Frau Bundeskanzlerin

Präsidentenwahl, Koalitionschaos, Euro-Krise: Sie müssen uns endlich offen sagen, wie es um Deutschland steht. Und falls Sie nach den richtigen Worten suchen: Wir haben Ihnen die Rede aufgeschrieben, die Sie jetzt halten sollten.


    Es fällt mir nicht leicht, aber ich muss politischen Bankrott anmelden: Mein Bundespräsident ist zurückgetreten, mein Kandidat für die Nachfolge nur zweite Liga. Die Wahl in Nordrhein-Westfalen war ein Desaster, der Euro ist angezählt, daran bin auch ich nicht ganz unschuldig. Und wenn die Griechen mit dem Sparen nicht tatsächlich Ernst machen, können wir unsere jüngsten Sparbeschlüsse gleich wieder vergessen.

    Ich könnte das jetzt alles sprachlich bemänteln, darin sind wir Politiker schließlich Profis. Ich könnte sagen: »Wir meistern die Aufgabe, die auf dem Tisch liegt.« Oder: »Wer Bundeskanzler werden will, der weiß, dass es solche Phasen gibt.« Hab ich auch alles schon so gesagt. Aber würde heute jemand einen Strich unter die Arbeit meiner Regierung ziehen, was würde übrig bleiben? Steuern für Hoteliers gesenkt, Bundespräsident weg, Bau des Stadtschlosses in Berlin auf unbestimmte Zeit verschoben. Kurz gesagt: Wir sind gescheitert. Das Land treibt ziellos vor sich hin.

    Wie Sie wissen, hatte ich mit Roland Koch immer meine Schwierigkeiten. Aber zu seinem Rücktritt bemerkte er doch etwas Wahres: Die Politik habe keinen Gestaltungsspielraum mehr. In keiner Epoche zuvor ist uns die Machtlosigkeit des politischen Systems so vorgeführt worden wie zurzeit. Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich die Mechanismen dieses Systems sehr gut beherrsche. Ich wurde politisch sozialisiert unter ehrgeizigen Männern; Misstrauen, Machtkalkül und vor allem Pragmatismus bestimmen mein Handeln. So habe ich mich systematisch meiner Konkurrenten entledigt, Wolfgang Schäuble, Friedrich Merz, Edmund Stoiber und jetzt – wenn’s denn klappt – auch Christian Wulff.

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    Doch, und das ist die traurige Wahrheit, was hilft es? Damit ist der Krieg in Afghanistan noch nicht beendet, der Euro noch nicht stabilisiert, kein Zentimeter des Schuldenbergs abgetragen, das Klima nicht gerettet. Die Wahrheit ist, dass wir alle am Ende angelangt sind, in Tokio, Paris, London, auch in Washington. Weder der Papst noch Barack Obama können ein sprudelndes Bohrloch im Golf von Mexiko stopfen.

    Ich könnte jetzt zurücktreten. Aber was würde das ändern? Glauben Sie tatsächlich, dass Sigmar Gabriel, Renate Künast oder das neue Doppel an der Spitze der Linken einen besseren Plan haben? Können sie gar nicht.

    Denn es ist ja so: Wenn am Monatsende alle Beamtengehälter und alle Pensionen bezahlt sind, wenn alle Sozialtransfers, Zinsen, Tilgung und alle weiteren Fixkosten überwiesen wurden, dann haben wir keinen Cent mehr für die Gestaltung der Zukunft. Dafür müssen wir neue Schulden machen. Und eine ebenfalls beschwiegene Wahrheit lautet, dass nicht mehr wir es sind und nicht die Wähler, die darüber befinden, wie wir in unserem Land leben und arbeiten wollen, sondern die sogenannten Finanzmärkte, also Anleger, Millionäre, Milliardäre. Denen ist es egal, wer unter ihnen regiert – solange sie niemand beim Spekulieren stört und alle paar Jahre von der Politik die Trümmerhaufen beseitigt werden. Sie, die Märkte, haben die eigentliche Gestaltungsmacht, aber leider keinen Plan, sondern nur kurzfristige Gewinninteressen, die uns langfristig in eine Zukunft führen, die niemand gewollt haben wird.

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    Die Wahrheit ist doch: Unsere westlichen Demokratien funktionieren nicht mehr. Demokratien wurden für Nationalstaaten gemacht, nicht für globalisierte Hightech-Ökonomien. Dinge geschehen jetzt einfach irgendwo auf der Welt und funken an uns Politikern vorbei in unsere Länder hinein. In seiner Zeit als Präsident der US-Notenbank hat Alan Greenspan mich nicht gefragt, ob ich seine Politik des billigen Geldes gutheiße. Ich bin nicht schuld am Zusammenbruch von Lehman Brothers, kann nichts dafür, dass jemand mit Harvard-Abschluss und MBA das Geld verzockt hat, das ich bei Ihnen jetzt einsammeln muss. Ich hatte bis vor Kurzem auch keine Vorstellung davon, wie skrupellos deutsche Landesbanken die Milliarden aufs Spiel setzten.

    Aber jetzt bin ich es, die der Alleinerziehenden sagen muss, dass es mit dem versprochenen Kita-Platz doch nichts wird. Wir wollten Familien entlasten, in Kinder investieren, jetzt muss ich das Gegenteil tun. Wer ein Leben lang gearbeitet hat, mit 55 entlassen wurde, wird behandelt wie einer, der nie etwas geleistet hat. Das wollte ich ändern. Geht nicht mehr. Ich könnte heulen, kotzen, schreien, toben. Würde aber nichts nützen. Darum lasse ich es.

    In unserem Staat haben sich drei Welten etabliert: Wirtschaft, Politik und Sie, das Volk. Jede lebt nach ihren eigenen Regeln, nach ihrer eigenen Rationalität. Waren die Grenzen dazwischen bis vor einiger Zeit noch durchlässig, spricht heute niemand mehr mit dem anderen. Und wenn doch, dann meist in Form von Beschimpfungen: die Politik gegen asoziale Manager, die Wirtschaft gegen ahnungslose Politiker und das Volk pauschal gegen »die da oben«.

    Diese laut tönende Sprachlosigkeit müssen wir überwinden. Das geht nur, wenn wir ehrlich zu uns sind. Nicht jeder Unternehmer, auch nicht jeder
    Bankier, ist von Gier getrieben; nicht jeder Hartz-IV-Empfänger will den Staat betrügen. Und nicht jeder Politiker denkt Tag und Nacht nur an sein eigenes Fortkommen. Was aber stimmt: Wir alle haben unsere Interessen. Deshalb biete ich Ihnen einen Pakt an. Sozusagen die ganz große Koalition: Lassen Sie uns gemeinsam Politik machen, die gut ist für das Land und nicht nur gut für die Bedürfnisse Einzelner. Nicht für die Bankiers, aber auch nicht für die Pendler. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass die Akteure auf den Finanzmärkten für ihr unverantwortliches Handeln die Konsequenzen tragen müssen. Lassen Sie uns aber auch mit dem Unsinn aufhören, regelmäßig einzelne Interessengruppen zu beschenken: Milchbauern, Blumenhändler, Skiliftbetreiber.

    Es ist eine Politik des Gegeneinanders entstanden, die sich an einem Beispiel gut verdeutlichen lässt: Jahr für Jahr gewährt der Staat 165 Milliarden Euro zum Vorteil einzelner Berufsgruppen. Hoteliers sind nur eine davon. 165 Milliarden Euro an Steuervergünstigungen und anderen Subventionen schütten wir Jahr für Jahr aus, eine horrende Summe. Dieses Geld neu zu verteilen würde dem Einzelnen vielleicht wehtun, unserer Gesellschaft aber würde es wieder die Möglichkeit geben, ihre Zukunft zu gestalten.

    Für unseren Pakt bin ich bereit, mein Amt einzusetzen. Und setze gleichzeitig meine Hoffnungen auf Sie, auf den mündigen Bürger, der bereit ist, seine Werte notfalls gegen die eigenen Interessen durchzusetzen. Der Bürger, der nicht sagt: Sparen, ja natürlich, aber nicht bei mir. Sie bitte ich um Hilfe.

    Ob das wirklich funktioniert? Ehrlich gesagt: Keine Ahnung. Ich weiß aber auch nichts Besseres.

    Foto: Andreas Mühe; Illustration: Dirk Schmidt