Die Mode war immer schon mehr als das, was man am Leib trägt. Sie ist auch eine mächtige Bildermaschine, die Magazine, Litfaßsäulen und Werbebanner im Internet füttert; diese Maschine übersetzt Mode in Begehrlichkeiten, Looks in Versprechen. Die Bilder, die sie ausspuckt, feiern den Hedonismus und die Oberflächlichkeit. Manchmal aber entsteht dabei Kunst, die den Geist der Zeit einfängt wie ein Haiku. So wie in den Mode-Illustrationen aus der Sammlung Joelle Chariau, die ab 3. November im Londoner Designmuseum erstmals zu sehen sein werden.
Über ein Jahrhundert umfassen die Werke, von den Anfängen der Modeindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. In Auftrag gegeben von Modehäusern wie Chanel, Christian Dior, Jil Sander oder Alexander McQueen. Geschaffen von Künstlern, deren Namen heute kaum einer kennt, die seinerzeit aber verehrt wurden wie Genies: Georges Lepape, der Meister des Art déco; Rene Gruau, um den sich ab den Vierzigerjahren alle führende Modemagazine rissen, oder Antonio Lopez, der nicht nur Muse für den damals aufstrebenden Karl Lagerfeld war, sondern nebenbei auch noch Models wie Jerry Hall, Jessica Lange und Grace Jones entdeckte.
Neben diesen Altmeistern hat Chariau auch zeitgenössische Künstler in ihrer Sammlung wie François Berthoud, Mats Gustafson und Aurore de la Morinerie. Sie alle eint das Vermögen, Mode nicht nur abzubilden und zu inszenieren wie die Fotografen, sondern in ihr Herz vorzudringen. Gruau hat das einmal so ausgedrückt: »Eine gutes Foto funktioniert besser als eine gute Illustration, eine sehr gute Illustration aber ist einem sehr guten Foto immer überlegen.« Man ahnt, was er meinen könnte: Es geht nicht um Perfektion. Es geht darum, die Essenz der Dinge freizulegen.
1980 eröffnete Joelle Chariau zusammen mit ihrem Partner Andreas Bartsch eine Galerie für Gebrauchsgrafik in München. Sie begann mit Cartoons. Dann verliebte sie sich beim Blättern eines alten Modemagazins in eine Illustration von Gruau und entdeckte eine Welt für sich, die erloschen schien. Der alte Gruau, den sie besuchte, konnte nicht fassen, dass sich jemand für seine Originale interessierte. Sie war auf eine Kunst gestoßen, die niemand als Kunst wahrnahm. Und glaubt man ihr, dann war das ihr größtes Glück: »Ich konnte die besten Künstler bekommen, ich hatte keinen Konkurrenten.« Inzwischen zählt ihre Sammlung von Mode-Illustrationen zu den bedeutendsten der Welt.
Sie ist ein gehobener Schatz, der einem noch einmal klarmacht, warum Stift und Nadel zusammengehören wie Nadel und Faden – oder hat je jemand das Wesen eines schlichten Armani-Mantels treffender eingefangen als Mats Gustafson? Sind wir also froh, dass die ModeIllustration gerade eine Renaissance erfährt, wie Joelle Chariau sagt. Ihre Sammlung zeigt, dass man nichts anziehen muss, um von Mode berührt zu werden.
Abbildungen aus dem Buch Drawing Fashion, Prestel Verlag
Abbildungen aus dem Buch Drawing Fashion, Prestel Verlag