Axel im Wunderland

Unser Autor auf dem Weg ins Erdinnere: Wo käme man heraus, wenn man auf dem Marienplatz in München ein Loch durch die Erde bohrte?

Oft habe ich mich gefragt, was geschähe, bohrte man auf dem Marienplatz in München ein Loch in die Erde, so tief, dass man auf der anderen Seite des Globus herauskäme. Als kürzlich in Garching die neue Stufe des Hochleistungsrechners Supermuc in Betrieb genommen wurde, der unter anderem helfen soll, die Zustände im Inneren des Erdballs zu simulieren, bin ich auf die Frage zurückgekommen.

Jeder Leser von Lewis Carrolls Alice im Wunderland weiß, dass Alice zu Beginn des Buches in ein tiefes Loch fällt, sie fällt und fällt und fällt – und landet am Ende auf einem Laubhaufen. Doch Alice wohnt in England. Würde man auf dem Marienplatz zu bohren beginnen und bohrte und bohrte und bohrte: Käme da auch – Laub?

Nein, man wäre mitten im Meer, im Südpazifik nämlich, 1500 Kilometer südöstlich von Wellington, der Hauptstadt Neuseelands. Die nächste bewohnte Insel: Pitt Island, 45 Einwohner, ein Hotel, »Flowerpot Bay Lodge«, die Blumentopfbucht-Hütte, die auf Fotos gut aussieht und auf Tripadvisor von vielen nachdrücklich empfohlen wird, nur von Joe T. aus Kanada nicht, der schreibt: »Wife of owner is as grumpy as it comes«, die Frau des Besitzers ist ein rechter Griesgram. Der Besitzer aber bestreitet nicht nur dies, sondern schreibt: Joe T. sei nie da gewesen. Ach, wer braucht ein Loch in der Erde, wenn es das Internet gibt?!

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Zur Pitt-Insel müsste man ohnehin einige Hundert Kilometer schwimmen. Übrigens ist die Gegend Hauptabsturzstelle für Weltraummüll aller Art, die legendäre russische Weltraumstation MIR wurde 2001 hier entsorgt, sodass man sagen kann, dass der Gegenpunkt Münchens ein Schuttabladeplatz ist. (Was der Haltung der bayerischen Staatsregierung unter Führung des Ministerpräsidenten See-hofer entspricht, wonach Bayern alles Gute bekommen und der Rest sich ein anderes Plätzchen suchen sollte: Wir bekommen den Strom, die anderen die Stromleitungen.)

Zurück zum Marienplatz-Loch. Gesetzt den Fall, es wäre fertig, man stiege hinein und ließe sich fallen. Was geschähe? Dazu hat der Physiker Paul Cooper 1966 im American Journal of Physics einen Aufsatz veröffentlicht, demzufolge man zunächst sehr schnell Richtung Erdmittelpunkt stürzt. Bis dorthin sind es 6371 Kilometer, und man erreicht, hat Cooper errechnet, eine Spitzengeschwindigkeit von 28 800 Kilometern pro Stunde, ein Riesenanlauf für das, was nun kommt. Denn unterwegs lässt die Erdanziehungskraft immer weiter nach, am Erdmittelpunkt ist sie gleich null, danach wirkt sie dem Sturz entgegen, man fällt ja nun quasi aufwärts und die lange Sause wird langsam gebremst. Am anderen Ende des Lochs kommen wir zum Stillstand und sollten uns am Rand des Lochs festhalten, wie ein Beitrag in Spektrum der Wissenschaft empfahl, »sonst geht die Reise wieder zurück«, bevor man hätte klären können, wie grumpy die Blumentopfbucht-Wirtin ist.

Cooper rechnete eine Sturzzeit von 42 Minuten aus, Alexander Klotz von der McGill University kam, ebenfalls im American Journal of Physics, auf 38 Minuten. Die wissenschaftlichen Details lassen wir hier mal beiseite, in jedem Fall geht es schneller als per S-Bahn, Flugzeug, Schiff.

Was in den Rechnungen vergessen wurde, ist der Ozean auf der anderen Seite. Bohrte man dieses Loch, käme einem ja wohl, ehe man sich hineinstürzen könnte, der Pazifik entgegen, oder? Wer im neuseeländischen Christchurch ein Loch durch die Erde drillte, hätte dieses Problem nicht, er käme in La Coruña heraus und müsste allenfalls auf Gegenverkehr aus Spanien achten. Der Marienplatz-Bohrer hingegen schüfe möglicherweise anstelle der direkten Fallverbindung eine Meerwasserquelle neben der Mariensäule, aus der gelegentlich das eine oder andere Trümmerstück der MIR hervorsprudelte.

Sodass die bayerische Landeshauptstadt plötzlich am Meer läge – und zwar am Pazifik. So weit das Grundsätzliche. Die Detailfragen sind der Debatte in der Leserschaft überlassen und natürlich unserem lieben Supermuc.

Illustration: Dirk Schmidt