Ich bin dann wohl die nächste

Der Tod kommt irgendwann zu jedem. Aber wenn der Bruder und kurz darauf der Vater sterben, führt das einem die eigene Endlichkeit besonders hart vor Augen.

Foto: Getty Images/Luis Alvarez

Zum Schluss hatte mein Vater immer eine Flasche Averna neben seinem Kopfkissen. Da war er 97. Er trank nachts gegen die Schlaflosigkeit, die düsteren Gedanken und die Wut, nicht sterben zu können. Dann starb er doch.

Mein Bruder hatte einen Stein in seiner Anoraktasche, nichts Besonderes, als man ihm die Bergsteigerkleidung vom Körper schälte. Der Stein liegt nun auf seinem Grab. Er wollte nicht sterben. Mein Vater wurde im November 2022 beerdigt, mein Bruder fünf Wochen zuvor. Er war mein Lieblingsbruder. Meine Hölle? Die Frage: Warum musste mein Vater noch erleben, dass eines seiner Kinder stirbt?

Ist das nicht irre, dass viele Jahre lang Thomas Braschs Buch Vor den Vätern sterben die Söhne eines meiner Lieblingsbücher war – und genau das passiert? Man denkt sich das doch andersrum: Erst sterben die Eltern, dann die Kinder. Als hätten die Eltern einen Sicherheitszaun um sie gebaut, der es dem Tod unmöglich macht, sich die Kinder zu greifen. Bei mir hat sich niemand um diese unbewusst festgeschweißte Ordnung geschert. Mein Bruder, jünger als ich, Hochalpinist und Bergführer, stolperte und fiel auf der steilen Seite des Berges runter, der eher ein Hügel war. Über den Satz »Man kann auch sterben, wenn einem ein Blumentopf auf den Kopf fällt« lächle ich nicht mehr.

Meine Mutter starb vor zwanzig Jahren. Damals habe ich nie an meinen eigenen Tod gedacht. Vielleicht, weil meine Kinder noch zu jung waren, vielleicht, weil mein Vater und meine Brüder noch alle lebten. Vorbei. Das immer gleiche Seufzen »Ja, ja, wir müssen alle mal sterben« ist dem Gefühl gewichen, die Nächste zu sein. Der Tod entpuppt sich oft als mieser Überraschungsgast. Warum also sollte er nicht mich treffen? Tod und Sterben, Menschheitsthemen, weltum- spannend, denen keine Religion, keine Kunst, keine Wissenschaft je gerecht werden kann, zu unbeschreiblich, zu absurd, zu un- terschiedlich die Umstände. Beide, Tod und Sterben, haben bei mir angeklopft, zweimal innerhalb von fünf Wochen. Ich fürchte mich davor, die Tür weit zu öffnen. Es genügt mir zu wissen, was der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk schrieb: Der Tod eines jeden Menschen beginnt mit dem Tod seines Vaters. Was also tröstet, wenn es so weit ist? Wenig. Die Zeit, sagen manche, hilft.

Der Tod meines Vaters war vorhersehbar, meine Erschütterung riesig, als es geschah. Da ist nichts, was man üben kann, nichts, was besser würde bei einem nächsten Mal. In den letzten Wochen seines langen Lebens habe ich ein paar Dinge begriffen, wenigstens das: Als mein Sohn eine Ledermappe aus dem Regal zog zum Beispiel und sagte, die habe er von ihm. Da dachte ich: Das ist also alles, was er sich genommen hat von meinem Vater, von den tausend Dingen, die er hätte nehmen können. Ich finde erschreckend, wie wenig übrig bleibt von einem Leben. Ich habe daraufhin 200 meiner Bücher verschenkt. Seit den Todestagen im vergangenen Herbst will ich alles ausmisten, bevor ich sterbe. Lieber mache ich es, als mir vorzustellen, jemand aus meiner Familie sage den Satz: »So, jetzt kann der Entrümpler kommen.« Nichts mehr will ich besitzen, nichts mehr kaufen, den ganzen sinnlosen Tand, den man anhäuft, lieber heute als morgen loswerden.

Was ich noch begriffen habe in jenen schlimmen Wochen: Wie hoffnungslos das Unterfangen ist, sich vorzubereiten auf das eigene Sterben oder das eines anderen Menschen. Ein kurzer Blick auf die Psychologie belegt das ziemlich gut. Joachim Wittkowskis Bestandsaufnahme Was die zeitgenössische Psychologie über das Sterben weiß läuft darauf hinaus: wenig. Auch deshalb, weil jene, die versuchen, sich auf den Tod vorzubereiten, nicht mehr erzählen können, ob ihre gedankliche Auseinandersetzung eine Schnittmenge mit der Wirklichkeit aufwies.

Und noch was habe ich verstanden: Wenn du alt und krank bist, hast du keine Freunde mehr, nur noch Familie. Einen besseren Grund, Kinder zu haben, gibt es nicht.

Ich sehe meine Kinder, ich sehe kleine Kinder, ich denke mir, so war ich auch mal und dazu so vermessen, mit 16 meinen Liebeskummer für den Untergang der Welt zu halten. Jetzt sind meine Kinder groß, ich bin alt, meine Eltern tot, mein Bruder auch. Bald bin ich dran. Das ist der Kreislauf. Unaufhaltsam.

Papi.