Heute feiern wir eine Premiere – du bist der erste Gast bei „Auf ein Glas Wein mit...“, der selbst Wein zum Interview mitbringt. Bei den bisherigen Gästen habe ich etwas ihrer Vita und Person entsprechend ausgesucht. Heute lasse ich mich mal überraschen.
Tim Raue: (lacht) Das hätte mich aber interessiert. Was hättest du für mich ausgesucht?
Möglicherweise habe ich zur Sicherheit noch etwas hier im Kühlschrank versteckt, man weiß ja nie.
Da bin ich gespannt (lacht).
Es gibt einen bekannten Weinhändler aus Hamburg, Hendrik Thoma, der mal über dich gesagt hat: „Tim Raue gehört für mich zu den wenigen Köchen des Landes, die sich beim Thema Wein tatsächlich auskennen und eine Meinung haben.“ Dann wollen wir mal sehen. Magst du uns etwas einschenken?
Dazu kann ich gleich eine kurze Geschichte erzählen (lacht und schenkt ein).
Ist es denn tatsächlich so, dass sich die meisten Köchinnen und Köche eher auf das Essen statt auf den Wein konzentrieren?
Die Köchinnen und Köche, die ich kenne, trinken alle ziemlich gerne. Was sehr oft getrunken wird, ist Schaumwein. Das macht Spaß und ist erfrischend nach so einem Arbeitstag. Ich selbst habe das früher auch gerne getrunken, leider hat mir irgendwann mein Verdauungstrakt einen Strich durch die Rechnung gemacht. Kein Weißwein, kein Schaumwein mehr. Ich trinke nur noch Rotwein.
Wie kam bei dir das Interesse für Wein?
Mein damaliger Chef meinte: Es gibt zwei Positionen in jedem Restaurant, die ganz schwierig sind: der Pâtissier und der Sommelier. Laut ihm hat der Patissier immer fünf Kilo von der Schokolade, die er nicht braucht. Er ist also zwar ein Kreativer, aber Logistik und Struktur muss man selbst in die Hand nehmen. Der Sommelier hingegen ist super enthusiastisch. Jedoch will er erst für 30.000 Euro Wein kaufen und ist dann nach 18 Monaten wieder weg. Dann kommt der Nächste und sagt: „Das Zeug kann ich nicht ausschenken.“ Ich habe also gelernt, dass man in diesen Bereichen als Koch eigenes Wissen haben muss, um das zu kompensieren. Also habe ich mir mit 21 gesagt: „Dann bringe ich es mir halt selbst bei.“
Wie bist du vorgegangen?
Ich habe mir damals alle Bücher gekauft, die ich zu dem Thema finden konnte. Auf deutsch, auf englisch, habe die Weinführer Hugh Johnson und Robert Parker gelesen. Und dann habe ich mit meiner damaligen Frau alles durchgesoffen. Wir haben alles von fünf Euro Toskana bis 500 Euro Bordeaux getrunken. Im nächsten Schritt habe ich Hendrik Thoma kennengelernt, der mich immer zu Blindverkostungen mitgeschleppt hat. So habe ich langsam und stetig dazu gelernt. Als Sommelier könnte ich allerdings niemals arbeiten, weil mich der Wunsch des Gastes nicht interessiert.
Also frei nach „Übung macht den Meister“?
Bei Blindverkostungen lernt man abseits der Etikette und des Vorurteils etwas zu genießen. Ein guter Vergleich ist, wenn man mit verbundenen Augen drei Pullis anzieht. Einen aus Polyester, einen aus Baumwolle, einen aus Kaschmir. Da braucht man den Pulli nicht anzugucken, man spürt den Unterschied – egal wie der Schnitt oder die Farbe ist. Beim Wein musste ich ebenso erst einmal herausfinden, welche Rebsorte ich gerne mag. Von Anfang an mochte ich restsüße Rieslinge. Oder sagen wir besser: Ich habe sie angebetet.
Welchen Wein hast du mitgebracht?
Es gibt zwei Sachen, die mich in meinem Leben geprägt haben. Das erste war, als ich Markus Schneider vom Weingut Schneider aus der Pfalz kennengelernt habe. Markus ist zwei Meter groß, ein bulliges Kerlchen. Er ist jemand, der damals vieles anders gemacht hat als alle anderen. Er hat Weine gemacht, die provokant und laut waren. Der „Steinsatz“ aus 2003 ist der erste Jahrgang dieser Idee von damals. Dieser Wein kommt aus seiner Schatzkammer, extra für heute hat er ihn mir geschickt.
Der andere Wein ist eine Cuvée aus dem Jahr 2016. Er heißt „Komplex“ und wurde von unserem Sommelier André Macionga in enger Zusammenarbeit mit einem Weingut an der Nahe kreiert. Er hat irgendwann mal festgestellt, dass meine Gerichte vielschichtige Weine brauchen – eben das facettenreiche, das ich auch in meiner Persönlichkeit habe.
Prost!
Santé! Unglaublich geile, würzige Nase. Der Wein hat Rauch, eine Süße, wie die ganz großen Weine dieser Welt, wenn sie ausgereift sind, Kirsche – halb sauer, halb mild. Er ist seidig, präsent, er macht was, hat genug Würze um sich gegenüber meinen Gerichten zu behaupten.
Über deine Gerichte sagt man, dass sie provozieren, manchmal ein „Schlag ins Gesicht“ sind. Ist das auch der Weinstil, den du präferierst?
Die Provokation ist entstanden, weil ich gelernt habe, dass es nicht darum geht, wer du im Leben bist, sondern was du aus dir machst. Die Menschen hören dir dann zu, wenn du deine Emotionen nicht zurückhältst. Ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen – eigentlich muss man sagen aus dem untersten sozialen Niveau. Ich musste mir Sprache und Bildung selbst beibringen. Das bedeutet auch, dass ich immer danach gestrebt habe, ein Bürgerlicher zu sein. Dabei bin ich ein klassischer Arbeiter. Ich habe früh gemerkt, dass mich meine Sprache als soziale Unterschicht identifiziert hat. Deshalb habe ich damals viel geschauspielert und mich verstellt. Je erfolgreicher ich wurde, desto mehr wollte ich mein wahres Ich zeigen und nicht mehr etwas für die anderen sein. Es hat lange gedauert, bis ich mutig genug war, nicht mehr diesen französischen Kladderadatsch zu kochen. Dann habe ich den Cut gemacht. Habe gesagt „fickt euch alle“, ab morgen mache ich, was ich wirklich bin und will.
In der Netflix Serie „Chef’s Table“ wurde dein Weg „vom Gangmitglied zum Sternekoch“ nachgezeichnet. Du bist ausgezeichnet im Guide Michelin, Gault Millau, unter den „worlds 50 best restaurants“. Wie waren die Reaktionen auf solche Auszeichnungen im Vergleich zum Release der Netflix-Episode?
Wir sind absolut überrollt worden. An dem Tag, als die Episode das erste Mal gestreamt wurde, hatten wir über 40.000 Reservierungsanfragen. Wir waren über Nacht sechs Monate im Voraus ausgebucht. Das war nicht ganz so smart, gerade unsere Berliner Gäste fanden das nicht gut, dass man keinen Tisch mehr bekommen hat in unserem Restaurant. Trotz dieses Erfolges habe ich noch jeden Tag Angst, dass keine Gäste kommen. Deshalb achte ich auf jedes Detail, so bin ich einfach.
Würdest du sagen du bist ein Korinthenkacker?
Grausam! Ich bin ein pedantischer, kleinkarierter Korinthenkacker bis zum Umfallen. In meiner Arbeit bin ich in jedem Detail unfassbar schwierig. Wenn ich einen Wein machen sollte, würde ich mich fragen, ob die Kapsel 5,5 cm, 6 cm oder 6,5 cm lang sein soll. Mit mir zu leben ist ein Albtraum. Alles muss seinen Platz haben. Du kannst mich blind in meine Küche stellen, weil alles genau da ist, wo es hin gehört. Ich hatte immer Angst, in Stresssituation aus der Ruhe zu kommen. Deshalb diszipliniere ich mich jeden Tag, um nicht in die Kreuzberger Anarchie zu verfallen. Ich treibe mir das Unberechenbare aus, um nicht aus dem Bürgerlichen zurück in die Gosse zu fallen. Ich frage mich jeden Morgen: Bist du gut genug für heute?
Ist es manchmal anstrengend, Tim Raue zu sein?
Meine Stärke ist, dass ich nicht nachlasse. Wenn andere müde werden, versuche ich mich immer weiter zu entwickeln. Ich gehe mehrmals im Jahr zu Therapien, weil ich mich immer verbessern will. Als Mensch, als Chef, als Kreativer, als Koch. Ich achte heute viel mehr auf mich.
Wein bringt Leute zusammen. Welche ist die spannendste Person, die du je über Wein kennengelernt hast?
Das waren Michelle und Barack Obama. Ich habe für Milliardäre, die besten Sportler der Welt gekocht – alle hatten eine tolle Energie. Die Ausstrahlung, die die beiden Obamas aber hatten, war geprägt von Liebe, Solidarität, Offenheit, Demut, Großzügigkeit und Herzlichkeit. Den Moment werde ich nicht vergessen, weil er mir vieles gelehrt hat.
Wenn es einen Wein gäbe, den du bis zu deinem Lebensende trinken könntest, welcher wäre das?
Das wäre eine Riesling Spätlese von der Mosel.
Und jetzt rate, was noch im Kühlschrank steht. Eine Wehlener Sonnenuhr Riesling Spätlese aus 2012 vom Weingut JJ Prüm an der Mosel. Er ist aus dem Jahr, in dem du deinen zweiten Stern bekommen hast. Wenn das mal nicht passt.