Fuerteventura

Beim ersten Mal machte die totale Flaute einen Windsurfer depressiv. Beim zweiten Mal war es wieder windstill, aber trotzdem wunderbar: UNser Surfer ließ sein Brett einfach stecken.

Gegen Ende der Fahrt, nach ein paar sich zäh hinziehenden Nachmittagen, Momenten, in denen wir dachten, nicht nur diese Reise sei am Ende, sondern das Reisen an sich, passierte dreierlei. Erstens: Meine Gefährtin sagte gut gelaunt einen Satz, der Tage zuvor noch ungeheuerlich geklungen hätte: »Ich glaube, hier fahren wir noch einmal hin.« Zweitens: Es festigte sich der Gedanke, dass wirklich jeder und alles eine zweite Chance verdient. Drittens: Wir entdeckten einen Ort, der so schön und wild war, wie wir es selten zuvor gesehen hatten. Eine endlose Bergkette, die weich zum Meer hin ausläuft, und ein ebenso endlos langer Strand; ungefähr auf halber Höhe, zwischen Meer und Berggipfel gelegen, das einzige größere Gebäude, die »Villa Winter«. Sie wurde in den dreißiger Jahren von dem Nazi Gustav Winter errichtet und ist heute im Besitz einer spanischen Immobilien-firma. Darin Antonio, der das verfallene Anwesen gemeinsam mit seiner Frau seit Jahren bewacht und sagt: »Es ist verflucht einsam hier. Ich weiß nicht, wie oft wir schon beschlossen haben, diesen Ort zu verlassen. Aber am nächsten Morgen hat uns die Schönheit immer wieder gepackt.« Meine Flucht, so viel wusste ich nun, war gelungen.

In Deutschland herrschte ein Winter, der selbst einen Sibirer zum Weinen gebracht hätte. Er begann im Frühherbst mit der Bemerkung eines Freundes – »für Dezember ganz schön gutes Wetter« – und warf sechs Monate später, mitten im März, folgende Frage auf: Wenn man ein Auto falsch parkt und es gleich darauf vollkommen eingeschneit wird – bekommt man dann einen Strafzettel? Die besten Voraussetzungen also für eine Reise in den Süden.

Hinzu kam der feste Entschluss, es mit dieser Insel, unter Kennern nur »Fuerte« genannt, noch einmal zu versuchen. Alte Fehden einfach ruhen zu lassen. Keine schlechte Laune zu bekommen von all den Dingen, von denen hier wirklich nicht die Rede sein soll; die Neigung mancher Urlauber, sich über alles, wirklich alles zu beschweren: das Essen an Bord des Flugzeugs, die schleppende Gepäckabfertigung oder den Transport zum Traumhotel. Dort angekommen dann die Erwartung, dass José, Jesús, Javier und all die anderen dienstbaren Geister hier, 100 Kilometer vor der afrikanischen Küste, flüssiger Deutsch sprechen müssten als manche ihrer Gäste. Nicht die Rede sein soll auch von einer perversen Gleichung, die so geht: Der billigste Pauschalurlaub auf Fuerteventura kostet 400 Euro für eine Woche. Genau so viel, wie die Schleuser von einem der armen Teufel in Marokko verlangen, um ihn auf ihren altersmüden Kähnen zur Inselküste zu bringen. Weit über 1000 Flüchtlinge kommen Monat für Monat auf den Kanaren an. Glücklicherweise meist nachts, bis zum Frühstück hat die Grenzpolizei sie dann abtransportiert.

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Bei der Ankunft auch deshalb dasselbe Gefühl wie vor sieben Jahren: weg, schnell weiter. Erst einmal bis Corralejo, einem, besser: dem Ort im Norden der Insel. Weniger Deutsche, dafür mehr Engländer, eine Fußgängerzone und nur ein Hotel, in dem es sich tatsächlich lohnt abzusteigen. Das »Corralejo«, die alte Matrosenherberge. Man spaziert einfach hinein, legt 35 Euro auf den Tresen und bekommt ein gutes Zimmer mit Meerblick. Schon bei meiner ersten Reise versöhnte es mich ein wenig mit der Insel. Gerettet, zumindest vorübergehend, aber hatte mich damals ein Geschäft auf der Hauptstraße. Neben Schlauchbooten und Schwimmreifen verfügte es auch über einen erstaunlich gut sortierten Bücherstand. Den Laden gibt es noch heute, aber der weiße Plastikständer ist verschwunden. Dafür hat gegenüber nun eine Table-Dance-Bar eröffnet.

Um der Insel wirklich eine zweite Chance zu geben, das ist wenige Tage später klar, haben wir nur zwei Möglichkeiten: uns selbst grundlegend zu ändern – das ist mühsam; oder dahin zu fahren, wo auch der beste Reiseführer wortkarg wird. Rein in die Mitte der Insel, ins »Malpaís«, das schlechte Land. Wohin spanische Diktatoren Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Widersacher verbannten und wo die zähen Inselbewohner jahrhundertelang einen hoffnungslosen Wettlauf betrieben: Wann immer sie dem wüsten Boden etwas abgewonnen hatten, krude Dinge wie Salzkraut und Kalk, kam eine der anderen Inseln, die über mehr Süßwasser verfügen, und produzierte denselben Rohstoff einfach billiger.

Schon nach einer halben Stunde Fahrt taucht ein Landhaus auf, drum herum ein Garten, der aus der Ferne aussieht wie ein zu groß geratenes Terrarium. Kakteen unterschiedlichster Formen mit Blüten in allen Größen. Dazwischen Ziegen, Schafe und ein dösendes Kamel. Der Hof gehört Mario Tur, dessen Vater nicht nur ein zäher, sondern auch ein schlauer Bauer war. Nur aus herumliegenden Steinen trug er vor fünfzig Jahren das Haus und die Mauern zusammen. Den Tabak baute er auf der Lava des nahen Monte Arena an, denn die Schlacke bindet die Feuchtigkeit, die die starken Passatwinde über die Insel tragen. Vor acht Jahren hat Mario Tur begonnen, den Hof zu einer Art Musterkolonie auszubauen. »Das ist eine unwirtliche Gegend hier«, sagte er. »Aber das heißt doch nicht, dass sie nicht schön sein kann.«

Fuerteventura war die Letzte der Inseln des Archipels, die touristisch erschlossen wurde. Bis in die siebziger Jahre lebten die Menschen hier von Ziegenhaltung und Fischfang, dann kam die erste Meerwasserentsalzungsanlage und mit ihr TUI, Robinson und ein für die Inselbewohner völlig ungewohnter Wohlstand. Inzwischen versuchen sie wieder etwas Authentizität zurückzugewinnen. Manchmal gelingt das mit einer Lässigkeit, die nicht sofort an das Etikett »auténtico« erinnert. Im Hotel »Casa de los Rugama«, im Landesinnern gelegen, mit den großzügigen Suiten, Holzfußböden, Pool und einem guten Restaurant; in verschlafenen Orten wie Pájara, die das Geld, das die Gemeinden in den Küstenorten verdienen, in die alte Architektur stecken; auf den alten Wanderwegen, die wieder begehbar gemacht wurden und die trotzdem kaum jemand benutzt. Einer der schönsten von ihnen führt von Vega de Río Palmas bis an die Küste nach Ajuy. Vorbei an Palmenhainen und einem Stausee, dann den Berg hinunter bis zu einer kleinen Kapelle, die über einem schmalen Tal thront.

Der erste Besuch auf der Insel, inzwischen fast vergessen: Geplant war er zu dritt, dann sprang zwei Wochen vor der Abfahrt die Freundin ab, eine Woche später der gute Freund. Surfen, dachte ich, muss man eh allein, und fuhr trotzdem. Dass ich nur rudimentäre Kenntnisse des Sports besaß, war dabei noch das kleinere Problem. Das größere: absolute Windstille. Sie begann exakt in dem Moment, als ich die Insel betrat, und schien sich täglich zu steigern. Ich reiste rastlos von einem so genannten Surfspot zum nächsten und verbrachte Stunden am Strand im Schatten ausgestorbener Verleihstationen. Die Tiefpunkte aber erreichte meine Reise in den Abendstunden. Wenn ich um halb sieben zum Essen ging, wusste ich spätestens um halb neun nicht mehr, was tun. Ging ich erst um acht Uhr, war ich bis dahin schon fast wahnsinnig geworden vor lauter Untätigkeit. Andere Menschen hätten die Wetterkarte studiert und das Ergebnis locker genommen: Sonne, Strand und ein paar Bücher. Ich dagegen kam nicht einmal auf die Idee, mir einen Motorroller zu leihen und die Insel zu erkunden.

Dabei ist der Westen einer der schönsten Küstenstreifen, die es in Europa zu sehen gibt. Schroffe Steilküste wechselt sich ab mit schwarzen Stränden aus Lavagestein, dazwischen ein paar kleine Orte, die nur über Staubstraßen zu erreichen sind. Am Ende einer solchen Piste dann ein fantastischer Blick auf das Wrack der »American Star«. Ein Ozeanriese aus Zeiten, als Schiffe noch wie Schiffe aussahen. In den neunziger Jahren wurde er ausgemustert, ein ukrainischer Schlepper sollte ihn zum Abwracken nach Thailand bringen, ließ ihn aber vor Fuerteventura vom Haken. Jetzt liegt er da, ein imposanter Beweis für die Gewalt dieses Meeres.

Wie kleine, feste Polster wappnen einen diese Eindrücke vor dem Horror, den die Insel auch jederzeit aufzubieten hat. Er heißt zum Beispiel Jandía, dort gibt es »original Schweinshaxe« zu Mittag und die Urlauber sind in Bauten untergebracht, die in Schichten entlang des Berges gestapelt wurden. Man muss da durch auf dem Weg zum Strand von Cofete, spätestens nach einer dreiviertel Stunde ist das alles aber wieder vergessen. Oben auf dem Pass, wenn sich der Strand und die Berghänge vor einem ausbreiten und in der Mitte die »Villa Winter« zu sehen ist.

Zum Ende der Reise noch eine letzte Prüfung. Am Ort der größten Demütigung. Um den endgültigen Beweis dafür anzutreten, dass die zweite Chance zu Recht gewährt wurde. Hotel Sol Gorriones, sieben Stockwerke, all inclusive, daneben die größte Surfschule der Welt. 1986 wurde hier mit 84 Stundenkilometern ein Weltrekord im Windsurfen aufgestellt. 1999 lieh ich mir aus lauter Überdruss dann doch ein Brett, fiel bei Windstärke eins ins Segel und zerriss es. Eine Surflehrerin übergab mir anschließend wortlos die Rechnung. Ich erinnere mich noch genau, wie gut sie dabei aussah.

Heute: Drinnen im Zimmer läuft auf ARD die tausendste Folge von Graupelschauer in Deutschland. Draußen Strand, die Sonne und das Gefühl, für den Moment genau am richtigen Ort zu sein. Nicht einmal der Anblick der Surfstation, sieben Stockwerke unter uns, stört.

HOTEL Corralejo: 8 der 20 Zimmer haben Meerblick, Doppelzimmer ab 35 Euro, Corralejo, Delfin 1, Tel. 0034/928/86  73 44; Casa de los Rugama: 12 Zimmer und Suiten, Doppelzimmer ab 40 Euro, Casillas del Ángel, bei Kilometer 10 auf der Hauptstraße, Tel. 0034/928/53 82 24; Sol Gorriones: 431 Zimmer und 144 Casas del Mar, vier große Pools, zwei Tennisplätze, Doppelzimmer ab 55 Euro, Playa Barca, Pájara, Tel. 0034/928/54 70  25, www.solmelia.com.

RESTAURANTS La Era de Casillas: frisches Zicklein, Lamm und Spanferkel, am besten al horno (aus dem Ofen), Casillas del Ángel, bei Kilometer 10,8 auf der Hauptstraße, Tel. 0034/928/53 82 34, tgl. 13–16.30, 20–23.30 Uhr; Casa Don Antonio: gute kanarische Küche, serviert in einem alten Herrenhaus mit schattigem Patio, Vega de Río Palmas, am Kirchplatz, Tel. 0034/928/ 87 87 57, Mi–So 11–17, Fr–Sa 11–22 Uhr.

AUSFLÜGE Strand von Cofete, Staubstraße hinter Moro Jable, Richtung Puertito de la Cruz, nach 11,5 Kilometern nach rechts die Berge hinauf abzweigen, kein Hotel, aber eine einfache Bar; das Wrack der »American Star«, Straße von Pájara nach La Pared, kurz vor Kilometer 3 auf die Schotterpiste abzweigen. Auf dem Weg zur Küste nach 3,7 Kilometern links abbiegen, an den Richtungssteinen zum Strand »La Solapa« (nach 300 Metern) und zum Strand »Garcey« (2,4 Kilometer) vorbei, dann noch 600 Meter bis zum Aussichtspunkt; Landhof La Rosita, Straße von Corralejo nach La Oliva, Kilometer 6,7, geöffnet tgl. außer sonntags.