In Santo Domingo de la Calzada, noch 452 Kilometer bis zum Grab des heiligen Jakob, ist der Gemischtwarenladen Mario sichtlich bemüht, sich keine Marktlücke entgehen zu lassen. Lackfarben werden neben Barbiepuppen feilgeboten, Korbstühle neben Cowboyhüten. Doch, sagt Javier, der Verkäufer in der orangefarbenen Daunenweste, es gebe deutsche Pilger, die interessiere nichts im vielfältigen Sortiment. Die kämen herein und starrten nur die Decke an. Ein Spanier, der in Deutschland lebt und auch zum Deckeanstarren in das Geschäft kam, hat ihn schließlich aufgeklärt. »Es ist wegen dieses Buchs«, weiß Javier nun.
In Ich bin dann mal weg, seinem Wanderbericht vom Jakobsweg, beschreibt der Komiker Hape Kerkeling, wie er in Santo Domingo einen Hut kaufen will und der Verkäufer dafür Kerkelings alte Wanderkappe einfordert, um sie an die Ladendecke zu seiner Sammlung von Pilgerhüten zu hängen. Nach Kerkelings Beschreibung kann es eigentlich nur bei Mario gewesen sein. Aber dort ist die Decke ordentlich weiß gestrichen – und kahl. Die enttäuschten deutschen Pilger könnten leider nie Spanisch, sagt der Verkäufer, er würde ihnen gern sagen: »Vielleicht hat sich dieser Autor die Episode einfach ausgedacht.«
2,2 Millionen Exemplare wurden von Ich bin dann mal weg bislang verkauft, es ist das erfolgreichste deutsche Sachbuch aller Zeiten. Reisebüros werben nun mit »Kerkeling lesen ist eine Sache, den Jakobsweg selbst erleben eine viel größere« und bieten für 1099 Euro »inklusive Buch« Pilgerfahrten an (natürlich mit dem Bus, nicht zu Fuß). ProSieben drehte die Doku-Seifenoper Das große Promi-Pilgern, bei der nicht ganz so große Prominente auf Kerkelings Spuren wanderten. Ein religiöser Brauch wird zum Event. Ist es noch der Jakobsweg oder schon der Hapeweg?
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An einem Dezembermorgen um halb neun begegnen sich Nacht und Tag in Spaniens Norden. Der Halbmond leuchtet noch am schon hellblauen Himmel. Und darunter nichts als Weite. Zum größten Teil führt der Jakobsweg auf seinen rund 800 Kilometern von der französischen Grenze nach Santiago de Compostela durch den Wilden Westen Europas, über ewige Hügel mit fernem Horizont. Kurz vor Logroño wartet in ihrem Haus am Wegesrand Maria-Teodora Mediavilla auf die Pilger, jeden Tag. Sie ist 74.
Bei ihr am Kaminfeuer unter dem Hirschgeweih darf sich jeder ausruhen. In Deutschland gebe es jetzt ja ein Buch, fange ich an – »Ich weiß, ich weiß«, unterbricht sie und holt aus einer Kiste den Schutzumschlag von Kerkelings Werk. Ein deutscher Pilger kam an, »Señora, Señora, Sie sind in diesem Buch!« Er hat ihr mit dem Cover drei Buchseiten dagelassen, säuberlich die Stellen unterstrichen, in denen sie vorkommt, auch wenn sie es mangels Deutsch nicht lesen kann.
»Ich werde dir etwas erzählen«, sagt Maria-Teodora, schweigt, bis ihr die Spannung hoch genug erscheint, und beginnt: Unlängst kehrte ein Italiener bei ihr ein, sie zeigt den Namen im Gästebuch, Stefano Versi. Er habe sich hingesetzt und angefangen zu weinen. Nach zehn Minuten hörte er auf und ging. Er hatte kein Wort gesprochen. Noch immer kommen zu ihr viele Pilger, die den Weg mit der ursprünglichen Idee gehen, Jakob zu danken oder um Hilfe zu bitten, »und ich weine mit ihnen, denn dir fällt die Seele hinunter, wenn du ihre Probleme hörst, Familie, Krankheit, Arbeit«.
Längst aber sei es auf dem Weg wie in der alten Eisenbahn: Es gebe drei Klassen. Wahre Pilger, Touristen und die – die jungen Augen der alten Frau funkeln –, die »eine Orgie suchen«, Geselligkeit wie andere am Ballermann. Der Geist Kerkelings, einfach mal radikal weg zu sein aus dem gewohnten Leben, verbunden mit einer diffusen Sehnsucht nach Selbstfindung und Abenteuer, sportlichem Ehrgeiz und dem Gefühl dabeizusein, treibt Massen auf den Weg. 1978 pilgerten 13 Leute zum heiligen Jakob. 2007 waren es mehr als 120 000.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Es laufen hier keine Südamerikanerinnen auf Männersuche herum, wie Kerkeling behauptet«)
Wer mit Pilgern Einsamkeit verbindet, der hat es sogar im Winter schwer. In der Pilgerherberge in Santo Domingo gibt es Zank, weil zwei bis spät Bier trinken wollen, ein anderer um fünf Uhr früh rauswill, um Rekorde zu laufen. Nur ich will nichts, außer den einen Schnarcher im Schlafsaal erschlagen.
Der Jakobspfad war schon vor Kerkeling weltweit auf dem Weg zum Zeitgeist. Sein Buch hat nur einige Deutsche irregeleitet. Für sie ist die erste Referenz unterwegs nun nicht mehr Gott, sondern Hape. Sie pilgern in Gemischtwarenläden, um seinen alten Hut zu suchen. Sie vergleichen permanent, was bei Kerkeling genauso oder bei ihnen doch ganz anders war. »Es laufen hier keine Südamerikanerinnen auf Männersuche herum, wie Kerkeling behauptet«, schreibt Pilger Dominik in seinem Internet-Tagebuch auf viesta.net, »das haben mir die 200 deutschen Männer bestätigt, die sich das erhofften.«
Plötzlich entdecke ich am Rande der Altstadt von Santo Domingo de la Calzada noch ein Geschäft mit Hüten. Gespielt beiläufig starre ich an die Decke: Sie ist gelb und rosa – aber auch hier ohne Hüte. Doch vielleicht hat der Besitzer früher einmal gesammelt? »Meinem Schwiegervater ist alles zuzutrauen«, sagt der Verkäufer. »Er ist jetzt in Rente. Ich rufe ihn sofort an.« Wenig später steht Felix Valer in der »Bar Miguel«. Er wird fast 70 sein. Er brüllt fast vor Enthusiasmus. Irgendwann habe er angefangen, die Pilger, die bei ihm Hüte kauften, um ihre alten zu bitten, und diese an die Decke gehängt. »Und dann kam eines Tages dieser Keleling und sagte mir, er müsse dann aber auf seiner Kappe unterschreiben. Er sagte: ›Ich bin nämlich jemand Wichtiges in Deutschland.‹ Und er ist es wirklich!«
Ich müsse sofort mit ihm auf sein Landhaus fahren, wo die Schirmmütze jetzt sei, brüllt Felix und nicht viel leiser: »Mit dem Keleling habe ich gelacht, der gefiel mir sofort wie eine Puffmutter.« Was in Spanien der Ausdruck höchster Wertschätzung ist: wie eine Puffmutter. Ein diffuses Gefühl überfällt mich: Ein bisschen von Kerkelings Leichtigkeit kann dem Ernst des Pilgerns nicht schaden. »Dieser Keleling«, wiederholt Felix, und es klingt, als sehne er sich nach ihm.
Sagen Sie jetzt nichts, Hape Kerkeling
Hat sich Horst Schlämmer für immer verabschiedet?