Bin ich eine Zumutung für meine Mitreisenden?

Unsere Leserin möchte auf langen Zugfahrten ihre Schuhe ausziehen. Darf sie das – oder ist das selbst mit frischen Socken zu viel Anarchie?

Nachvollziehbarer Wunsch nach Bequemlichkeit oder eine Zumutung? Das Sockendilemma beim Zugfahren.

Illustration: Serge Bloch

»Ich komme aus München und arbeite als Ärztin in ­Brandenburg. Ich lebe an beiden Standorten und fahre daher viel Zug. Oft reise ich nach Nachtdiensten, so kann ich schlafen oder dösen und verliere den Tag nicht. Ich ziehe mir immer die Schuhe aus und mache es mir ­gemütlich. Ich bin nie barfuß, nehme sogar ­saubere Socken mit in den Zug, falls ich keine an­habe. Dennoch merke ich immer wieder, dass Leute sich dadurch gestört fühlen. Eine Dame hat mich ­kürzlich direkt ent­rüstet angesprochen, ich sei schließlich nicht zu Hause. Bin ich komisch, oder sind es die anderen?« Anni H., München

Zunächst einmal: Komisch sind natürlich immer die anderen! Das ist eine Regel. Es ist die einzige, an die wir uns hier halten können, denn sonst gibt es keine. Es ist nirgends vorgeschrieben, ob man sich im Zug die Schuhe ausziehen darf oder nicht, und wir müssen dies als gute Nachricht feiern. Der Zug fährt schließlich durch Deutschland, wo bekanntermaßen nur erlaubt ist, was nicht verboten ist. Ein kleines Stück Freiheit, ein Hauch von Anarchie. Neulich stand in dieser Zeitung ein Interview mit einem Soziologen über die Frage, ob es in Frei­bädern mehr Regeln braucht. Immer wieder kommt es dort zu Zusammenstößen. Der Soziologe vertrat die Ansicht, dass an den wenigen öffentlichen Orten, an denen sich Fremde aus unterschiedlichen Milieus begegnen, keinesfalls alles offiziell geregelt sein sollte. Hier werde Demokratie geübt: Wie wollen wir miteinander um­gehen? Was einem Menschen gefalle, ärgere schon mal einen anderen, so sei das nun mal in einer liberalen Gesellschaft. Immer noch besser ein paar gebrochene Nasen als ein Überwachungsstaat, so in etwa war das Fazit.

Sie sind Ärztin, Sie haben beruflich mit Menschen zu tun, verfügen idealerweise über Einfühlungsvermögen. Es gibt Situa­tionen, in denen es eher nicht passt, sich in der Bahn die Schuhe auszuziehen – etwa, wenn ein Zug übervoll ist. Man stelle sich vor, Hunderte zögen die Schuhe aus … nein, das will man nicht. Kompliziert kann es werden, wenn entrüstungsbereite Mitreisende in der Nähe sitzen. Aber es wird viele Reisen geben, auf denen sich niemand an Ihren ausgezogenen Schuhen stört. Sie müssen es von Fall zu Fall nach eigenem Ermessen entscheiden. Das ist, wie gesagt, eine gute Nachricht. Erlauben Sie mir abschließend die persönliche Bemerkung, dass ich es wahnsinnig reizend finde, dass Sie sich extra frische Socken mitnehmen.