Ich bin jetzt 49. Ein alter Mann. Es gibt immer mehr Dinge in der Welt, die ich nicht verstehe.Ich liege eine halbe Stunde neben Luis, starre in seinen Gameboy mit dem Pokémon-Spiel und lasse mir erklären, was er da tut und spielt. Und er erklärt es mir auch, versucht es jedenfalls. Aber ich verstehe es nicht.Zweitens bietet die Telefongesellschaft mir neue Telefontarife an, aber ich habe längst aufgegeben, die Telefontarife verstehen zu wollen, irgendwas ist immer samstags billiger, dafür montags zwischen neun und halb zehn teurer, und mein Hirn schwankt im Schädel vor und zurück wie rohes Eigelb in der Schale, wenn ich das Wort »Telefontarif« nur höre. Ich nehme die Abbuchungen auf meinem Konto als von Gott persönlich angeordnet hin. Schicksalhafte Geldbewegungen. Dann gibt es noch die Kundenkarten. Bonuspunktsysteme. Das Meilensammel-Wesen. Happy Digits. Rabattherzchen. Membership Rewards. Komfortpunkte. Payback. Diese ganze Vergünstigungswelt. Man trägt ja mittlerweile, wo man auch einkauft, ein kleines Mäppchen bei sich, darin die Markenklebezettel der verschiedenen Supermärkte und Benzinkonzerne, dazu alle Kundenkarten plus Informationsbroschüren über gerade laufende Aktionen. Dass man zum Beispiel seine auf der Kreditkarte gesammelten Punkte schleunigst zu einer bestimmten Fluggesellschaft transferieren solle, dort würden sie im Verhältnis 3:2 getauscht, und wenn man das sofort in diesem Monat erledige, gebe es 3333 Meilen gratis. Oder dass man sehr schnell ein Produkt aus dem Katalog der beigefügten Outdoor-Kollektion erwerben solle. Denn gehöre man zu den ersten 75 Käufern, gebe es ein T-Shirt gratis und man nehme auch noch an einem Gewinnspiel teil. Hauptpreis: Ein Wochenende für zwei in Galtür.Galtür?Da war doch diese Lawine, oder?Im Outdoor-Prospekt ist (deshalb?) neben allerhand Wetterfestem auch aufgeschrieben, mit welchen Signalen man sich vom Boden aus bei Rettungsmannschaften in Flugzeugen bemerkbar macht. Ein X aus Zweigen im Schnee bedeutet: Brauche medizinischen Beistand!Wie gesagt: Um das gewinnen zu können, muss man sich schnell für eines der Kleidungsstücke entscheiden.In meinem Supermarkt fragen sie jetzt immer nach der Happy-Digits-Karte der Telekom, zusätzlich gab es eine Weile Aufklebeherzchen, die man später gegen Kochtöpfe einlösen konnte, so ähnlich jedenfalls. Allerdings brauche ich keine Kochtöpfe. Und wie man die Digits eintauscht, habe ich vergessen. Wenn ich mich recht entsinne, braucht man eine PIN-Nummer, die ich aber verloren habe. Ich glaube jedenfalls, dass es so ist. Was mit Menschen geschieht, die ihre Pin-Nummer einer solchen Karte verloren haben, schrieb mir vor einer Weile Frau S. aus Berlin. Sie hatte im Service-Center angerufen, um ihre Anschrift korrigieren zu lassen. Man sagte ihr, sie müsse dazu ihre PIN-Nummer nennen. Diese PIN-Nummer hatte die Frau S. nicht mehr.Dann werde man ihr eine neue PIN-Nummer schicken, sagte das Service-Center. Aber wohin denn!?, rief Frau S., erst mal müsse man doch die Anschrift korrigieren, sonst komme die PIN-Nummer in falsche Hände!Adresse ändern gehe nur mit PIN-Nummer, sagte das Service-Center.Darauf Frau S.: Dann wolle sie keine PIN-Nummer mehr, Schluss mit allem!Zu spät, sagte das Service-Center, gerade habe man einen Knopf gedrückt, die Nummer sei unterwegs.Vor Jahren habe ich mal in der Zeitung gelesen, etwa hundert Millionen Menschen seien an irgendwelchen Bonuspunktesammelprogrammen beteiligt. Sie lagerten allein etwa 8,5 Billionen nicht eingelöste Flugmeilen auf ihren Konten. Einmal hat ein Mann die gesamte Portokasse seiner Firma über die eigene Kreditkarte abgewickelt und kam so in den Besitz von 25 Millionen Meilen. Er hatte ausgesorgt, jedenfalls was Flugtickets anging.Wahrscheinlich bin auch ich ein wohlhabender Mann, was Bonuspunkte betrifft. Ich weiß es nur nicht. Ich weiß nicht, wie ich an die Punkte rankomme.Und wenn alle Meilensammler auf einmal kämen, um ihre 8,5 Billionen Meilen einzulösen, wäre ohnehin Schluss mit Weltwirtschaft. Die Meile verfiele rasant im Wert, wir bekämen statt Atlantikflügen nur noch Pilotenbrillen, und die Menschen wären so wütend, dass es Revolutionen gäbe.Aber, wie gesagt, so weit wird es nicht kommen. Nicht mit alten Männern wie mir.