Das Beste aus aller Welt

Unser Autor philosophiert über den Zusammenhang zwischen der Schnabelgröße des Riesentukans, dem Wachstum von Fingernägeln und dem der Wirtschaft.

Das Jahr geht zu Ende. Ich räume den Schreibtisch auf. Sichte nicht genutztes Material. Werfe es weg. Schaffe Platz, ziehe Bilanz. Wussten Sie, dass 2009 die seit Jahrtausenden ungeklärte Frage beantwortet werden konnte, warum der Riesentukan einen so absurd großen, bis zu 22 Zentimeter langen Schnabel hat? Noch Darwin mutmaßte, es habe etwas mit der Beeindruckung des anderen Geschlechts zu tun, der Tukan wolle mit Schnabelprotzerei die Tukanin erobern. Irrtum!

Heuer endlich fand man heraus, dass der Schnabel dem Temperaturausgleich dient, dass also der Riesentukan bei Hitze mehr Blut in seinen Schnabel pumpt und dadurch seine Körpertemperatur reguliert. Der Schnabel hat für den Tukan die gleiche Funktion wie das Schwitzen für den Menschen, das Hecheln für den Hund oder das Ohrwedeln für den Elefanten, und ich stelle mir vor, wie der Herrgott bei der Schöpfung diese Temperaturausgleichsmechanismen verteilte und einen Moment zögerte.

Soll der Mensch den Schnabel bekommen, der Hund das Schwitzen, der Tukan die Elefantenohren und der Elefant das Hecheln? Oder der Mensch die Elefantenohren, der Hund den Schnabel, der Elefant . . ? In einer Schöpfungsmillisekunde entschied er sich anders – und alles wurde gut, jedenfalls für den Menschen. Ich wüsste nicht, was aus mir geworden wäre, müsste ich mit einem Riesenschnabel die Tastatur hier bedienen. Auch finde ich in einem Stapel Papier eine von mir unverständlicherweise hier nie erwähnte Studie über das Wachstum von Fingernägeln. Mediziner der University of North Carolina haben 2009 festgestellt, dass Fingernägel um 25 Prozent schneller wachsen als vor siebzig Jahren. Wuchs ein Daumennagel noch 1938 höchstens drei Millimeter im Monat, schafft er heute 3,55 Millimeter, was erstens mit unserer besseren Ernährung zu tun hat, zweitens die Frage aufwirft, ob die Menschheit in Jahrtausenden noch ihres Nagelwachstums Herr werden wird. Aber das soll die Sorge späterer Generationen sein.

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Interessanterweise schieben sich aber heute manchen Menschen die Fingernägel immer noch nicht schnell genug aus dem Fingerinneren hervor. Auf der Internetseite gutefrage.net fand ich die von polskagirl gestellte Frage »Was kann dagegen tun damit die fingernägel schneller wachsen?«, was die meisten darauf Antwortenden so verstanden hatten: Sie will, dass ihre Nägel schneller länger werden.

Hier ein paar der Tipps: Kieselerde essen, Zinktabletten schlucken, Nägelkauen, im Mittelmeer baden, die Nägel besprechen, »Naturdünger«, Nägel nach dem Mondkalender nur freitags nach Sonnenuntergang feilen (»Erfolg ist unglaublich«), Magnesium, Biotin, Nüsse, Fisch, keine Putzarbeiten, schließlich: »wenn man mit den nagelspitzen zb auf ein tisch hämmert, dann wachsen sie schneller, da das gehirn denkt, die nagelspitzen werden abgenutzt«.

Ist das die Antwort auf die Frage, warum Spechte mit ihren Schnäbeln gegen Bäume klopfen? Weil spechtgehirn soll denken »schnabelabnutzung«, damit specht bekommt ein großschnabelwachstum wie zb angeberriesentukan?

Wenn ich recht sehe, wird das Jahr 2010 bestimmt sein von der Frage, wie man unsere Wirtschaft dazu bringt, dass sie schneller wächst bei gleichzeitiger Lösung des Problems, dass ständiges Wirtschaftswachstum das Leben auf dem Globus zerstört. Im Prinzip ist das die von polskagirl auf Fingernagelniveau gestellte Frage in größtmöglicher Dimension. Was kann dagegen tun, damit die Wirtschaft schneller wächst?

Leser S. aus Genf schickte dem Wortstoffhof in dem Zusammenhang die Meldung über eine Tagung des Kraftfahrzeuggewerbes, bei der dessen Vizepräsident Fromme stöhnte: »Ich kann das Wort Wachstum nicht mehr hören.«

Was ist das für ein seltsames Leiden? Was hört der arme Mensch, wenn zum Beispiel in den Nachrichten das Wort »Wachstum« fällt? Ein Piep? Ein Loch im Satz? Wie grausam, alle Wörter hören zu können, nur dieses eine, für unsere Zukunft so entscheidende nicht …

Statt an Silvester Kieselerde und Zinktabletten zu verdauen, tritt Axel Hacke im Münchner Theaterzelt "Das Schloss" auf, wo er unter dem Motto: "Ich sag’s euch jetzt zum letzten Mal" aus seinen Werken liest.

Illustration: Dirk Schmidt