Schwer: in Ordnung

Seit Ewigkeiten lassen wir uns vom Mythos Idealgewicht knechten. Dabei ist längst klar: Fitte Dicke sind gesünder als schlappe Dünne. Höchste Zeit, dass die Verfechter des Schlankheitswahns ihr Fett wegkriegen.

Zur Vorspeise gab es Salz und Öl. Die Gäste konnten zwischen verschiedenen Körnungen und Herkunftsregionen wählen, der Hausherr erläuterte die Details. Die Öle kamen aus kretischen und apulischen Hanglagen, das Salz aus dem Himalaja und aus Norwegen. Zudem war Fleur de Sel im Angebot, die abgeschöpfte Sole von verdampftem Meerwasser. Man tropfte sich einen Klecks Öl auf übergroße weiße Teller, tunkte italienisches Brot hinein und nahm mit der feuchten Pampe ein paar Salzkörner auf.

Unter den Anwesenden war niemand, dessen Body-Mass-Index jenseits der 25 lag. Alle sahen schlank, gesund und gut aus. Die Oberschicht hat sich ein paar neue Abgrenzungsrituale zugelegt. Natürlich erzählt man immer noch gern vom aufwühlenden Konzerterlebnis oder der letzten Vernissage, aber Menüfolgen und ausgefallene kulinarische Vorlieben sind längst genauso beliebt, um sich der Zugehörigkeit zu einer höheren sozialen Schicht und Einkommensklasse zu vergewissern. Allein das connaisseurhafte Geschwätz über Wein ist etwas in Verruf geraten, seitdem auch Lohnbuchhalter und Diplomingenieure Weinseminare buchen. Die gespaltene Gesellschaft zeigt sich aber nicht nur daran, ob jemand Fasan statt Fastfood kauft. Wichtig ist nicht nur, was in den Körper hineinkommt, sondern auch, wie der Körper geformt ist. In der aktuellen Debatte um dicke Deutsche und die Volkskrankheit »Übergewicht« geht es nicht nur um eine Massen-, sondern auch um eine Klassenfrage. Im Streben nach Schlankheit verbindet sich die protestantische Verzichtsethik einer aufstrebenden Mittelschicht mit dem Genussideal der Toskana-Fraktion. Erlaubt ist, was kulinarisch-kulturell adelt - und nicht dick macht.

Gerade erst hat das Kabinett sogar einen »Nationalen Aktionsplan« vorgestellt, mit dem das Ernährungs- und Bewegungsverhalten der Bundesbürger bis 2020 verbessert werden soll. Dabei müsste man den Begriff »Übergewicht« aus medizinischer Sicht längst streichen - oder ihn umbenennen: in Idealgewicht.

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Was Menschen mit Bauchansatz schon lange ahnen, bestätigt inzwischen die Wissenschaft: Wer geringes bis mittleres Übergewicht auf die Waage bringt, lebt am längsten und ist weniger anfällig für Krankheiten. Ausreden wie »schwere Knochen« oder »Veranlagung« sind überflüssig. Die Gefahr, an diversen Leiden zu erkranken, steigt erst mit erheblichem Übergewicht an. Daher sollten Ärzte endlich Schluss machen mit dem Gerede um die Idealfigur.

»Wenn Sie sich gut fühlen, sich einigermaßen regelmäßig bewegen und Ihr Doktor mit den Labor- und Untersuchungsergebnissen zufrieden ist, weiß ich nicht, warum Sie Ihr Gewicht ändern sollten«, sagt der amerikanische Arzt Mitchell Gail. Ob jemand tatsächlich ein Gewichtsproblem hat, ist subjektiv. Deshalb wurden von Medizinern immer wieder Grenzwerte festgelegt. Die Einteilung in Normal- und Idealgewicht nach dem Broca-Index gilt inzwischen als veraltet, ist aber immer noch die gebräuchlichste.

Dabei werden von der Größe in Zentimetern hundert abgezogen und ergeben das Normalgewicht. Bei 180 Zentimeter Größe entspräche das achtzig Kilogramm. Das Idealgewicht läge um zehn Prozent darunter, in diesem Fall bei 72 Kilogramm. Mittlerweile wird das Gewicht meist nach dem Body-Mass-Index (BMI) eingeteilt. Das klingt wissenschaftlicher. Der BMI errechnet sich, indem das Gewicht durch die ins Quadrat genommene Körpergröße (in Metern) geteilt wird. Bei 1,80 Meter Größe und 80 Kilogramm Gewicht liegt der BMI demnach bei 24,7 (80 geteilt durch 1,8 x 1,8).

Die Weltgesundheitsorganisation definiert vier Gewichtskategorien: Von Untergewicht sprechen Mediziner bei einem BMI unter 18,5. Liegt der BMI zwischen 18,5 und 24,9, gilt dies als Normal- oder Idealgewicht. Als Übergewicht gelten BMI-Werte im Bereich zwischen 25 und 29,9. Ab einem BMI von 30 ist von Adipositas, also Fettleibigkeit die Rede. Die strengen Maßstäbe, nach denen Übergewicht bereits bei einem BMI von 25 beginnt, wurden erst 1996 von der WHO festgelegt. Als die Nationalen Gesundheitsinstitute der USA (NIH) die neue Definition im Jahr 1998 übernahmen, wurden auf einen Schlag 35 Millionen beschwerdefreie Amerikaner zu übergewichtigen Risikoträgern.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Eine riesige Diät- und Lebensmittelindustrie lebt davon, Menschen ein schlechtes Gewissen und Gesundheitsrisiken einzureden.)

Dabei wissen Ärzte schon lange, dass fitte Dicke meist gesünder sind als schlappe Schlanke. Denn auch Körperbau und Trainingszustand spielen eine Rolle, werden im BMI aber nicht berücksichtigt. Die Verteilung des Fettgewebes beeinflusst das kardiovaskuläre Risiko entscheidend. Ein Speckring um den Bauch - die typische Apfelform - erhöht das Risiko für Gefäßverkalkung und Herzinfarkt viel stärker als eine ähnlich große Fettdemonstration an der Hüfte, die sogenannte Birnen- oder Rubensform.

Wie wenig aussagekräftig der Body-Mass-Index und sein Grenzwert von 25 sind, zeigen Beispiele: Für 1,80 Meter Größe läge die Spanne des Übergewichts zwischen 81 und 98 Kilogramm. Boxweltmeister Wladimir Klitschko (1,98 Meter Größe, 110 Kilogramm) wäre übergewichtig und würde eher zur Fettleibigkeit als zum Normalgewicht neigen, er hat einen BMI von 28,1. Auch Oliver Kahn brachte am Ende seiner aktiven Zeit bei 1,88 Meter Körpergröße 91 Kilogramm auf die Waage und wäre mit einem BMI von 25,7 leicht übergewichtig.

Die Gefahren durch erhöhtes Gewicht werden von Laien wie Medizinern immer wieder beschworen. Eine riesige Diät- und Lebensmittelindustrie lebt davon, Menschen ein schlechtes Gewissen und Gesundheitsrisiken einzureden. Doch die wissenschaftlichen Belege dafür sind dünn. Amerikanische Forscher werteten im Fachblatt Journal of the American Medical Association Erhebungen aus, die von 1971 bis 2004 mehr als 2,3 Millionen Erwachsene umfassten. Ihr Fazit: Menschen, die nach WHO-Definition Übergewicht haben, leben am längsten. »Die Sterblichkeit war bei Untergewicht und Fettleibigkeit erhöht«, sagt Katherine Flegal, die Hauptautorin der Studie.

»Unter den Übergewichtigen gab es dagegen deutlich weniger Todesfälle als unter den Normalgewichtigen.« Mollige erholen sich anscheinend schneller von Operationen, sind weniger anfällig für Infektionen und bei manchen Krankheiten ist ihre Prognose schlicht besser. »Vielleicht liegt es daran, dass Übergewichtige mehr Nahrungsreserven und Muskelmasse haben«, spekuliert Flegal. »Sie können dann noch etwas zusetzen.« Die Auswertungen der Wissenschaftler haben ergeben, dass die Gesundheitsrisiken erst ab einem BMI von 30 ansteigen, nach manchen Berechnungen sogar erst ab einem BMI von 35.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Von einer »Fettwelle« kann nicht die Rede sein: Das Durchschnittsgewicht ist seit Ende der Neunziger kaum gestiegen.)

Es ist paradox: Die Debatte um das Übergewicht wird mit zunehmender Wucht geführt, obwohl die gesundheitlichen Gefahren umstritten sind und vermutlich nur die wenigen ganz Dicken betreffen. Die amerikanische Seuchenschutzbehörde CDC hat denn auch vor wenigen Jahren die horrende Zahl von 400 000 Todesfällen, die angeblich allein in den USA jedes Jahr auf schlechte Ernährung und Bewegungsmangel zurückzuführen seien, nach unten korrigiert. Nach genauerer Analyse hieß es, dass »nur« etwas mehr als 100 000 Menschen an den Folgen von Völlerei und Passivität sterben.

Seriöse Studien zeigen: Von einer »Fettwelle« kann nicht die Rede sein: Das Durchschnittsgewicht ist seit Ende der Neunziger kaum gestiegen. Auch dass die Kinder immer dicker werden, stimmt nicht. In den USA ist der Anteil der dicken Kinder seit Jahren konstant. Nach Daten des Robert-Koch-Instituts sind von den Drei- bis Siebzehnjährigen 6,3 Prozent adipös, unter den 18- bis 20-Jährigen sind es drei Prozent. Falsche Schlankheitsideale fordern mehr Opfer als ein paar Fettringe: Von den Drei- bis Siebzehnjährigen sind sieben Prozent untergewichtig oder stark untergewichtig. 100 000 Frauen leiden in Deutschland an Magersucht, etwa 15 Prozent von ihnen sterben daran. Die Zahl der Bulimiker liegt bei fast 700 000.

Wenn trotzdem nur die Dicken im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, gibt es dafür keine medizinische, sondern eine soziologische Erklärung. Das Gerede über die zunehmende Fett-leibigkeit der Deutschen bietet nämlich die Gelegenheit, Vorurteile als Vorsorge zu kaschieren. Dass Dummheit dick macht und Bildung schlank hält, war dann auch eines der besonders betonten Ergebnisse der »Nationalen Verzehrstudie«, die im Januar 2008 vorgestellt wurde. Niedriger sozialer Status erhöhte demzufolge das Risiko für Übergewicht. Dick und doof gehören zusammen.

Der Studie zufolge waren unter Männern mit Hauptschulabschluss fast 75 Prozent übergewichtig oder fettleibig. Männer mit Abitur fielen dagegen nur zu knapp 55 Prozent in diese Gewichtsklasse. Bei den Frauen war der Unterschied noch deutlicher: Während 66 Prozent der Befragten mit Hauptschulabschluss übergewichtig oder fettleibig waren, betrug der Anteil unter Frauen mit Abitur nur knapp 31 Prozent. Die Studie und die darauf folgende Kampagne hatten ein eindeutiges Ziel: Soziale Unterschiede sollen verfestigt und Dicke als ungesund und unterprivilegiert diffamiert werden.

Der Appell an die Vorsorge geht dabei nicht nur mit - wissenschaftlich fragwürdigen - medizinischen Ermahnungen einher, sondern auch mit dem Aufruf, dünner zu sein, sich vor allem aber auch gebildeter und kultivierter zu benehmen. »Von wegen Werteverfall«, schreibt der Ernährungspsychologe Christoph Klotter von der Hochschule Fulda. »Die Werte haben sich nur verkörpert.« Längst gelte nicht mehr die liberale Formel des aufgeklärten Absolutismus, wonach jeder nach seiner Fasson glücklich werden könne. Die Möglichkeit zum Glück wird nur dem zugesprochen, der dem Schlankheitsideal entspricht. »Es gibt nur eine Fasson«, so Klotter.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Den Dicken und Armen soll nicht nur das Ekel-TV abgewöhnt, sondern auch endlich Benimm- und Esskultur beigebracht werden.)

Im Jahr 2007 standen die Deutschen nach einigen statistischen Verrenkungen sogar kurz in dem Ruf, die dicksten Europäer zu sein. »Die Präventionsprogramme gegen Übergewicht gleichen Kreuzzügen«, sagt der Soziologe Ulrich Bröckling. »Ihre Logik ist die der vorauseilenden Säuberung. Gegen welches Übel auch immer angetreten wird, es soll eliminiert werden.« Es wird kaum ein Anlass versäumt, um das Dicksein anzuprangern. Um die Frage, ob die Deutschen durch schlechte Ernährung unnötig ihr Leben verkürzen, geht es längst nicht mehr. Dominant sind die moralisierenden Appelle.

Das in jeder Hinsicht maßlose Prekariat soll in die Schranken gewiesen werden. Den Dicken und Armen soll nicht nur das Ekel-TV abgewöhnt, sondern auch endlich Benimm- und Esskultur beigebracht werden. »Keine Happy Meals mehr für die Unterschicht!«, hat der Bremer Sozialwissenschaftler Friedrich Schorb diese Erziehungsmaßnahmen auf den Punkt gebracht. Zeitschriften und Magazine zeigen immer wieder die gleichen Bilder von Übergewichtigen in Badehose. Wie früher der Elefantenmensch dem Voyeurismus der Öffentlichkeit feilgeboten wurde, so sind es heute Fotos von dicken Kindern, die sich im Sportunterricht quälen, oder von Amerikanern im XXL-Format.

Auf den vermischten Seiten finden sich regelmäßig Meldungen über Menschen, die so dick waren, dass sie nicht mehr in die Badewanne, auf den OP-Tisch oder in den Sarg passten - gern in dieser Reihenfolge, die von körperlicher Verwahrlosung über Krankheit zum Tod führt. Deshalb sollen dem Land mit Formeln wie »Fit statt Fett« oder »3000 Schritte« Beine gemacht werden. Antreiber sind die Minister Künast, Seehofer, Schmidt, aber auch Ernährungswissenschaftler, die gesellschaftliche Aufwertung wittern.

Inszeniert wird der Gegensatz zwischen der körperlich wohlgeformten Klasse, die eine gesellschaftliche Vormacht beansprucht, und dem Ernährungs-Prekariat, das sprachlos ist und in Diätratgebern oder Kochsendungen Trost sucht. Die Aufgabenverteilung in diesen Debatten ist klar: Die da oben erklären denen da unten, was und wie sie zu essen haben. Darüber zu reden, dass Übergewicht und Fast-Food-Konsum in erster Linie ein Schichtenproblem sind, ist Teil der Erziehungsmaßnahme.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Wenn sich jemand einen Cheeseburger an die Lippen hält, ist das mittlerweile moralisch gleichbedeutend damit, jemandem eine Pistole an die Schläfe zu setzen«, so ein Forscher.)

Erniedrigend aber ist es, dass dicke Menschen durch das endlose Gerede über Gewicht und Gesundheit permanent vermittelt bekommen, dass es nicht in Ordnung ist, so wie sie sind. Längst ist ein wohlgeformter Bauch kein Zeichen von Wohlstand mehr, sondern ein sozialer Makel. In einer Gesellschaft, in der theoretisch jeder genug zu essen hat, zeugt es von Disziplin, Eigenverantwortung und Leistungswillen, schlank zu bleiben. »Viele Leute denken heutzutage, wer einen Herzinfarkt hatte, muss sich der Völlerei und Liederlichkeit hingegeben haben«, sagt der New Yorker Ernährungsforscher Paul Marantz.

»Wenn sich jemand einen Cheeseburger an die Lippen hält, ist das mittlerweile moralisch gleichbedeutend damit, jemandem eine Pistole an die Schläfe zu setzen.« Der Infarkt hat entsprechend an gesellschaftlicher Achtung verloren. Galt er früher als Heldentod der Führungskräfte, bleibt heute denen das Herz stehen, die die Ernährungs- und Fitnesswelle verschlafen haben. Der Politik, die diesen Diskurs aufnimmt, geht es nicht um medizinische Notwendigkeiten, denn die sind nur bei den extrem Übergewichtigen - und viel mehr noch bei den stark Untergewichtigen - gegeben, sondern um Handlungen mit Symbolcharakter.

Dadurch werden in der Gesellschaft »die feinen Unterschiede«, wie
der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seinem gleichnamigen Bestseller von 1987 die Versuche ästhetischer Abgrenzung genannt hat, immer weiter vertieft. Bei Bourdieu waren es die Einrichtung, Zeitschriften und Bücher, die man Gästen präsentierte. Heute sind es Menüfolgen oder erlesene Nahrungsmittel. Es zählt mehr, beim Sternekoch einen Tisch zu haben als im Bus zum Phantom der Oper zu fahren.

Gewichtsgegensätze verfestigen die Klassengegensätze. Das hat absurde Folgen: Die einen erörtern beim passenden Wein zur Vorspeise Erfahrungen mit Trennkost und Fastenkur, die anderen machen sich eine Tiefkühlpizza warm, während sie fasziniert die fremde Welt der Koch-Shows im Fernsehen betrachten, in der Nahrungszubereitung als exotisches Kunsthandwerk zelebriert wird.

Während das Essen im Alltag immer mehr an kultureller Bedeutung verliert und für Lebensmittel seit Jahren immer weniger vom Gesamteinkommen geopfert wird, wird das Kochen inszeniert. Kein Buchsegment boomt - neben Diätfibeln - so sehr wie das der Kochbücher. Mit der Art, wie man über Essen redet und sich beim Essen in Szene setzt, lässt sich gesellschaftlicher Distinktionsgewinn erzielen, wie es Soziologen nennen. Um hier zu punkten, nimmt man es gern in kauf, öliges Weißbrot in graue Salzkrümel zu tunken.