Tod und Verklärung

Juliane Noack begann sich einen Namen als Schmuckkünstlerin zu machen, als sie beim Absturz der Germanwings-Maschine vor zwei Jahren in Frankreich starb. Ihrem Erfolg tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil.


Es wäre besser, wenn es diese Geschichte nicht gäbe. Dann wohnte Juliane Noack jetzt mit ihrem Freund und einem eineinhalb Jahre alten Kleinkind in Leipzig, in einer Wohnung mit Ofenheizung und Apfelbaum im Garten. Sie ginge ins Atelier, formte Ringe mit Bären- und Armreife mit Affenköpfen, experimentierte mit Porzellan, schimpfte, weil die Affenköpfe zu viele Gussnasen haben. Vielleicht bereitete sie einen Ausstellungsbeitrag vor, vielleicht ärgerte sie sich, weil jemand sie wieder Schmuckdesignerin nennt, obwohl die Kunstform Autorenschmuck heißt. Der Name Juliane Noack wäre nur vereinzelten Sammlern ein Begriff, und, vor allem: Sie wäre am Leben.

Aber es ist anders gekommen.

Kurz vor ihrem Abflug nach Spanien kauft eine Sammlerin in den USA noch eine ihrer Ketten. Keine Riesensensation, aber ein sehr gutes Zeichen – die Dinge entwickeln sich in die richtige Richtung, der Boden, auf dem sie seit ihrem Abschluss an der Kunsthochschule erste Schritte als freischaffende Künstlerin wagt, scheint zu tragen. Verkäufe sind gut, Verkäufe bedeuten: Sammler sind aufmerksam geworden, es tut gut, zu spüren, dass nicht nur das engste Umfeld in den Werken mehr sieht als nur das Material, aus dem sie bestehen. Und es ist notwendig, um irgendwann von der Kunst zu leben. Ihre Galeristin, zu deren ersten Künstlern sie gehört, freut sich mit ihr, noch mehr freut sich ihr Freund, der auch die Phasen kennt, in denen es zäh läuft oder gar nicht. Vom Verkauf erfährt er per SMS, Juliane Noack ist da schon in Valencia, geflohen aus dem Leipziger Winter, zum Luftholen, aufs Meer schauen – und um Ideen zu sammeln für die nächsten Schritte, die nächsten Projekte, die Zeit mit dem Baby, das sie erwartet.

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Der Rückflug geht ab Barcelona. Die Flugnummer wird tagelang die Schlagzeilen beherrschen: 4U9525, am 24. März 2015, das Flugzeug zerschellt an einem Bergmassiv der französischen Alpen, alle Passagiere sind sofort tot.

In den Tagen danach gehen die ersten Kaufanfragen ein. Ihre Eltern, die jetzt die Erben ihres Nachlasses sind, verständigen sich mit der Galeristin darauf, alle erst einmal zurückzustellen. Weitere Anfragen folgen, immer neue kommen dazu. Der Kunstmarkt, das zeigen viele Beispiele aus der Vergangenheit, ist bei Tragödien nicht zimperlich.
Das Lebenswerk ist abgeschlossen.
Die Preise steigen.



»Das hat einen grotesken Zug«, sagt David Nowack, Julianes Freund, eineinhalb Jahre danach. Es ist ein warmer Herbsttag in Halle an der Saale, die Fenster der Wohnung, in die er nach Julianes Tod wieder zurückgezogen ist, stehen offen, unten fährt die Straßenbahn vorbei.
Am folgenden Tag eröffnet in Halle eine große Einzelausstellung mit Juliane Noacks Werken, in einer der wichtigsten staatlichen Ausstellungsräumen des Landes: der Kunststiftung Sachsen-Anhalt. Die erste große Einzelausstellung, ausdrücklich keine Gedenkveranstaltung, im Fokus steht die Kunst.

Ist es unfair, dass die Aufmerksamkeit erst jetzt kommt und nicht vorher schon da war? »Was heißt unfair?«, sagt David Nowak. »Ich würde die Frage gern umdrehen: Ist es fair, dass die Aufmerksamkeit jetzt da ist? Ich würde sagen: Ja. Sie hat keine 40, 50, 60 Jahre mehr, in denen sie auf öffentliche Wertschätzung hätte hinarbeiten können. Diese Möglichkeit wurde ihr genommen.« Aber ist es nicht schade, dass sie den Erfolg nicht selbst miterlebt? »Natürlich. Ich hätte ihr ja den Erfolg gegönnt, die Bestätigung, die Wertschätzung. Ich weiß nicht, ob sie selbst das so gut gefunden hätte, aber das konnte man bei Juliane sowieso nie wissen.«

In den Monaten nach Julianes Tod beschließen Nowak und die Familie, einen Förderverein zu gründen, aus dem eines Tages eine Stiftung werden soll – zur Unterstützung junger Künstler, die in einer vergleichbaren Lage sind wie es Juliane Noack war. Auf den Flugzetteln, die für den Verein werben, steht die Zeile: »Aus dem Sinnlosen neuen Sinn schaffen«, daneben ein Foto: Juliane Noack, die ein riesiges Herz trägt, kein rotes Comic-Herz, sondern ein Organ, aus Stoff genäht. Eigentlich gehört es auch zum Nachlass, aber es ist verschollen.

Im Keller ihres Hauses haben Juliane Noacks Eltern ein Depot eingerichtet, die Arbeiten ihrer Tochter lagern professionell und geschützt in Archivkisten. Es sind 60, vielleicht 70 Stücke, nicht mehr. Darunter: ein Ring in Form eines Hasenkopfs, ein Bärenkopf als Kette, ein Hummer, der auf der Schulter seines Trägers sitzt, jedes Stück ist zugleich eine Skulptur. Kunst, größtmöglich verdichtet auf kleinsten Raum, das ist das Prinzip von Autorenschmuck: Jedes Stück bezieht sich auf den Körper des Trägers, ist aber nicht auf ihn angewiesen, im Gegenteil: Die Ringe, die Armreifen schmücken nicht nur, sie beherrschen auch. Das war die Idee, die Juliane Noack in ihren Arbeiten ausdrücken wollte. In den Archivkisten liegen auch zwei zeigefingergroße Torsi aus Silber, Hank und Flash Gordon – leere Hemden, eines spannt sich über eine trainierte Männerbrust, das andere über einen Bauch. Aber die Körper selbst fehlen, sie sind nur sichtbar durch die Form der Hemden. Ihr Vater sagt, die beiden seien seine Lieblingsstücke.

»Es fällt schwer, von einem Lebenswerk zu sprechen, weil es so absurd klingt für eine 30-jährige Künstlerin«, sagt Katrin Eitner, ihre Galeristin. »Aber letztendlich ist es das.« Monatelang ist sie beschäftigt, ein Werkverzeichnis zu erstellen. »Ältere Künstler hinterlassen manchmal Aufzeichnungen, anhand derer man viel zuordnen kann. Das war bei Juliane nicht so, natürlich, wie konnte sie damit rechnen, dass man das so schnell brauchen würde.« Es gibt viele Zeichnungen, Studien, Skizzen, Bildhauerzeichnungen – gehören sie zum Oeuvre, oder nicht? Was hätte sie selbst gesagt? »Wir hatten begonnen, zusammen an einer Werkliste zu arbeiten, aber nicht umfänglich – wir dachten ja, wir würden dafür viel Zeit haben.«

Für die Werkschau in der Kunststiftung brachte Julianes Vater die Werke persönlich in die Ausstellungsräume: eine Villa aus den 30er Jahren, erweitert mit einem sehr geradlinigen, betont nüchternen Kubus aus Sichtbeton. Die Sonne, die durch die bodentiefen Fenster fällt, spiegelt sich in den Tischvitrinen, darunter werden bald der Hasenring liegen, der Hummer, eine Auswahl anderer Werke. Auch Hank und Flash Gordon – und wer vom Schicksal ihrer Schöpferin weiß, kann gar nicht anders als sich über die Symbolik zu wundern: Das Außenherum ist noch da. Aber das Wesen, der Körper, fehlt. Beigesetzt ist Juliane Noack auf dem nahegelegenen Friedhof, es sind nur ein paar Schritte dorthin.

Die Kuratorin der Ausstellung ist die Direktorin der Kunststiftung, Manon Bursian. Sie verhehlt nicht, wie nahe ihr das Drama in Juliane Noacks Leben und in dem ihrer Angehörigen geht. Aber auch nicht, dass es ohne die öffentliche Wucht der Tragödie diese Ausstellung nicht gäbe. »Beim Aufbauen habe ich mir gedacht, meine Güte, die hatte jetzt schon Stücke, die sehe ich bei vielen 60-jährigen Künstlern nicht«, sagt Bursian. »Es blitzt überall durch. Aber es blitzt nur. Ich kann nicht sagen, die hat mit 30 dieses Lebenswerk, bei dem man denkt, das ist es jetzt – dieses eine Jahrhunderttalent. Sie stand kurz vor einem Scheidepunkt, da war ganz viel Potenzial – was aber noch zu entdecken gewesen wäre, auch von ihr selbst.«

Was wäre der Rat gewesen, den Juliane Noack vielleicht gebraucht hätte?

»Wenn ich Ihr einen Rat hätte geben können, hätte ich ihr gesagt: Geh unbedingt mal richtig raus hier! Sie kommt aus dem Saalekreis, hat in Halle studiert, ist dann nach Leipzig gezogen. Probier dich mal aus, geh nach New York, nach Tel Aviv, dorthin, wo die Schmuckszene sitzt, also, eine andere Szene als hier. Ab ins kalte Wasser! Und das hätte sie auch gut gepackt.«

Die Ausstellung hat mit Abstand die größte öffentliche Resonanz, die je eine Ausstellung hier hatte. »Ich habe schon mit vielen Leuten gearbeitet über die Jahre, darunter viele mit enormem Renommee und 40 Designpreisen, und wir hatten nicht mal eine Rezension in der örtlichen Zeitung. Die Leipziger Volkszeitung kommt nicht zu uns, obwohl die nur ein paar Minuten entfernt sind.« Jetzt kommen Fachmedien, überregionale Zeitungen, auch das Fernsehen.

Nach Ende der Ausstellung, sagt Juliane Noacks Vater bei der Vernissage, müssten erst einmal die Preislisten aktualisiert werden. Wie sie mit den Kaufanfragen umgehen, sei noch nicht entschieden, der Nachlass solle nicht in alle Winde zerstreut werden, aber doch sichtbar gemacht werden: bei Sammlern, vielleicht auch in Museen, ein Stück liegt schon im Museum im niederländischen Appeldoorn. Der Ertrag soll in die Gründung der Kunstförderstiftung fließen.

An der Rückwand der Ausstellung stehen, in geradlinigen goldenen Buchstaben, Zitate aus Julianes Diplomarbeit. »Es hätte alles also auch anders kommen können«, lautet eins, gemeint war es in völlig anderem Zusammenhang.
Aber es ist, wie es ist.


Fotos: Jörg Lipskoch; Matthias Behne