»Gestern war in mir Herbst, heute will ich den Frühling sehen«

Am 3. Oktober 1990 tritt die DDR der BRD bei – Deutschland ist wiedervereinigt. Wir dokumentieren dieses historische Datum mit Tagebucheinträgen, aus Ost und West. Die persönlichen Aufzeichnungen zeigen, welch unterschiedliche Gefühle die Wende bei den Deutschen auslöste.

Dagmar Z. aus Rheinland-Pfalz unternimmt am Tag der deutschen Einheit eine Radtour und geht am Abend zum Konzert in die Kirche.
Deutsche Küche: Im Eintrag von Anneliese S. aus Westdeutschland ist der historische Tag nur eine Randnotiz: »Tag der Einheit, Feiertag«. Erstaunlich detailliert führt sie dagegen Buch über die täglichen Mahlzeiten: »Für Heinz, Mario und Peter Kotelett und Pilze«.
Zweisam: Martina K. aus Heilsberg, Hessen, schildert den 3. Oktober vier Tage später in ihrem Brigade-Buch der DDR: »Ursprünglich wollte ich am Dienstagabend zur OV-Vorstandssitzung gehen. Jens, Heiner und Holzheimers waren nach Brotterode gefahren. Aber dann lag es mir doch näher, die historischen Stunden vor der Glotze zu verbringen, vielleicht auch, um mit Christian zusammenzusitzen, eingedenk unserer eigenen deutsch-deutschen Geschichte. Aber ich war dann doch zu müde, um die eigentliche historische Stunde mit den Berlinbildern mitzukriegen.«
Neue alte Namen: Die Kirchenmusikerin Hildegard M. ist eine der wenigen DDR-Bürgerinnen in dieser Sammlung, die nicht nur mit Sorge und Wehmut in die Zukunft blicken, sondern auch mit Hoffnung. Vorboten der Veränderungen dokumentiert sie schon am 2. September: Im eingeklebten Zeitungsausschnitt wird die Rückbenennung des Dresdner Schlossplatzes (zu DDR-Zeiten »Theaterplatz«) und der Augustusbrücke bekanntgegeben. Zu DDR-Zeiten hieß diese »Georgi-Dimitroff-Brücke«, benannt nach einem bulgarischen Kommunisten.
Ewige Bilder: Ikonische Fotos bestimmten nicht nur die Zeitungen und Magazine jener Tage, ausgeschnitten fanden sie auch ihren Weg in das Privateste der Deutschen – etwa in das Tagebuch von Martina M., Heidelberg.

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Hildegard M., 49, Kirchenmusikerin, Dresden — 1. Oktober, Montag: Morgen will ich nach Torgau fahren, um in der Nacht vom 2. zum 3.10. den Übergang in die deutsche Einheit zu feiern. Es ist ja, bei allem persönlichen Frust, doch ein ganz ungeheuerlich erfreuliches Datum. Vor einem Jahr begannen hier die Unruhen, und schon 1 Jahr später sind wir alle Bundesrepublikaner. Es grenzt fast an ein Wunder. (So wird diese Eintragung auch die letzte sein, die ich hier als DDR-Bürgerin mache.) Möge Gott für unser Volk etwas Gutes daraus machen!

Gisela T., 49, Konditorin, Magdeburg — 2. Oktober, Dienstag, 20.32: Könnte ich in das Rad der Zeit eingreifen, würde ich die Uhren gerade jetzt anhalten! Die Menschen sollten genug Zeit haben nachzudenken – ohne unter Zeitdruck zu stehen.