Das Wort »Amoklauf« fällt ihm ein. Es klingt gut, es klingt bedrohlich. Milan Martens sitzt am Abend des 25. Juli 2014 in einem Internetcafé und überfliegt seine E-Mail ein letztes Mal. Er denkt an die Jahre, die er gelitten hat; an die Versprechen, die nie eingehalten wurden. Er denkt, dass er doch nicht viel verlangt, nur einen Job, mehr nicht. Er fühlt sich ausgenutzt und fallengelassen. Die haben das verdient, denkt er, und schreibt das Wort in den Betreff: Amoklauf. Dann drückt er auf »Senden«. Wenige Tage später holen sie ihn mit Handschellen.
Ein grauer Freitag Anfang Januar 2015, ein halbes Jahr später. Milan Martens, Iraner, dreißig Jahre alt, bullig, schwarzer Parka, lehnt an der Fassade des Düsseldorfer Landgerichts. Er lässt sich von einem Freund eine Zigarette reichen, zündet sie an und sieht zu, wie der Rauch aufsteigt. Im vergangenen halben Jahr war er selten draußen. Immer nur ein paar Atemzüge lang, die wenigen Schritte von einer Tür zu einem Auto, von einem Auto zu einer Tür. Es waren Türen, die Martens nicht selbst öffnen durfte, und Autos, in denen er hinten Platz nehmen musste: von der Polizeiwache in die Klinik, von dort zum Haftrichter, dann ins Institut für Forensische Psychiatrie in Essen. Und nun zu seinem Prozess.
Martens zieht ein letztes Mal an der Zigarette. In fünf Minuten wird er wieder auf der Anklagebank sitzen. Die Richterin wird das Urteil verlesen. Und dann, wenn es dieses Mal in seinem Leben nicht komplett schiefläuft, ist er frei.
Doch Martens kämpft längst nicht mehr nur gegen den Vorwurf der Nötigung und um seine Freiheit. Er kämpft auch darum, dass ihm endlich jemand glaubt. Dass ein Arzt, ein Staatsanwalt, eine Richterin zu ihm sagt: Ja, deine Lebensgeschichte ist kein Lügengebäude, kein paranoider Wahnkomplex, deine Geschichte stimmt.
Milan Martens sieht sich als Opfer einer der undurchschaubarsten staatlichen Einrichtungen, die es in Deutschland gibt: des Zeugenschutzprogramms des Bundeskriminalamtes (BKA). Einst war Martens für den deutschen Staat sehr nützlich. Im Gegenzug erhielt er Schutz. Dann war er dem Staat eher lästig. Am Ende glauben ihm Ärzte und Behörden nicht einmal mehr, dass er Teil des Programms war.
Dieser Fall zeigt, wie der deutsche Staat mit geschützten Zeugen umgeht. Er dokumentiert, wie machtlos Menschen werden können, die ihre Identität, ihre Vergangenheit, ihr Leben in die Hände des BKA geben. Und Martens’ Fall dokumentiert, wie weit Verzweiflung einen Menschen treiben kann.
Seine Geschichte beginnt 2006. Damals prahlt der gebürtige Iraner, der mit 15 in die Bundesrepublik kam, bei seinen Freunden in der alten Heimat noch damit, dass er es hier geschafft hat. Ihm gefallen die festen Strukturen und Regeln dieses Landes. Er ist damals 21. Er hat Geld, um sich zu kaufen, was er möchte. Er hat Kumpel, er hat Freundinnen, und, das ist für ihn das Wichtigste: einen Job, der ihm Anerkennung verschafft und Respekt. Einen Job, den er liebt, aus dem er all sein Selbstbewusstsein zieht.
Das SZ-Magazin darf nicht schreiben, wie Martens in seinem alten Leben hieß, wo er wohnte, womit er sein Geld verdiente und wie jetzt sein eigentlicher Deckname lautet. Auch darf nicht die Straftat beschrieben werden, deren Augenzeuge Martens wurde und die sein Leben für immer verändert hat. Die Gefahr, dass jemand ihn erkennt und aufspürt, ist groß. Martens sagt, was er damals gesehen habe, sei so furchtbar gewesen, dass er noch manchmal schweißüberströmt aufwache, starr vor Angst. Er sehe dann die Bilder wieder vor sich. Die Patronenhülsen auf dem Asphalt, drumherum das warme Blut. Wie er zitternd auf dem Boden kauert, die Hände schützend über dem Kopf. Er sieht sich auf dieser Toilette einer fremden Bar, wie er sich auf dem Waschbecken abstützt, in den Spiegel schaut und Blut sein Gesicht hinabläuft. Es ist nicht seines.
In den Wochen nach der Tat bekommt Martens Anrufe. Wenn wir dich finden, bist du tot, sagen die Täter, wehe, du sprichst mit der Polizei. Ein Freund erzählt ihm, dass sie ein Kopfgeld von 10 000 Euro auf ihn ausgesetzt haben. Panisch setzt sich Martens von einem Tag auf den anderen ins Ausland ab. Doch so groß die Angst auch ist, schon bald will er zurück. Zurück zu seiner Familie, zurück in sein Land. Er fühlt sich dem Staat verpflichtet, dessen Regeltreue er so bewundert.
Als Martens das Gebäude der Staatsanwaltschaft seiner Heimatstadt betritt, liegen schlaflose Nächte hinter ihm. Hier bin ich, sagt er, ich kenne die Namen der Täter, ich weiß, für wen sie arbeiten und wer für sie. Schon nach wenigen Mi- nuten fällt das Wort Zeugenschutzprogramm.
Es ist ein Wort, das Martens kennt. Was es genau bedeutet, weiß er nicht. Da ist nur eine vage Vorstellung von Bodyguards, neuen Pässen, Flucht bei Nacht und Nebel – was man so aus Filmen kennt. Doch ihm bleibt keine Zeit zu überlegen. Jetzt sofort musst du dich entscheiden, sagen sie. Schutz, das klingt gut, denkt er und stimmt zu.
Dann geht alles sehr schnell. Drei Beamte nehmen ihn mit auf das Präsidium, um seine Aussage aufzunehmen, und bringen ihn aus der Stadt, in eine abgelegene kleine Pension auf dem Land. Hier verbringt er die nächsten Monate, während er auf den Beginn des Prozesses wartet, in dem er als Kronzeuge aussagen soll.
In der Pension ist Martens allein, er liest viel, schaut fern, ab und zu telefoniert er mit seiner Familie. Seine Mutter fragt ihn, was passiert sei. Sein Vater, wann er wiederkomme. Martens kann die Fragen nicht beantworten und vertröstet seine Eltern. Bald ruft er seltener an.
Alle paar Tage klopfen die Zeugenschützer an seine Tür. Martens füllt Fragebögen über sein bisheriges Leben aus, über seine Hobbys, Ausbildungen, Freunde, Beziehungen. Er unterschreibt Verträge, Geheimhaltungserklärungen, Belehrungen zu Rechten und Pflichten. Es sind viele Seiten, er überfliegt sie mehr, als dass er sie liest. Kopien bekommt er nicht. Zusammen mit den Beamten plant er den Umzug in eine andere Stadt. Seine Eltern und die Brüder, die noch zur Schule gehen, sollen mitkommen, eine Sicherheitsmaßnahme. Zu allen Freunden und Bekannten muss er den Kontakt abbrechen – für immer.
Es gibt kaum Menschen in Deutschland, die sich intensiv mit dem Zeugenschutzprogramm befasst haben und darüber sprechen dürfen. Eine dieser Ausnahmen ist der Jurist Christian Siegismund. Er hat 2009 mit seiner Dissertation eine der wenigen wissenschaftlichen Arbeiten darüber vorgelegt. Darin stehen auch die neuesten belastbaren Fallzahlen, die über das Programm veröffentlicht wurden. Im Jahr 2006 hat das Bundeskriminalamt demnach 330 Zeugen geschützt, zwei Drittel davon waren Männer, die deutliche Mehrheit stammte aus der organisierten Kriminalität. Weitere 328 Menschen waren mit im Programm, meistens Angehörige. Der BKA-Beamte, der Siegismund die Zahlen mitteilte, schloss mit den Worten: »Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich Ihnen keine weitergehenden Informationen geben kann.« Ähnlich geht das BKA mit Presseanfragen zum Zeugenschutz um. Außenstehenden bleibt allein das »Gesetz zur Harmonisierung des Schutzes gefährdeter Zeugen«, elf magere Paragrafen. Eine Person muss demnach an »Leib, Leben, Gesundheit, Freiheit oder wesentlichen Vermögenswerten« bedroht sein, um aufgenommen zu werden. Außerdem muss ihre Aussage dem Staat von Nutzen sein. Siegismund sagt: »Ein Anwalt, der bei der derzeitigen Gesetzeslage seinem Mandanten rät, das Angebot des BKA anzunehmen, macht sich schadenersatzpflichtig.«
Martens dürfte nicht einmal mit seinem Anwalt reden, wenn er einen hätte, so steht es in der Geheimhaltungsklausel, die er unterschrieben hat. Dem SZ-Magazin liegen ähnliche Verträge aus anderen Fällen vor, Milan Martens bestätigt, dass er einen identischen unterschrieben habe. Das Verbot, sich mit einem Anwalt zu beraten, hält Siegismund für klar verfassungswidrig. Doch Martens weiß das damals nicht.
Sein Bruch mit dem Zeugenschutz beginnt nach dem Prozess, nach dem Umzug in eine neue Stadt, viele Kilometer von seinem alten Zuhause entfernt, und nachdem er und seine Familie sich an die neuen Namen gewöhnt haben und daran, nie wieder mit ihren Freunden zu sprechen. Nun will Martens in ein neues Leben starten. »Ich habe immer nur eine einzige Forderung gehabt«, sagt er: »Dass ich wieder den gleichen Job bekomme, den ich vorher hatte. Und das haben sie mir versprochen.«
Herr D. ist nun für ihn zuständig, Beamter der örtlichen Kriminalpolizei. Doch als Martens ihn besucht und nach seinem Job fragt, weist D. ihn ab. Die Szene in seinem alten Job sei zu klein, es wäre zu auffällig, wieder im gleichen Beruf zu arbeiten. Da wird Martens wütend. Ich habe doch alles für euch aufgegeben, denkt er, meine Freunde, mein Leben, meine Identität – ich hätte im Ausland bleiben können, aber ich bin wiedergekommen, für euch, für die Gerechtigkeit, und diese eine Sache, die einzige, um die ich euch gebeten habe, die ihr fest mir versprochen habt, die bekomme ich nicht? Was für ein Leben bleibt mir dann?
Martens beharrt auf jenem Versprechen, er sucht D. immer wieder auf. Um seine Sturheit zu verstehen, muss man ihn nur beobachten, wenn er über seinen alten Beruf redet. Sonst sind seine Antworten einsilbig, seine Tonlage ist etwas ruppig. Doch nun hört er auf, ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln, er lehnt sich bequem in seinem Sessel zurück. Mit freundlicher Stimme hält er einen ausschweifenden Monolog über die Verantwortung von Personen in Machtpositionen, über Respekt, sein Geschick, mit Menschen umzugehen, für das ihn alle bewundert hätten. »Sie können sich das heute vielleicht nicht vorstellen, aber ich war damals bekannt für meine charmante Art«, sagt Martens. Zum ersten Mal in zwei Stunden lächelt er.
Die Beamten finden einen Job für Martens, bei einem Maschinenbauunternehmen. Er darf ihn nicht ablehnen, so steht es in den Verträgen. Findet der Staat demnach eine »zumutbare Beschäftigung« für den geschützten Zeugen, muss dieser sie annehmen. Weigert er sich, fliegt er aus dem Programm. Dann muss er alle Tarndokumente zurückgeben und erhält weder weitere Unterstützung noch Schutz. Martens wäre ausgeliefert.
Also trägt er für 13 Euro die Stunde Stahlrohre. Irgendwann geht er nicht mehr hin. »Ich habe früher 250 Euro an einem Tag verdient«, sagt er, »ich bin kein Lagerarbeiter.« Doch was bleibt ihm? Er könnte sich auch dann nicht selbst nach einem Job umsehen, wenn Herr D. ihm das erlauben würde. Er hat keine Referenzen in seinem neuen Leben. Und sein altes existiert nicht mehr. Er kann nur wieder ins Präsidium gehen, sich D. gegenübersetzen und ihn erneut an das Versprechen erinnern. Mal ruhig, mal rasend und stets ohne Erfolg.
Spricht man mit seinen Bekannten, mit seinem Anwalt, seinen Ärzten, liest man Akten und Gutachten, lässt sich das meiste in seiner Geschichte rekonstruieren. Doch dieses Versprechen auf seinen Job, der ihm so wichtig ist, lässt sich nicht prüfen. Vor Gericht wird der Beamte D. später sagen, solche Versprechen würden grundsätzlich nicht gemacht. Es steht Aussage gegen Aussage. Wer sich näher mit dem Zeugenschutzprogramm beschäftigt, stößt allerdings immer wieder auf Berichte von Personen, die Zeugenschützer zu zweifelhaften Vormündern werden lassen.
Zum Beispiel Doris Glück, die Ex-Frau eines Terroristen, die ab 2001 gewaltbereite Islamisten für deutsche Behörden identifizierte. Ihr sei zugesichert worden, sie werde in ihrem neuen Leben finanziell nicht schlechter gestellt sein. Heute ist Doris Glück verarmt. Zeitweise lebte sie in einem Campingwagen. Sie hat nach eigener Aussage nie die versprochenen Urkunden oder gar einen schlüssigen Lebenslauf vorweisen können – und sei deshalb bei der Arbeitssuche gescheitert.
Zum Beispiel jener Mann, den der Zeugenschutz aus Nordrhein-Westfalen sofort aus dem Programm entließ, als er sich nicht an alle Auflagen hielt: Er hatte sich bei einigen Firmen vorgestellt, ohne die Beamten zu informieren. Später nahm er einen Job an, informierte die Beamten jedoch erst zwei Wochen später. Bei seiner Entlassung aus dem Programm wurde in Kauf genommen, dass nicht nur er, sondern auch seine Familie mit drei Kindern in akuter Gefahr waren. Er klagte 2003 vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen gegen diese Entscheidung und bekam Recht. Er wurde wieder ins Programm aufgenommen.
Zum Beispiel die Deutsch-Syrerin, die 2008 im sogenannten Ehrenmord-Prozess am Bonner Landgericht gegen ihren Vater und ihre Cousins aussagte. Obwohl ihr nach eigenen Angaben ein maßgeschneidertes Zeugenschutzprogramm versprochen worden war, erhielt sie weder eine neue Identität noch neue Papiere. Auf dem Klingelschild des Apartments, in dem die Schützer sie unterbrachten, stand ihr richtiger Name. Als sie sich einen Anwalt nahm, flog sie aus dem Programm.
Natürlich könnten all diese Beispiele Einzelfälle sein, verschuldet durch Fehler einzelner Zeugenschützer. Natürlich könnte es sein, dass die Zeugen übertreiben, in der Hoffnung, etwas mehr Geld oder Zuwendung zu bekommen. Doch was, wenn der Zeugenschutz systematisch versagt? Wie kann man die Effek-tivität einer Einrichtung kontrollieren, deren Aktivitäten streng geheim sind?
März 2015, Kurt-Schumacher-Platz, Berlin. Andreas Meyer verbringt seine Tage damit, dagegen zu kämpfen, wie das Zeugenschutzprogramm derzeit in Deutschland umgesetzt wird. Ein großer Mann, jungenhaftes Gesicht. Er schaut sich suchend nach einem ruhigen Ort zum Reden um. In das Restaurant an der Ecke kann er nicht. Bis vor ein paar Minuten hat er dort mit einer Mandantin gesprochen, die im Zeugenschutzprogramm ist, vielleicht sitzt sie noch dort. Er hatte das Restaurant ausgewählt, weil es die größtmögliche Distanz zu den Polizeiwachen der Gegend bietet. Der Zeugenschutz weiß nicht, dass die Frau diesen Anwalt engagiert hat. Dann könnte sie aus dem Programm geworfen werden. Meyer, 43 Jahre alt, arbeitet seit 2004 als Anwalt in Kiel. Zum Thema Zeugenschutz ist er durch Steffen R. gekommen, den ehemaligen Chef der Kieler Rockerbande »Legion 81«. 2012 wurde R. wegen Menschenhandels, Zuhälterei, schwerer Körperverletzung, Anstiftung zum Mord und versuchter Erpressung angeklagt. Meyer vertrat ihn. Mitten im Prozess beschloss R. zu singen, wie es in der Szene heißt. Er verriet andere Mitglieder und erhielt im Gegenzug Zeugenschutz. »Mensch, das hat was von 007«, dachte Meyer, als er die Schützer kennenlernte. Über diese Naivität muss er heute lachen. Skeptisch wurde Meyer erst, als er von dem Gefängnis hörte, in dem der Zeugenschutz Steffen R. unterbrachte. »Menschenunwürdig« nennt er den Ort. Auch Meyer musste Geheimhaltungsklauseln unterschreiben, die ihm verbieten, dieses Gefängnis zu benennen. Vorsichtig wählt er deshalb seine Worte aus und spricht stets im Konjunktiv.
Es könnte sein, sagt Meyer, dass irgendwo in Deutschland ein Gefängnistrakt leerstehe, es könnte auch sein, dass dort zwei bis fünf zu schützende Personen ihre Strafen absäßen und mit niemandem mehr reden dürften. Gäbe es diesen Ort, sagt Meyer, dann gäbe es vielleicht einen sechs mal sieben Meter großen Innenhof, den die Personen einmal am Tag für sechzig Minuten betreten dürften, mit so hohen Mauern, dass man die Sonne, wenn sie senkrecht steht, sehen könnte, und nur dann. Vermutlich wären die Zellen nach außen mit schräg gestellten Lammellen abgeschirmt, von innen mit einer milchfarbenen Plexiglasscheibe, sodass die Häftlinge ein Leben im Halbdunkeln verbringen müssten.
»Der Ort, an dem sie Steffen R. unterbrachten, war letztlich Isolationshaft. Folter«, sagt Meyer. Er betreut mittlerweile mehr als ein halbes Dutzend Personen einschließlich R., die im selben Gefängnis waren. Von denen sei nur einer ohne körperliche oder psychische Schäden davongekommen.
Meyers Name spricht sich schnell herum, auch außerhalb des Gefängnisses. Zwanzig geschützte Zeugen würden ihn pro Jahr kontaktieren, sagt Meyer, und mit jedem Anruf verstehe er besser: »Was die Zeugenschützer da treiben, ist ein menschliches Verbrechen.« Er vertritt heute mehrere Dutzend Personen, verzweifelte Menschen, fast alle mit Ausstiegsgedanken.
»In der Regel fängt das Programm schon mit einer Lüge an«, sagt Meyer: Beamte und Schützer versprächen den Zeugen eine neue Identität. Dabei könnten Personendaten in Deutschland gar nicht gelöscht werden, sondern nur gesperrt. Doch gegenüber den Zeugen wird das oft offengelassen. »Manchmal reicht es, jemandem aus dem öffentlichen Dienst ein paar Tausend Euro zuzustecken, und schon erfährt man, wo man die geschützte Person suchen sollte.« Meyer sagt, er habe von so einem Fall gehört.
Bei all seinen Fällen ließe sich ein Muster erkennen, das zeige, dass der Staat rein betriebswirtschaftlich auf seine Zeugen schaue. Meyer unterscheidet drei Phasen: Während der ersten Phase würden die Schützer sich sehr bemühen. »Der Zeuge ist spannend, hat Informationen, die sie brauchen«, sagt Meyer. »Es ist die Phase des maximalen Melkens.« In der zweiten Phase werde der Zeuge nur noch selten in weiteren Prozessen benötigt. Die Verteidiger der Gegenseite seien längst auf seine Aussagen vorbereitet. Man halte ihn bei Laune. Danach, in der dritten Phase, wenn alle Prozesse zu Ende seien, habe der Zeugenschutz kein Interesse mehr. Für den Staat sei der Zeuge nun nur noch eins: teuer.
Milan Martens ist in Phase drei, als es mit ihm bergab geht. Er beginnt eine Ausbildung zur Sicherheitskraft – und bricht ab. Er arbeitet in einer Tankstelle – und kündigt. Er lebt in einem kleinen Apartment, seine Brüder reden nicht mehr mit ihm, für sie ist er der Versa- ger, der von Sozialhilfe lebt. Seine Eltern haben sich getrennt, ihre Beziehung hat die Aufgabe der eigenen Identität nicht verkraftet. Seine Verzweiflung treibt Milan Martens ans Glas. Wodka, Whisky, Tequila, Minimum eine Flasche am Tag.
Die Stimmen hört er zum ersten Mal an einem Nachmittag in der Tankstelle, er denkt, jemand hätte das Radio angemacht. Doch zu Hause sprechen sie weiter. Er kennt diese Stimmen nicht, es sind viele, sie reden wirr und laut. Am nächsten Morgen räumt er alle Möbel beiseite, doch nirgends findet er einen Lautsprecher. Er geht aus dem Haus, und sie begleiten ihn überallhin. Meistens versteht er sie nicht. Doch manchmal hört er sie ganz deutlich sagen: Niemand hilft dir, also hol dir endlich selbst, was dir zusteht.
Im Wahn trifft er die Entscheidung, das Zeugenschutzprogramm zu beenden. Er ruft D. an, sagt ihm, er will das nicht mehr, er will raus. Der Beamte versucht ihn am Telefon zu überzeugen. Sie befinden sich immer noch in Gefahr, sagt er. Martens legt auf. Die Beamten bitten ihn noch einmal für ein Gespräch zu sich ins Büro, sie wollen sichergehen, dass er nicht nur so handelt, weil ihn jemand bedroht. Martens lässt sich nicht beirren. Von nun an lebt er weiter unter falschem Namen, Schutz bekommt er aber nicht mehr.
Wann er zum ersten Mal ein Geschäft betritt und sich nimmt, was er meint, verdient zu haben, lässt sich nicht rekonstruieren. Martens schweigt über seine Diebstähle. Man kann diejenigen in seiner Akte nachlesen, bei denen er erwischt wurde. Ein Männergürtel für 45 Euro, Herrenschuhe für 230 Euro, ein Sakko, 329 Euro, ein Tablet-PC, 1012 Euro. Es sind niemals Dinge, die er dringend bräuchte, sondern Statussymbole, die er sich früher leisten konnte. Manchmal wird er zweimal an einem Tag erwischt und klaut trotzdem wenige Tage später wieder.
Es ist sein Vater, der als Erster Alarm schlägt. Er sieht, wie sein Sohn langsam zwischen den Müllbergen in seiner Wohnung verwahrlost, umgeben von un- bezahlten Rechnungen. Doch Martens will keinen Arzt sehen. Erst als er eines Morgens aufwacht, das blutüberströmte Gesicht seiner Mutter im Kopf, und er die Polizei ruft, aus Angst, er könnte sie im Schlaf erstochen haben – da merkt er, dass er nicht mehr er selbst ist.
Ein Psychiater verschreibt Martens Psychopharmaka. Sofort sind die Stimmen weg. Die Verzweiflung bleibt. Er schreibt Beschwerdebriefe an das Bundesverfassungsgericht, die Generalstaatsanwaltschaft und den Oberstaatsanwalt der Stadt: Man habe ihm seinen alten Job versprochen. Es nützt nichts.
Jene E-Mail vom 25. Juli 2014 nennt er eine Verzweiflungstat. »Es war mein letzter Versuch, ein bisschen Gerechtigkeit zu erhalten«, sagt Martens. An einem der vielen Rechner eines Internetcafés schreibt er an die Staatsanwaltschaft: »Wenn ich binnen zwei Wochen nicht meine Arbeit mit demselben Einkommensverhältnis wie damals (…) zurückbekomme, werde ich einen Amoklauf begehen und den Präsidenten des Oberlandesgerichts als Geisel nehmen und anschließend erschießen.« Unterschrieben »mit freundlichen Grüßen, Milan Martens«.
Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf dokumentiert den Eingang der Mail drei Tage später, am 28. Juli 2014. Sie verstärkt die Sicherheitsmaßnahmen vor den Gerichten und lässt Martens observieren. Am 30. Juli wird er festgenommen.
Die Polizisten bringen ihn in eine nahegelegene psychiatrische Klinik. Gurte an Händen, Fußgelenken und Bauch schnüren Martens ins Fleisch. Einmal lösen die Pfleger ihn aus der Fixierung, damit er eine Zigarette rauchen kann, da schlägt er einer Krankenschwester ins Gesicht. Zwei Wochen bleibt er stark sediert angebunden, die Ärzte diagnostizieren eine paranoid-halluzinatorische Psychose.
Die örtliche Staatsanwaltschaft fordert nun eine Unterbringung nach Paragraf 63, eine Art Haft für schuldunfähige Personen, die als gefährlich für die Allgemeinheit eingestuft werden. Martens wird ins Institut für forensische Psychiatrie des Landschaftsverbandes Rheinland in Essen verlegt, ein ärztliches Gutachten wird in Auftrag gegeben. Martens wird nun nicht mehr festgebunden, er ist ruhiger. Der Gutachter Torsten Grüttert, leitender Oberarzt des Alexianer Krankenhauses in Krefeld, besucht ihn nach der Verlegung. Nach anderthalb Stunden Gespräch ist Martens zuversichtlich, dass Grüttert ihn nicht für gefährlich hält. Er habe sich charmant und zurückhaltend gegeben, sagt er heute. Bald, denkt er, bin ich wieder frei.
Zwei Monate später ist immer noch kein Gutachten da. Martens’ Verteidiger Malte Pohl, ein energischer junger Anwalt, beantragt Haftprüfung. »Ein paar Wochen wären bei einer solchen Drohung noch irgendwie nachvollziehbar. Aber das?« Der Richter gibt dem Gutachter noch zwei Wochen, bevor er Martens freilassen will. Am 25. September kommt endlich ein Kurzgutachten. Doch nachdem Pohl es gelesen hat, ruft er Martens an: »Es sieht schlecht aus.«
Grüttert schreibt, Martens verkenne die Realität: »Herr M. ist weiterhin davon überzeugt, in einem Zeugenschutzprogramm […] gewesen zu sein, er ist weiterhin davon überzeugt, dass die Polizei ihm zugesagt hätte, dass er […] einen Job […] vermittelt bekommt, dass ihm Versprechungen gemacht wurden, die dann von den Behörden nicht eingehalten wurden.« Das seien Wahnvorstellungen. Martens bleibt in der Forensik. Bis zum Beginn des Prozesses am Landgericht Düsseldorf vergehen weitere vier Monate.
Wie kann es passieren, dass der Gutachter nicht nachforscht, ob Milan Martens tatsächlich im Zeugenschutzprogramm ist? Torsten Grüttert will sich auf Nachfrage des SZ-Magazins nicht dazu äußern. Und die Staatsanwaltschaft Düsseldorf? Müsste sie nicht stutzig werden, wenn ein Angeklagter gegenüber einem Gutachter angibt, er sei im Zeugenschutzprogramm? Hätte das nicht einer der Staatsanwälte prüfen müssen? Der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Düsseldorf nennt diesen Fall ein »Säumnis«. Er sagt: »In unserem Haus hat jeder gewusst, dass Martens im Zeugenschutzprogramm war. Bei der Masse an Fällen fehlt manchmal die Zeit, das ganze Gutachten zu lesen.« Grütterts Kurzgutachten ist keine drei Seiten lang.
Martens’ Anwalt Pohl entscheidet, den Chefarzt der Forensik in Essen als Sachverständigen zu beantragen. Auch er schreibt nun ein Gutachten.
Martens erkennt sich zu diesem Zeitpunkt kaum noch wieder. Jeden Morgen, wenn er aufwacht und das fremde Zimmer sieht, überrollt ihn die Angst. Auf den Gängen hat er aufgeschnappt, dass Personen, die nach Paragraf 63 untergebracht werden, durchschnittlich sieben Jahre in der Forensik bleiben. Nachmittags, wenn das Sonnenlicht in den Raum fällt, setzt er sich ans Fenster. Durch die Gitter schaut er auf einen Friedhof und beobachtet die traurigen Menschen vor den Grabsteinen. Er sieht sie verwelkte Blumen austauschen und denkt, das Leben ist zu kurz, um sieben Jahre gefangen zu bleiben.
Zunehmend zweifelt er an seinem eigenen Urteilsvermögen, weiß selbst nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Irgendwann trifft er die Entscheidung, nur mehr seinem Anwalt zu trauen: Er sieht den jungen Strafverteidiger Malte Pohl als seinen letzten Verbündeten. Wer die beiden zusammen erlebt, hört Dialoge wie diese:
Ob es wohl gut wäre, nach Ende des Nötigungs-Prozesses wieder ins Ausland zu gehen?
»Nein«, sagt der Anwalt.
Ob er es riskieren könne, für einen Ausflug in seine alte Stadt zu fahren?
»Nein.«
Ob es eine gute Idee wäre, einen Kiosk zu eröffnen?
»Ja.«
»Ja? Na gut. Dann mach ich das.«
Als man beim Zeugenschutz mitbekommt, dass das SZ-Magazin recherchiert, laden die Beamten Martens zu sich, danach möchte er nicht mehr mit Journalisten reden. Über den Inhalt des Gesprächs schweigt er. Wieder ist es Pohl, der ihm sagt, dass das schon in Ordnung sei, und Martens spricht wieder. Sein Vertrauen zu seinem Anwalt ist größer als seine Angst vor den Zeugenschützern.
23. Januar 2015. Landgericht Düsseldorf, ein fast leerer Gerichtssaal, zwei Zuschauer, Schlussplädoyers. Milan Martens, nach vorne gebeugt, die Hände auf dem Tisch gefaltet, schließt die Augen, während Malte Pohl spricht: »Das hätte hier auch anders ausgehen können.« Der Staatsanwalt, in sich zusammengesunken, fasst sich mit der Hand an die Stirn. Seine Behörde sieht schlecht aus in diesem Prozess. Als Pohl am ersten Verhandlungstag die Bombe platzen ließ, wandte sich die Richterin an den Staatsanwalt: Warum, fragte sie, ist nirgendwo in den Akten vom Zeugenschutz die Rede? Der Chefarzt der Essener Forensik sprach sich für Martens’ Zurechnungsfähigkeit aus, der Prozess wurde von einem Sicherungs- in ein Strafverfahren umgewandelt.
Als Martens eine Stunde später den Gerichtssaal verlässt, ist er wegen Nötigung zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt worden – und wieder ein freier Mann. Pohl klopft ihm auf die Schulter, er ist zufrieden. Martens’ Miene bleibt versteinert. Er wollte eigentlich etwas anderes. In dem Moment, als im Prozess klar wurde, dass Martens nicht in die Psychiatrie zurückkehren muss, stand er auf und fragte die Richterin: »Klappt das jetzt? Können Sie mir meinen alten Job wieder verschaffen?«
Illustration: Paula Bulling