn soll es 27 Kilometer von Palma nach Sóller durch das Tramuntanagebirge gehen. Weil Dulitz und Meier nach einem Parkplatz suchen, gibt es einen Rollstuhl-Schieber zu wenig. Rüdiger Schettling soll den Job ausnahmsweise übernehmen. Der hat sich gerade eine neue Zigarette angesteckt, will dennoch mit einer Hand ran. »Mach bitte die Zigarette aus. Du brauchst beide Hände, Rüdiger«, sagt die Pflegerin Mieczkowska. »Du hast mir nichts vorzuschreiben«, sagt der, »blöde Fotze.«
Zornig frotzelnd drückt er die Zigarette auf dem Kopfsteinpflaster aus. »Typisch Rüdiger«, sagt die Pflegerin Herrmann, »ich schau mal, ob er sich beruhigen lässt.« – »Ich komm nicht mit euch mit. Ich will nicht mehr. Ihr könnt mir doch nicht das Rauchen verbieten.« – »Was willst du denn allein in Palma?« – »Könnt ihr alleine machen. Ohne mich.« Eisenbahn Ende. Meier sammelt ihn später ein. Am Abend wird er sagen: »Schwester Iwona, ’tschuldigung für das böse Wort.«
Rüdiger Schettling, 55, ist der jüngste der Urlauber. Mit 48 Jahren zog der schmächtige Mann ins Seniorenheim ein. Auch er leidet am Korsakow-Syndrom. Sein Gesicht ist spitzbübisch, fast faltenfrei. Gleichzeitig wirkt es müde und ausgemergelt. Seine Arme sind stark tätowiert. »Take it easy« und »Oh Herr, was gibt ihnen das Recht, über mich zu richten« steht da. Als seine Frau aus dem vierten Stock stürzte und starb, stürzte auch er ab, erzählt er. Drei Kinder habe er, aber keine Adressen oder Telefonnummern. Er wisse nur, dass seine Söhne in Bayern wohnen, dass es Enkelkinder gibt. Gesehen habe er sie nie, er weiß nicht einmal, wie alt sie sind. Seine einzige Freundin ist seine Mutter. Jeden Tag rollt die 82-Jährige mit dem Rollator zu ihrem Rüdiger ins Heim. Egal ob es regnet oder schneit. Auf Mallorca ruft er sie täglich an. Sieben Mal war er schon mit dabei. »Bisher hat Mutti immer bezahlt, aber für dieses Jahr habe ich eisern gespart«, sagt Herr Schettling und guckt wie ein kleiner Junge, der das große Los mit Mutti gezogen hat.
Alle anderen knattern derweil mit der Holz-Eisenbahn von 1912 im Stakkato der Metallräder nach Sóller. Mit der Trambahn danach zum Hafen. An der Haltestelle muss es schnell gehen. Dulitz und Olguner arbeiten von unten nach oben, von der Straße ins Abteil: Der eine lupft raus, der andere zieht hinein, Schulz verstaut die Rollstühle. Zwei spanische Schaffner eilen herbei, wollen helfen. Irgendwie. Sie wirken nervös, wedeln mit den Armen. Hinter der Tram stauen sich schon drei weitere Wagen.
Nach der Aktion haben alle Hunger. Im Restaurant kippt Horst Handke dann einen großen Schuss Olivenöl über seine Salat-Tomaten. »Herr Handke, das war ihre Fanta«, sagt die Pflegerin Herrmann. Er guckt verwirrt, sie will die Fanta-Tomaten aussortieren. »Finger weg«, sagt er wütend, »wühle ich etwa in Ihrem Teller rum?«
Frau Schulz schmeckt’s nicht. Sie kaut auf einer Garnele aus ihrer Paella. »Das Grünzeug hier ist mir nicht geheuer.« Während ihr Tischnachbar Handke auf der Toilette ist, stibitzt sie drei Pommes von seinem Teller. »Was Ordentliches«, sagt Frau Schulz, kaut, blickt sich um. – »Puh.« Glück gehabt. Herr Handke hat sie nicht ertappt.
Das Leben muss doch Spass machen
Michael Oschitzki, der Mann mit dem Schlaganfall, wachte eines Morgens auf, schweißgebadet: »Was, wenn der Arzt meine Patientenverfügung nicht liest?« Deshalb liegt er jetzt auf dem Stuhl von André, einem holländischen Tätowierer in Can Picafort. Er wünscht sich einen Schriftzug, klar, keine verspielten Schnörkel. Auf der linken Brust. »Mein Körper ist ein Gefängnis«, sagt er. Seine erste Idee für das Motiv war: ein Sarg, darunter »Escape from Azkaban«. Fliehen will Oschitzki. Aus einem Leben hinter Gittern.
Es ist ein Leben ohne Spaß, das er ablehnt. Ein Leben, in dem er sich abhängig, ausgeliefert und wehrlos fühlt. »Das Leben muss doch auch Spaß machen, oder?«, fragt er mit zittriger Stimme, bäumt seinen Oberkörper ein Stück auf, so als wollte er das Leben fragen: »Warum hast du mich verlassen?« Weil er keine Antwort bekommt, gibt er selbst eine: »So will ich nicht alt werden – nicht als Pflegefall.« André setzt die Nadel an, Oschitzki zuckt zusammen, sein Gesicht spannt, er bläst die Backen auf, jault auf. Je mehr Buchstaben André schreibt, desto röter werden Iwona Mieczkowskas Augen. Sie muss raus, sich die Tränen aus den Augen reiben. »Das ist zu viel«, sagt sie, zündet sich eine Zigarette an, zieht hastig. Dulitz ist bei ihm. Er packt seine Hand, Oschitzki wringt sie schier aus.
Dann ist es rum. André hält einen Spiegel über Oschitzkis Brust. Es sind 27 Großbuchstaben, sechs Worte, zwei Sätze, jeweils untereinander: »Do not intubate. Do not reanimate.« Darunter die Hügellinien eines Elektrokardiogramms. Frei übersetzt heißt das: keine lebenserhaltenden Maßnahmen. Oschitzki nickt. »Wird dem sportlichen Ehrgeiz der Ärzte hoffentlich vorbeugen.« Sollte er noch mal einen Schlaganfall haben, dann lieber gar nicht mehr aufwachen. »Warum ein Leben retten, das nicht mehr lebenswert ist?«, fragt er.
Geld will André für dieses Tattoo nicht. »Geld für die eigene Ohnmacht?«, sagt der wuchtige Niederländer mit dem langen grauen Pferdeschwanz und schüttelt den Kopf. Er sieht aus wie einer, der für den Familienurlaub mit der Harley-Davidson Werbung macht. Er drückt Oschitzki eine Dose Bier in die Hand.
Ein letzter Tanz
Es läuft die Filmmusik des Teeniefilms Eis am Stiel. Der letzte Abend vor der Abreise. Auf den Grill kommen Lachs und Würstchen. Anneliese Schulz rückt mit ihrem Rollator heran, macht kurz Pause. »Entweder ist der Sitz schmaler oder mein Hintern breiter geworden«, sagt sie und wackelt verwundert auf der schmalen Plastikfläche hin und her. »Wollen wir nicht ein Tänzchen starten?«, fragt Herr Handke die Pflegerin Mieczkowska. »Aber klar doch.« Sie tanzen zu Mr. Lonely von Bobby Vinton und Lollipop von den Chordettes. Der Stock des 85-Jährigen lehnt an seinem Stuhl, ist vergessen. Seine Beine federn geradezu, er geht in die Knie, wirbelt mit seiner Partnerin über die große Terrasse. Man hat ihn als 20-Jährigen vor Augen, als Alter und Krankheit noch keine Rolle spielten. Die Pflegerin sagt: »Eine kurze Pause?« – »Na, wenn Sie nicht mehr können, gerne. Aber melden Sie sich, wenn’s wieder geht«, sagt Handke.
Nach dem Essen gibt es Geschenke, auf der traditionellen Wichtel-Party. Es ist, als wäre man auf einem großen Kinderfest von 13 Erwachsenen. Jeder wartet gespannt auf den Moment seiner Überraschung. Was wohl in der großen orangefarbenen Tüte ist? Herr Schack fischt einen Mallorca-Bilderrahmen heraus. »Da kommt ein Bild von Ihnen rein«, ruft die Heimleiterin Meier laut. »Ach du Schande«, prustet Schack. Herr Szillat zieht einen Fächer. »Da steht drauf: Wir fahren morgen nach Hause«, purzelt es aus Cornel Schulz heraus. Großes Gelächter. Auch Herr Szillat muss schmunzeln. »Ja, meen Berlin«, sagt er. »Der Glaube kann Berge versetzen«, sagt Dulitz und klopft Oschitzki auf die Schulter. Sollte das passieren, will er wieder ins Tattoo-Studio kommen. Dann soll André die beiden »nots« vor »intubate« und »reanimate« durchstreichen. Die Hoffnung lebt. Das Schwimmen im Meer war ein Stück Leben, das wieder Spaß macht.
»Schwester Iwona, jetzt, ein letzter Tanz für mich?«, fragt Horst Handke. »Nein, mein Rehlein kommt jetzt mit mir mit. Ich will ins Bett«, sagt Herr de Fries. Er schiebt seinen Rollator zu Mieczkowska und sagt: »Bitte einsteigen.« Und so rollt er mit ihr davon. »Meine Männer haben plötzlich Bärenkräfte«, ruft sie, lacht laut und winkt. Die beiden erinnern an ein frisch getrautes Ehepaar, das mit seinem Cabriolet in die Flitterwochen abhaut – für zehn Tage, in eine Finca auf Mallorca, in der man die Uhren nicht ticken hört.
Fotos: Armin Smailovic