Der ganz große Faltenwurf

Die Met-Gala ist zurück – und mit ihr die abgefahrensten Roben des Jahres. Auch über die Kleiderwahl hinaus gab es jede Menge denkwürdige Momente. Eine Stilkritik.  

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Kopfloses Zeug: Kim Kardashian taucht ab

Kim Kardashian inszeniert sich, in dem sie sich gerade nicht zeigt.

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Atemberaubend kriegt hier, modisch gesehen, noch einmal eine ganz neue Bedeutung. Kim Kardashian erschien zur Met-Gala also in einer Komplettvermummung von Balenciaga Couture, was natürlich eine Ansage ist, wenn eine der meistfotografierten oder eine der sich am meisten fotografierenden Frauen ihr Gesicht nicht zeigt. Entsprechend wurde sie für diesen »subversiven Akt« auf Instagram abgefeiert. Die Königin der Inszenierung habe es mal wieder allen gezeigt. Während andere sich entblößen, verhülle sie sich christomäßig, wissen ja eh alle, wer darunter steckt. Gleichzeitig etablierte sie damit die neue Disziplin des Ex-Pärchen-Looks: Kanye West ist zuletzt ebenfalls häufig mit Kopfsack unterwegs.

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Aber ist dieser »Look«, wenn man das so nennen soll, an einer Frau nicht doch ein bisschen was anderes? Zumal in komplett Schwarz, in Zeiten, in denen die Taliban in Afghanistan gerade wieder die Scharia durchsetzen und Frauen unter die Burka zwingen? Da blieb einem tatsächlich kurz die Luft weg. Als politisches Statement dürfte der Auftritt kaum gedacht gewesen sein. Von Balenciaga wäre man es gewohnt, von Kim Kardashian eher nicht, und um jetzt mal damit anzufangen, ist die größte Modesause des Jahres vielleicht nicht das ideale Pflaster. Hat hier wirklich keiner an die ungute Assoziation gedacht? Oder sie als Party-Gag billigend in Kauf genommen? Bleibt nur zu hoffen, dass die Sauerstoffzufuhr unter der Stoffbahn nicht zu knapp war. Wer weiß, was der Frau sonst demnächst noch so in den Kopf kommt.

Typischer Instagram-Kommentar: »Einmal Met-Wurst, bitte«
Das sagt die Visagistin: »No-Make-up-Look 2.0«

Begleiterscheinung I: Knutschen auf der Gala

So viele Hammer-Paare waren lange nicht mehr auf der Met Gala. Das Rumgestehe und der Smalltalk sind ja auch viel lustiger zu zweit, da bringt man sich lieber gleich seinen Tuschelpartner mit, der dieses Jahr auffällig oft auch Busselpartner wurde. A$AP Rocky küsste seine Freundin Rihanna für die Fotografen dick auf die Wange und »Bennifer«, die wirklich alle Erwartungen an ihre neuerliche Verbindung erfüllen (plus die, die wir nie zu träumen gewagt hätten), ließen beim Küssen – safety first – die Masken an. Brooklyn Beckham und Nicola Peltz hingegen küssten sich leidenschaftlich, mit bereits offenem Hemd bei ihm, für die Fans auf Instagram. Und Megan Fox und Machine Gun Kelly sowie Kourtney Kardashian und Travis Barker knutschten wild auf dem Klo herum, was zumindest bei den Ausstellungsstücken des Museums weniger Schaden anrichten dürfte als das hemmungslose Gruppenrauchen von Marc Jacobs, Courtney Love und Co an gleicher Stelle vor einigen Jahren. Aber was ist mit uns? Den unschuldigen Passiv-Zeugen dieser Szenen? Muss auch so eine Corona-Spätfolge sein: Möglichst viel Körperkontakt in der Öffentlichkeit nachholen.

Das sagen die älteren Zuschauer: »Habt ihr denn kein Zuhause?«
Das sagen die sehr jungen Zuschauer: »Kann man davon schwanger werden?«

Begleiterscheinung II: Designer und ihre Zugpferde

»Tax the Rich«: Alexandria Ocasio-Cortez hüllte sich in einen Kommentar zur Steuerpolitik, die Brother-Vellies-Designerin Aurora James begleitete sie.

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Und dann gibt es da ja noch diese anderen Paarungen auf dem Met-Teppich: Der amerikanische Designer Jeremy Scott mit Madonna-Tochter Lourdes Leon, Givenchy-Designer Matthew M. Williams wie er die Robe von Kendall Jenner zurechtzupft, Rosé von Blackpink an der Seite von Saint Laurents Anthony Vaccarello. Wen das spontan an diese Bilder von stolzen Züchtern mit ihren Prachtexemplaren auf Hunde-, Kaninchen oder Pferdeschauen erinnert – genau! Das Prinzip ist im Grunde das gleiche. Die Met Gala ist die größte Leistungsschau der Modewelt, die Models hochgerüstete »Clotheshorses«, an denen die Designer ihre kühnsten Kreationen präsentieren.

Gemeinsame Auftritte von Meister und Muse gab es natürlich schon früher, etwa zu Zeiten von Yves Saint Laurent und Valentino, heute gibt es sie immerhin auch in zeitgemäßer Variante: An der Seite von Alexandria Ocasio-Cortez war die Brother-Vellies-Designerin Aurora James zu sehen, Schauspielerin Gillian Anderson wurde von Gabriela Hearst begleitet, die ihr Chloé-Kleid entworfen hatte. Fehlt nur noch eine Designerin neben einem männlichen Prachtexemplar. Vielleicht im nächsten Jahr.

Typischer Instagram-Kommentar: »Pfiffi, mach Sitz!«
Passender Song: You belong with me (Taylor Swift)

Gute Männer: Troye Sivan, Shawn Mendes, Evan Mock

Troye Sivan

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In der Mode nimmt die Emanzipation der Männer weiter ihren Lauf: Schon bei den VMA Awards am Abend zuvor sahen sie (Lil Nas X in dieser lilafarbenen Off-Shoulder-Robe, Troye Sivan in bauchfreier Fendi-Kombination) irgendwie frischer aus als früher. Auch bei der Met Gala kamen sie oft lässiger, oder sagen wir: weniger drüber daher. Der Australier Troye Sivan und Shawn Mendes scheinen in einen inoffiziellen Wettstreit um die besten genderfluiden Looks getreten zu sein. Diesmal trug Sivan ein langes, vorn weit ausgeschnittenes Tankdress von Altu mit einem hübsch funkelnden Cartier-Collier dazu, während Mendes in Ledersakko nur mit Sixpack drunter erschien. Timothée Chalamet erwähnen wir gar nicht mehr, der liegt eh immer richtig. Bester Neuzugang: Evan Mock aus Gossip Girl in einem Vintage-Anzug von Thom Browne mit Sicherheitsnadel-Verzierung und, klar, kurzer Hose.

Wird auch getragen von: Gefühlt der halben Generation Z
Passender Song: Girls and Boys (Blur)

Neue Frauen: Emma Raducanu

Kommt einem Grand Slam nahe: Tennisspielerin Emma Raducanu in Chanel.

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Kein Ball ohne Debütantinnen – das Wort an sich klingt natürlich reichlich bescheuert, trifft den Umstand, dass hier jemand zum ersten Mal aufläuft beziehungsweise von der Modewelt die Ehre erwiesen bekommt, aber immer noch ziemlich gut. Die 18-jährige Tennissensation Emma Raducanu hat gerade erst die US-Open gewonnen und schwups, schon landete sie auf der begehrtesten Gästeliste des Jahres, obendrein durfte sie direkt mit in den besten Stall: Chanel hat als französisches Haus zwar wenig mit dem diesjährigen Met-Motto »In America: A lexicon of fashion« zu tun, aber wen interessiert der Dresscode, wenn man dafür echtes C-H-A-N-E-L tragen kann? Und bei Leuten wie Kristen Stewart, Margaret Qualley und Lily-Rose Depp im Team ist? Grand Slam.

Typischer Instagram-Kommentar: »Naomi wer?«
Das sagt die Mittvierzigerin: »Ich glaub, ich hol meinen Tennisschläger auch mal wieder aus dem Keller.«

Alte Gesten: Kaia Gerber und Billie Eilish

Wo haben Kaia Gerber und Billie Eilish diese Geste gelernt?

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Es muss ja nicht gleich die Merkel-Raute sein, aber wer hat Billie Eilish und Kaia Gerber bloß eingeredet, dass dieses Finger-tapsig-nach-unten-hängen-lassen irgendwie ladylike sei? Die zwei sind natürlich viel zu jung, um zu wissen, welche Geste sie da eigentlich machen: Die alte Palmolive-Nummer, »Sie baden gerade ihre Hände drin«. 80er-Jahre-Spülmittelwerbung statt 20er-Jahre-Glamour. Hm.

Das sagt die Stylistin: »Nächstes Jahr kriegst du eine Handtasche zum Festhalten.«
Passender Song: Let loose (Rayelle)