Manchmal muss man Worte falsch verstehen, um zu verstehen, was sie wirklich bedeuten. »Neueröffnung«. Ein einfacher Begriff, kein großes Geheimnis. Aber was meinte CUS, der Rätselautor des SZ-Magazins, der nie seinen vollen Namen nennt, als er neulich schrieb: »Dazwischen ist die Neueröffnung«? Gesucht war ein Wort mit sieben Buchstaben. Tausende von Lesern standen auf dem Schlauch. Was wird eröffnet? Und wieso dazwischen? Zwischen zwei Terminen? Heraus kam schließlich das Wort »Pfosten«. Immer noch alle auf dem Schlauch. Bis irgendwann der Groschen fiel: Man musste das Wort anders trennen, gemeint war Neuer-Öffnung. Die Öffnung, vor der der Torwart des FC Bayern steht – und die befindet sich zwischen zwei Pfosten.
Ja, man kann da ein bisschen Kopfweh kriegen. Aber: Nach einer schier endlosen Gedankenspirale endlich draufzukommen ist für leidenschaftliche Rätsellöser ein Hurra-Erlebnis, das es mit einer Bestzeit beim Triathlon aufnehmen kann. Alle anderen legen das Rätsel kopfschüttelnd zur Seite. Kein Mensch hat was gegen die sogenannten Schwedenrätsel, also die ganz einfache Form (»Hauptstadt von Italien«, drei Buchstaben), so was kann man immer mal machen, als Zeitvertreib am Strand oder im Wartezimmer. Aber warum tun sich so viele die komplizierte Version an? Warum quälen sie sich mit immer neuen Ecken, um die sie irgendwie herumdenken sollen?
Vor hundert Jahren wurde das Kreuzworträtsel erfunden. Bis heute sind Rätsellöser ein eigenartiges Volk. Sie verbringen halbe Sonntage über ein komisches Gitter gebeugt, buchstabieren Wörter im Geiste, kauen auf ihren Bleistiften rum. Weltfremde Eigenbrötler, Freaks, auf endloser Schatzsuche im Silbensee. So scheint es. Die Realität sieht anders aus. Rätselautoren wie CUS oder Will Shortz (New York Times) wissen durch Berge von Leserbriefen, wen sie vor sich haben, und das sind bei Weitem nicht nur die sprichwörtlichen pensionierten Oberstudienräte. Sondern: Studenten, Taxifahrer, Bankangestellte und Schüler. Frauen, Männer, Kinder. Mittelständler, Arbeiter, Professorinnen. Also: alle. »Wobei ich die Erfahrung gemacht habe, dass es doppelt so viel Frauen wie Männer sind«, sagt Shortz.
Will Shortz ist so etwas wie der Rätselkönig der Welt. Für die Rätsel bei der New York Times ist er schon seit zwanzig Jahren verantwortlich. Der 61-Jährige hat gut hundert Bücher verfasst und besitzt eine Sammlung von mehr als 20 000 Bänden und Zeitschriften zum Thema, angeblich die größte Sammlung ihrer Art. Shortz sagt: »Was alle Rätsler verbindet, ist die Liebe zur Sprache. Man muss ein Gefühl für Doppeldeutigkeiten haben, man muss bereit sein, Wörter falsch zu betonen, Silben zu zerpflücken.«
Aber warum lösen Menschen überhaupt Rätsel? Die Psychologie des Kreuzworträtsels ist erstaunlich unerforscht. Einer der wenigen Experten in Deutschland, die sich damit befasst haben, ist der Personalpsychologe Rüdiger Hossiep von der Universität Bochum. Er benutzt zur Erklärung Fachbegriffe, die eigentlich weniger helfen als ihre Übersetzung: »Es geht beim Rätsellösen um den intrapersonalen und den interpersonalen Vergleich – im ersten Fall prüfe ich, was ich selbst weiß, wie zufrieden ich mit meiner Bildung bin, im zweiten Fall schaue ich, wie gut ich gegen andere abschneide.«
Im Gegensatz zur Schulprüfung wird beim Rätseln auch Wissen abgefragt, das auf den merkwürdigsten Wegen zu uns kommt. »Nehmen Sie Wörter wie sternum und pilum«, sagt Hossiep, »die wissen Sie vermutlich nicht mal, wenn Sie Latein in der Schule hatten. Aber dann kommen doch erstaunlich viele auf die Lösungen ›Brustbein‹ und ›Speer‹ – weil es einen berühmten Asterix-Dialog gibt, in dem die auftauchen. Das verschafft beim Rätsellösen ein Erfolgserlebnis, hat aber mit klassischer Bildung nichts zu tun.«
Andere Psychologen beobachten beim Rätsellösen den sogenannten Zeigarnik-Effekt. Damit ist in der klassischen Psychologie gemeint, »dass man sich an unterbrochene, unerledigte Aufgaben besser erinnert als an abgeschlossene, erledigte Aufgaben« (Wikipedia). Kann auch bedeuten, dass einen die unerledigten Aufgaben gar nicht mehr loslassen – das belegen die vielen Mails von verzweifelten SZ-Magazin-Lesern, die CUS um einen Tipp bitten, weil sie nach drei Tagen immer noch nicht auf das Lösungswort 13 senkrecht gekommen sind.
Möglicherweise aber liegt das Geheimnis des Rätselratens ganz woanders begründet: in seiner Nutzlosigkeit. Das Kreuzworträtsel kostet Anstrengung, aber es dient keinem Zweck. Es muss nichts. Es soll nichts helfen, es soll nichts voranbringen. Es ist eine Möglichkeit zum völlig verpflichtungsfreien Denken.
Nächste Woche gibt’s die Auflösung, schönes Wochenende noch.
Grübeln ohne Zweck, wie schön: Schließlich muss sich jeder Mensch jeden Tag mit Fragen rumschlagen, auf die er wirklich Antworten braucht. Er muss in seinem Beruf Entscheidungen treffen, er muss rauskriegen, warum das Kind hustet, er muss sich überlegen, was er mit dem kaputten Auto machen soll. Ständig müssen, müssen, müssen. Ein Rätsel ist dagegen immer nur ein Rätsel. Man kann auf der Suche nach dem richtigen Wort schier verzweifeln, man kann Lexika wälzen, googeln, Freunde durch-telefonieren – aber wer schließlich ein Wort ins Raster einträgt, trifft damit keine Entscheidung, die irgendeine Tragweite hätte. Totale Erleichterung: Der Rätsler stellt sich einer Frage, aber die Antwort hat keine Konsequenzen.
Und sie wirft nicht gleich wieder lauter Anschlussfragen auf. Im Leben gibt es so oft Antworten, die einem am Ende doch wieder gar nichts erklären. Weder die unbegreiflichen Finanz-krisengeschichten noch die eigene Steuererklärung. Unentwegt werden einem Verständnismodelle angeboten, von Freunden, von Medien, von Experten – und kaum hat man das Gefühl, ein bisschen besser durchzublicken, tauchen schon wieder die nächsten Fragen auf. Wenn ich bei Oxfam kaufe und Gutes tue, ruiniere ich dann den Einzelhandel? Wenn ich mich für einen Urlaub in Italien entscheide, verpasse ich dann nicht den herrlichen Münchner Sommer? Von leidenschaftlichen Rätslern hört man oft: Es tut so gut, eine eindeutige Antwort hinzuschreiben und zu wissen, da gibt es nichts mehr zu rütteln.
Es ist ja alles anstrengend genug da draußen. Dauernd will irgendjemand, dass wir uns selbst optimieren: Sogenannte Gurus empfehlen uns, mit Smartphone-Apps alles zu messen, unsere Fitness, unser Zeit-Management, unsere geistige Leistungsfähigkeit. Das Leben im 21. Jahrhundert ist durchdrungen von ökonomischen Prinzipien: mehr können, Zeit besser nutzen, erfolgreicher sein, davon lebt eine ganze Industrie. Das Kreuzworträtsel ist dagegen old school: Teste dich selbst – aber immer mit der Ruhe, du musst hier nicht der Beste sein. Freu dich, wenn du es schaffst, alle Kästchen auszufüllen. Und wenn nicht, nächste Woche gibt’s die Auflösung, schönes Wochenende noch.
Manche Menschen sehen im Kreuzworträtsel geradezu Poesie. Sie schwärmen für das vollkommene Wortgitter. Oder drehen glatt durch vor Begeisterung – wie der FAZ-Autor, der vor Kurzem zum hundertsten Geburtstag des Rätsels schrieb: »Die Kreuzung von zwei Wörtern verleiht dem gemeinsamen Buchstaben eine Doppelfunktion, nämlich in zwei verschiedenen Zusammenhängen Sinn zu ergeben, so wie eine bestimmte Linie in einem Suchbild abwechselnd zu zwei verschiedenen Figuren gehört. Wort und Bild werden gekreuzt: Im Kreuzworträtsel erobern die Worte die zweite Dimension.«
Dass nicht nur Feuilletonisten, sondern auch ganz normale Rätselfans arg leidenschaftlich sein können, hat Will Shortz schon oft erlebt. »Vor Jahren meldete sich eine Frau aus Long Island bei uns. Ihre Mutter war gerade gestorben, sie hatte unsere Rätsel geliebt. Die Dame fragte, ob wir das Rätsel der nächsten Ausgabe früher fertig machen könnten, damit sie es ihrer Mutter mit ins Grab legen kann. Den Gefallen haben wir ihr getan. Ich vermute, ihre Mutter war selig für die, äh, Ewigkeit.«
Nicht nur durch Leserbriefe stehen Rätselautoren im Austausch mit ihren Lesern. Schon das Rätsel an sich ist Teil eines Dialogs. Im Gegensatz zu einem Essay oder einer Reportage wird es erst vollständig, indem der Leser selbst tätig wird und Buchstaben in die leeren Kästchen einträgt. Von so viel Leserleistung können viele Leitartikler nur träumen.
Manchmal aber bekommt es der Rätselautor auch mit ein bisschen viel Eigenleistung zu tun. Vor Jahren fragte CUS im SZ-Magazin nach einem »Auszubildenden im Schlachterhandwerk«, das Lösungswort lautete »Rekrut«. Für Kriegsdienstverweigerer vielleicht lustig, für den tobenden Generalmajor a. D., der daraufhin in der Redaktion anrief, kein bisschen. Anzeige vom Bundeswehrverband, die Staatsanwaltschaft München schaltete sich ein. Die ganze Angelegenheit konnte gerade noch friedlich beigelegt werden.
Aber so wild geht’s ja nicht immer zu. Den größten Teil der Leser, die dem Rätselkönig Will Shortz schreiben, bilden die mit den Korrekturen. »Die Leute freuen sich richtig, wenn sie mich bei Fehlern ertappen. Ich verstehe das – Rätseln ist ja ein bisschen Detektivarbeit, und dann auch noch Fehler zu finden, da fühlt man sich wie Sherlock Holmes.« Shortz führt Buch: »Letztes Jahr waren es acht Fehler im Rätsel der New York Times. Bei insgesamt über 32 000 Fragen halbwegs okay, finde ich.« Einmal hatte er nach dem Titel gefragt, den der U2-Sänger Bono trägt, seit die Queen ihn zum Ritter geschlagen hat. Die Lösung war »Sir« – aber Adelskenner wiesen Shortz darauf hin, dass Bono als Ire den Titel nicht tragen darf. Wieder was gelernt.
Der Psychologe Rüdiger Hossiep sagt: »Die Rolle von Rätseln ist unterschätzt. Sie sind mehr als nur Zeitvertreib, sie fördern die geistliche Beweglichkeit, sie sorgen für die Stabilisierung der neuronalen Verkettungen. Wir haben in diesem Land eine Bildungsdebatte, da sollten wir froh sein um alles, was Menschen voranbringt. Denn wer sich geistig fit hält, lernt auch leichter Neues.«
Glaubt man Will Shortz, haben Rätsellöser ohnehin jede Menge hervorragende Eigenschaften: »Wer gut im Rätseln ist, zeigt, a) er hat einen guten Wortschatz, b) er verfügt über eine gute Allgemeinbildung, c) er ist vielseitig interessiert, d) er ist fähig zu spontanen Perspektivwechseln … ich könnte noch ewig so weitermachen!« Manchmal wollen sich andere diese Fähigkeiten zunutze machen: Shortz erzählt, 1939, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, habe eine englische Zeitung einen Rätsel-Wettbewerb veranstaltet – später stellte sich heraus, dass dahinter eine Abteilung des britischen Geheimdiensts steckte, die auf diese Weise Menschen suchte, die verdreht genug dachten, um Codes knacken zu können.
Und genau das ist das Schöne am Kreuzworträtsel, ob man es nun mag oder nicht: Beim Um-die-Ecke-Denken sind wir Menschen den Maschinen gegenüber im Vorteil. Wenn ein Mensch versucht, einen Code zu knacken, wird es immer einen Rest von Irrationalität geben, egal, wie nüchtern er vorgeht. Kein Computer könnte dagegen die Kreuzworträtsel von CUS oder Will Shortz lösen. Weil er Zwischentöne nicht versteht, Wortspiele nicht interpretieren kann, weil er nicht beurteilen kann, ob ein Schreibfehler ein Hinweis ist. Der Computer versteht nicht, dass Neu-Eröffnung Neuer-Öffnung bedeuten kann. Nicht umsonst gilt es unter Entwicklern von Künstlicher Intelligenz als die ultimative Herausforderung, Computern das Um-die-Ecke-Denken beizubringen. Gerade hat Google dem Wunderkind Demis Hassabis für eine halbe Milliarde Dollar seine Firma DeepMind abgekauft, die das versucht. Wer weiß, vielleicht kommen Hassabis’ Rechner eines Tages bei »Neueröffnung« auf das Lösungswort »Pfosten«. Aber das kann noch dauern.