Beethoven und Brandsätze

Unser Autor war gestern im Konzert. Mit Donald Trump. In der Elbphilharmonie saßen die mächtigsten Politiker der Welt, draußen in der Stadt wütete der schwarze Block. Eine etwas andere Konzertkritik.

Freundliches Gewinke im Saal…

Ich sollte hier nicht sein, echt nicht. Es ist Freitagnachmittag in Hamburg, ich stehe auf der Plaza der Elbphilharmonie, an meinem linken Handgelenk ein blaues Einlassband mit Bundesadler und dem Wort Bundeskriminalamt; um mich herum: an die Tausend Polizisten in Kampfmontur, die meisten klein und ziemlich weit weg. Auf den Dächern ringsum liegen Scharfschützen, alles ist weiträumig abgeriegelt.

Um jeden Preis sollte ich jetzt auf der anderen Seite der Absperrungen stehen, vielleicht die Reifen meines Rads für die Fahrraddemo am Abend aufpumpen, oder an einem komplett anderen Ort etwas völlig anderes tun. Bin ich aber nicht, mache ich nicht. Ich gehöre gleich zu den Gästen des G20-Konzerts, das an diesem Abend in der Elbphilharmonie stattfindet. Beethovens Neunte. Vor ein paar Stunden haben autonome Idioten in Altona eine Schneise der Verwüstung geschlagen und Autos angezündet, niemand weiß, ob und wie er heute sicher nach Hause kommt, aber wir gehen jetzt Beethoven hören mit ein paar Staatschefs, als wäre das ein aufständischer Akt. Ohne zuviel vorwegzunehmen: Es ist keiner.

Der Saal fasst 2100 Zuschauer; damit sich das Konzert nach Konzert anfühlt und die Staatschefs nicht auf leere Reihen schauen, muss da jemand sitzen. Als geladene Gäste, natürlich, und also echtes Publikum. Aber auch als Publikumsdarsteller, Teil der großen Inszenierung von Macht und Herrschaft und Gewalt, die dieser Gipfel ist. Mein Platz in dem Schauspiel, das gleich beginnt: Block N, hinten links. Akustisch nicht schlecht, wen kümmert das heute.

Ich schaue über die Dächer der Speicherstadt, über den Hafen, zu den Landungsbrücken. Dort in der Ferne steht eine Hundertschaft, dort stehen auch Demonstranten, ein fernes, lautloses, quirliges Hin und Her. »Da gibt’s gerade Stress«, sagt jemand. Ich, und das ist das Problem, sage nichts. Sondern versuche angestrengt, bloß nicht das zu denken, was jeder denkt, der hier steht und über die Dächer und die Elbe und die Hafenkräne in der Nachmittagssonne schaut, als ginge ihn das alles nichts an, nämlich: Schön hier.

... draußen in der Stadt Gewalt.

Es gelingt nur knapp. In der Ferne jagt mit Blaulicht eine unendliche Kolonne winziger Polizeiwagen durch die Stadt, die Polizeiboote auf der Elbe sehen aus wie Spielzeug, das Wort »niedlich« kann ich gerade noch aus meinem Kopf heraushalten. So schnell geht das also, dass dir die Wirklichkeit abhanden kommt, denke ich. So also sieht die Welt aus, wenn du Kanzler bist oder Präsident, alles ist immer abgeriegelt, durchchoreografiert, weit weg. Und immer ist da ein freundlicher Polizist in Kampfmontur, der die anderen Leute begrüßt und bittet, nicht zu lang vor dem Eingang stehen zu bleiben, ohne zu sagen, was genau es ist, das andernfalls passiert.

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Ich spüre, wie mich die Scharfschützen beobachten. Ich schaue zurück und versuche unauffällig zu wirken. Schon wieder falsch. Ich sollte demonstrieren, verdammt, es gäbe ja genug, wofür es sich lohnte: Demokratie, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, all die Errungenschaften, bei denen ich nur eine vage Vorstellung habe, wie ein Leben ohne sie aussähe, und ich sehr hoffe, es bleibt dabei; anders als ein paar der Staatschefs, die gleich da sind. Und wenn nicht demonstrieren, dann zu Hause sein, aber nicht, bloß nicht, niemals zu den Leuten gehören, die vor den Demonstranten geschützt und abgeriegelt sind. Ich gehe nach drinnen und beschließe, niemandem ein Wort zu erzählen.

Spuren der Verwüstung

 
Beim Freude schöner Götterfunken kriege ich Gänsehaut, aber nicht wegen der Musik. Trump verzieht keine Miene, dann stupst ihn jemand an, vielleicht um zu sagen: Das, Mr. President, ist die berühmte Stelle. Er nickt und dankt. Wir verlassen den Saal, verlassen die Elbphilharmonie, laufen über den menschenleeren Vorplatz. In einem Winkel parkt ein Wasserwerfer, in einem anderen ein Räumpanzer, auf dem Brückengeländer sitzt ein erschöpfter Scharfschütze, den Helm in der Hand, und stiert mit rotem Kopf ins Leere. Auf der Brücke sitzen weitere Polizisten, die meisten sind jünger als ich, trinken Wasser aus Plastikflaschen, plaudern, die Nacht wird hart. Die sind auch wegen mir hier. Zwei Polizisten öffnen uns das Gitter, wir bedanken uns, sie sagen nichts. Zurück auf der, ja, was denn nun: richtigen Seite?

Der Tag, der Abend, der Blick auf Trumps Rhythmus-Hand lässt mich mit dem Gesicht voraus auf der banalen, aber asphaltharten Wahrheit aufschlagen: Es ist leicht und sogar ziemlich billig, sich auf der richtigen, guten, besseren Seite zu wähnen, solange niemand nach Beweisen fragt. Und auch wenn das nicht sehr überraschend ist: Die richtige Musik zu hören ist nicht im Ansatz ein erster Schritt. Es hätte viele richtige Orte an diesem Tag gegeben, und nur einen richtig falschen: diesen.

In der Nacht brennt dann das Schanzenviertel. Ich laufe im Anzug nach Hause, über viele lange Umwege um die Sperrungen herum, und komme mir schäbig vor. Im Hotel sehe ich auf Facebook den Livestream des Konzerts, den eine Nachrichtenseite mit Bildern aus dem Schanzenviertel gegengeschnitten hat: Links Wasserwerfer gegen Demonstranten, brennende Kleinwagen am Straßenrand, fassungslose Anwohner, dazu rechts das Bass-Solo: Freude! Freude! Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum. Besser als mit diesen Bildern lässt sich mein Unbehagen nicht auf den Punkt bringen. Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt. Ich fühle mich ertappt. Dann schneide ich das blaue Harmlosigkeitsbändchen vom Handgelenk und werfe es aus dem Fenster.

Fotos: Getty Images, dpa