Im Schloss zuhause

Aylin Langreuter und ­Christophe de la Fontaine führen gemeinsam eine Möbelfirma und ziehen am selben Ort ihre Kinder groß: in einem alten Schloss in Niederbayern. Ein außerordentlicher Haus­besuch.  

Aylin Langreuter, 43, und Christophe de la Fontaine, 42, in ihrem Schlafzimmer, vor ihrem Paravent »Minima Moralia«.

Das ist ein Schloss? Ein Ausflugsziel, eine Filmkulisse, ein Symbol von Macht und Gewalt, ein Märchenschauplatz, ein Relikt. Für die Künstlerin Aylin Langreuter, 43, den Industriedesigner Christophe de la Fontaine, 42, und ihre zwei Kinder Lee und Emil ist ein Schloss das Zuhause, der Arbeitsplatz, die Zukunft. Und es passt schon ziemlich gut, dass gerade Langreuter und de la Fontaine, die zusammen die Möbelfirma »Dante Goods and Bads« führen, sich also von Berufs wegen damit auseinandersetzen, wie man den Dingen Bedeutung verleiht, vor mehr als fünf Jahren an diesen Ort gezogen sind, in das Schloss Haggn in Neukirchen in Nieder­bayern, der wie wenige andere Orte nur so strotzt vor Bedeutung.

Man sieht das Schloss nicht. Jedenfalls nicht von Weitem. Schloss Haggn, ein weißer Kasten mit drei Türmen, liegt versetzt in einer Seitenstraße hinter einem alten Holzschober. Fest umwachsen ist es, von dichten Ahornen, Obstbäumen und Büschen, der Wassergraben ist mit den Jahrhunderten ausgetrocknet.

Das Schloss bietet vor allem Platz: 650 Quadratmeter Wohnfläche, 5000 Quadratmeter Garten mit Kapelle.

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Noch bevor man einen Fuß durch das schmiedeeiserne Eingangstor gesetzt hat, fragt man sich: Wenn diese Wände sprechen könnten, wovon würden sie erzählen wollen? Von den vielen Tieren, deren Köpfe einst von der Schlachtbank kullerten, einem riesigen Holzblock, der immer noch in einer Ecke des Esszimmers steht? Von den Vasallen, die widerwillig kamen, um dort, wo heute Mäntel hängen und die Wäsche gefaltet wird, ihre Steuern an ihre Lehnsherren zu entrichten? Von den Tränen der Töchter, die ihre Nächte eingesperrt in ihrem Turmzimmer verbringen mussten, aus dem nur eine Tür auf die Altane, also nach draußen auf den Balkon führte, aber nicht direkt ins Schloss, und in dem heute Gäste schlafen?

Langreuter und de la Fontaine haben nicht ins Grundbuch geschaut, als sie Schloss Haggn 2014 kauften. Sie haben auch nie im Heimatbuch geblättert, das oben im Regal steht, um mehr über die Geschichte ihres Schlosses zu erfahren, das 1336 erstmals ­urkundlich erwähnt wurde. »Nicht aus ­Respektlosigkeit«, sagt de la Fontaine, »sondern einfach, weil wir so sehr im Hier und Jetzt leben«, sagt Langreuter.

Langreuter und de la Fontaine haben das Schloss Haggn eingerichtet wie eine normale Wohnung: in einem Mix aus Flohmarkt-Funden, Designermöbeln und Objekten, die sie schon lange begleiten, einer seltsamen Katze aus Keramik zum Beispiel.

Ob Reihenhaus oder Plattenbau, Altbauwohnung oder Bauernhaus, jedes Bauwerk be­einflusst die Menschen, die es bewohnen. Architektur kann beengen und befreien, kann Menschen unterwerfen und zu Größerem anstiften. Aber welche Wirkung hat ein Schloss, über das man kaum etwas weiß? Was macht ein Ort, der einst den wenigen vorbehalten war, heute mit Menschen, die zu den vielen gehören?

Zunächst einmal bietet er Platz. Sehr viel Platz: acht Zimmer, 650 Quadratmeter Wohnfläche, davon 250 für Dante Goods and Bads, 5000 Quadratmeter Garten mit Kapelle, ­Obstbäumen, Rasen und kleinem Nebengebäude, dem Stöckl. Danach hatten die beiden vor gut fünf Jahren gesucht: nach einem Haus, das Platz bietet für ein Leben zu viert, obendrein für eine Firma mit zwei weiteren Mit­arbeitern und einem Praktikanten, der auch bei ihnen wohnen kann, für ein Büro, ein Atelier, eine Werkstatt, ein Lager.

Damals lebten sie in Mailand, seit rund zehn Jahren. Auch da in einem architektonischen Glücksfall, der Casa Rustici des italienischen Architekten Giuseppe Terragni, den de la Fontaine als italienischen Le Corbusier beschreibt. De la Fontaine arbeitete als Senior Designer bei der Möbeldesignerin Patricia Urquiola, Langreuter als Künstlerin. 2012 gründeten sie in Mailand ihr Label Dante Goods and Bads. Die Voraussetzungen für ihr Unternehmen waren dort ideal, die Hersteller in der Nähe, das Netzwerk gut, aber so richtig in Italien bleiben, fürs Leben, das haben sie sich nicht zugetraut. Ihre Tochter Lee musste eingeschult werden, eine Entscheidung musste her.

An manchen Ecken im Schloss ist das Schlosshafte nicht zu leugnen – besonders im Wohnzimmer mit dem bemalten Kachelofen.

Langreuter kommt aus München-Schwabing, de la Fontaine aus Luxemburg, hat aber in Stuttgart studiert, kennengelernt haben sich die beiden in der alten »Schumann’s Bar« in München, wo Langreuter früher als »Küchenschabe« arbeitete, wie sie selbst sagt. Sie begannen, sich nach Häusern und Höfen im Süden von München umzusehen. Von dort wäre es nicht weit gewesen nach Mailand, auch nicht nach Stuttgart, wo die beiden mittlerweile eine gemeinsame Professur für Industriedesign innehaben, und in die Brianza, eine Region in Norditalien, in der viele italienische Möbelhersteller produzieren lassen, so auch Dante Goods and Bads. Doch selbst für renovierungsbedürftige ­Bauernhöfe wurden in Oberbayern unglaubliche Preise aufgerufen, sie vergrößerten den Suchradius in Richtung Osten, de la Fontaine klickte auf einer Immobilienseite im Internet auf »Sonstiges« – und da erschien das Schloss.

Im Februar 2014 fuhr Langreuter zur Besichtigung. Worauf muss man bei einer Schlossbesichtigung achten? »Auf das Dach!«, antwortet das Paar unisono. Schloss Haggn hat ein riesiges Krüppelwalmdach. Es zu erneuern, hätte ihr Budget gesprengt, aber der Dachstuhl war stabil, das Dach in Ordnung. Sieben Monate später sind sie eingezogen. Bezahlt haben sie in etwa so viel wie für eine Zweieinhalbzimmerwohnung in der Münchner Innenstadt.

Ein Schloss? In Niederbayern? Seid ihr übergeschnappt? So in etwa habe ihr Umfeld reagiert. »Uns ist viel Unverständnis entgegengeschlagen«, erzählt Langreuter. Und: »Ein Bauernhof hätte es auch getan.« Man nimmt ihr diesen Satz ab, so schnell wie sie, Tochter von Hippie-Eltern, während der Schlossbesichtigung von Raum zu Raum eilt: Es scheint, als wolle sie unter keinen Umständen als Schlossherrin wahrgenommen werden, die stolz ihre Besitztümer präsentiert. Sie liebt dieses Schloss, das ihr ­Zuhause geworden ist, das merkt man, aber angeben – auf keinen Fall.

Das Wohnzimmer als Galerie: Stühle und nie produzierte Entwürfe von Dante Goods and Bads treffen auf Prototypen, die de la Fontaine für frühere Arbeitgeber gemacht hat.

Bescheiden ist ein seltsames Wort, um ein Schloss zu beschreiben. Aber es wirkt tatsächlich nicht so, als hätten sich Langreuter und de la Fontaine bei der Renovierung und Einrichtung von Fragen der Repräsentierbarkeit leiten lassen. Sie haben Bäder einbauen und Doppelfenster einsetzen lassen, es wurden Böden abgeschliffen und die Wände weiß gestrichen und so die Raumaufteilung und die Atmosphäre des Schlosses weitgehend erhalten. Trotzdem schaffen es die alten Gewölbedecken und der dunkelrote Pflasterstein in der Eingangshalle kaum, sich gegen die riesigen bunten Kelim-Teppiche, die ­modernen Möbel von USM Haller und die Kunst von Aylin Langreuter zu behaupten, die einige ihrer »Laschenbilder«, lackierte Stahlblechplatten in Karminrot und Pfirsichfarben, an die Wand gehängt hat. Schnell wird klar: In diesem Haus wird gelebt, hier wird gearbeitet, hier lässt man besser seine Schuhe an, weil es selbst an einem heißen Julitag kühl bleibt.

Von der Eingangshalle geht es links ins Büro, rechts ins Wäschezimmer, in dem jahrhundertelang die Steuern eingetrieben wurden. »Der Raum hatte als einziger im Haus schlechte Vibes«, sagt Langreuter. Weiter in die Küche, die von einem überdimen­sionalen Abzug beherrscht wird, unter dem früher das offene Feuer geschürt wurde und wo nun ein Herd steht.

Hinter der Küche, das Esszimmer: der ­älteste Teil des Schlosses, wo die Wände mehr als einen Meter dick sind. Im Esszimmer mit Vitrine und abstrakter Malerei an der Wand wird nur gegessen, wenn Besuch da ist. Dahinter Vorratskammer und Werkstatt, die einmal die Wildkammer war und in der das Staubsaugen in den ersten Wochen nach dem Einzug stets vom Klingeln der Schrotkugeln begleitet wurde, die dort über die Jahrhunderte aus dem Wild gepult und auf dem ­Boden entsorgt worden waren.

Dante Good and Bads

Im Erdgeschoss befindet sich auch das Büro von Dante Goods and Bads, zwei Mitarbeiterinnen telefonieren, der Praktikant Levin kommt rein, er hat Fragen zur richtigen Verpackung einiger Tischbeine. Je länger man mit Langreuter und de la Fontaine über ihre Firma spricht, desto mehr verschmilzt ihr Gesagtes zu einem einzigen ­Redefluss. Und so natürlich, wie sie sich im Gespräch ergänzen und vervollständigen, so haben sie sich auch die Arbeit für Dante Goods and Bads aufgeteilt: Zuerst wird gemeinsam überlegt, was entstehen soll, ein Tisch, eine Lampe, ein Sessel, dann ent­wickelt de la Fontaine, der studierte Industriedesigner, die Möbel, baut die Prototypen, wählt die Materialien und kümmert sich um die Abwicklung der Produktion und der ­Logistik. Langreuter, die Künstlerin, fungiert als Art-Direktorin. Sie gibt Denkanstöße und entwickelt die Themen, die sie jeder Kollektion voranstellen: Zum Beispiel haben sie nach ihrem Umzug ins Schloss eine Kollektion mit dem Titel Scenes from the Prairie erstellt, für die sie den klassischen Tiroler Stuhl unter dem Namen »Bavaresk« modernisiert haben. »Diese Kollektion hätten wir sicher nicht gemacht, wenn wir nicht aufs bayerische Land gezogen wären«, sagt Langreuter. Außerdem sucht sie für jede Kollektion eine Art Chaperon oder Sparringpartner, etwa eine Fotografin wie Camille Vivier oder einen Barmann wie Charles Schumann, die ihre Arbeit begleiten. Sie geben Input, Schumann hatte auch konkrete Wünsche: Er wollte einen Champagnerkühler und Kupferbecher für seine Bar und bekam sie. Ein wenig steckt diese Arbeitsaufteilung auch im Namen ihrer Firma, jedenfalls in dem Goods and Bads: Goods steht für die Güter, die Möbel, die sie entwerfen. Bads aber steht für die »Böser«, wie Langreuter erklärt. Der Begriff stamme von dem tschechischen Medienphilosophen Vilém Flusser, der mal in einem Aufsatz geschrieben habe, dass es doch, wenn es Güter gebe, auch Böser geben müsse.

Langreuter, die in ihrer Kunst immer wieder mit Elementen der Irritation und des Ekels arbeitet, gefiel dieser Gedanke. Gerade beschäftigt sie sich mit dem Begriff des Sendungsbewusstseins und der Elektrifizierung der Natur und versieht zum Beispiel Steine mit Antennen oder fertigt Stiche an, die wirken wie aus dem Hochmittelalter, aber Lautsprecherboxen zeigen. Langreuter, die auch Philosophie studiert hat, besitzt einen Sinn fürs Makabre, sie füttert das Label mit den Bösern, den Dingen, die vielleicht nicht auf den ersten Blick gefallen und manchmal sogar abstoßen. Vor ein paar Jahren haben sie einen Beistelltisch auf einen Elefantenfuß gestellt. Der Elefantenfuß war nicht echt, sondern von einem Taxidermisten naturgetreu ab­gegossen. Auf der Mai­länder Möbelmesse aber habe sein Anblick eine Frau komplett aus der Fassung gebracht, erzählt de la Fontaine. Und genau darum gehe es: auch mal mit Sehgewohnheiten zu brechen und die Erwartungen an Verkäuflichkeit und Gefälligkeit, die an einen kleinen Möbelhersteller wie sie gestellt werden, zu unterlaufen.

Das geht natürlich nur, wenn die Schocker in der Minderheit bleiben. Der Großteil der Möbel von Dante Goods and Bads ist leicht zu lieben. Sei es ein gefalteter Paravent, der jeden Raum zärtlich zweiteilt, ein knautschiger Sessel, der auf dünnen Beinchen steht, gefertigt aus ­einer ganzen Lederhaut, den der Münchner De­signer Stefan Diez für sie entworfen hat, oder der Barwagen mit dem Namen »Come As You Are«, frei nach dem Nirvana-Song.

Der Barwagen steht prototypisch für die Art von Möbeln, die Dante Goods and Bads macht: weil er sich eigentlich überholt hat. Die Menschen brauchen keine Wägelchen mehr, um Getränke oder Speisen aus der ­Küche in die gute Stube zu transportieren. Der Barwagen gehört in eine andere Zeit, und genau darum haben sie ihn produziert. »Unsere Möbel sollen zwischen den Zeiten exis­tieren«, sagt Langreuter. Nicht von ges­tern sein, aber auch nicht zu sehr in der Zeit stehen. »Wenn wir merken, dass wir mit ­etwas zu sehr im Trend liegen, versuchen wir, den Fuß schnell wieder aus dieser Pfütze rauszunehmen«, sagt de la Fontaine.

Diese Beschreibung trifft auch auf sie selbst und ihr Leben im Schloss zu. Auch sie be­wegen sich hier zwischen den Zeiten. Eine ­Ahnung davon bekommt man besonders im Wohnzimmer des Schlosses, das voller Pro­totypen von Möbeln steht, die de la Fon­taine noch in seinem alten Job bei Patricia ­Ur­quiola entworfen hat und für Dante Goods and Bads. Die cremefarbenen Ledersofas und weißen Regale aus den vergangenen Jahren wirken in dem hohen Raum mit dem gewaltigen, prunkvollen, in Pastellfarben bemalten Ofen aus Porzellan seltsam fehl am Platz und vielleicht deshalb genau richtig.

Je länger man sich im Schloss aufhält, ­des­to weniger schlossig kommt es einem ­vor. Die Räume oben sind riesig, die Dielen ­meterbreit und jahrhundertealt, man kann noch das Plumpsklo am Ende der Altane besichtigen, und an den Türen hängen Glöckchen, die früher direkt in die Küche ­zu den Bediensteten führten. Trotzdem schrumpft das Schloss mit jedem Raum, den man betritt, mehr und mehr zu einem normalen Einfamilienhaus zusammen.

Es wirkt, als hätte die Familie Langreuter-de la Fontaine die früheren Bedeutungen des Schlosses – Symbol der Macht, Märchenschauplatz, Relikt – überschrieben. Vielleicht schon in den ersten zwei Wochen, als sie noch mit Freunden und Familie auf der Baustelle campierten und Aylin Langreuter im Kessel über offenem Feuer auf dem Schlosshof für alle Gulasch kochte. Damals haben sie sich im Blaumann, mit Cuttermesser in der rechten und Handschuhen in der linken Tasche, das Schloss Winkel für Winkel, Fens­ter für Fenster angeeignet, so erzählt es de la Fontaine. Und so auch die früheren Zeiten, für die ihr Schloss Haggn einmal stand, weggewischt. Dazu braucht man keine Heimatbücher oder Grundbucheinträge. Dazu muss man einen Ort einfach beleben. Und vielleicht ist genau dies das Geheimnis von gutem Design: dass es leicht zum Leben zu erwecken ist.