Leber nach dem Tod

Der Koch Tobias Sudhoff hat einen Weg gefunden, Foie gras herzustellen, ohne dafür Gänse zu quälen. Sein Ziel ist, dass die Menschen weniger Fleisch essen – aber ohne einen Verlust an Genuss. Kann das funktionieren?

Sie schmeckt einfach zu gut, deswegen ist sie aus der Haute Cuisine schwer wegzudenken. Wie eine kühle, cremige Aromainfusion, die ihre Kraft sofort auf der Zunge entfaltet. Die Foie gras, auch Stopfleber genannt, ist eine künstlich vergrößerte Fettleber von Enten oder Gänsen. Man kaut sie nicht, man lässt sie wie Eis im Mund schmelzen. Sie passt auch zu so vielem: zu Steak, zu Trüffeln und Steinpilzen, zu Käse, zu Marmelade, sogar zu Schokolade.

Tobias Sudhoff bereitet Gänseleber gern als Praline in zerstoßenem Erdbeerstaub zu, serviert auf einem Zahnstocher. Oder in der getoasteten Brioche mit einer Schicht Johannisbeermarmelade und etwas Schokochips oder Kakaobruch obendrauf. Er verwendet allerdings nicht Foie gras, also Leber von gestopftem Geflügel, sondern eine post mortem aufgefettete Gänse- oder Entenleber. Aufge­fettet heißt: angereichert und vermischt mit pflanzlichen Zusatzstoffen wie Kokosfett oder auch dem Bauchfett von Geflügel, das eigentlich ein Abfallprodukt bei der Geflügelzucht ist. Die künstlich aufgefettete Lebermenge entspricht der von gestopften Tieren. Sudhoff nennt sie »Happy Foie« – glückliche Leber.

Tobias Sudhoff, 49 Jahre alt, hat eine kurvenreiche Biografie. Mit sieben, erzählt er, züchtete er Orchideen, mit zwölf vergrub er Seelachs aus der Tiefkühltruhe zum Fermentieren, mit dreizehn wurde das Verhältnis zu den Eltern so schwierig, dass er zeitweise zu Freunden der Eltern nach Amsterdam zog und sie zu seinen Stiefeltern erklärte. Im Studium verdingte er sich als Jazzpianist. Ein paar Semester Medizin, aber ohne Abschluss. Koch ist er geworden, obwohl er nie eine Kochlehre absolviert hat. Wenn er nun nicht kocht, reist er mit Vorträgen oder seinem Kabarettprogramm Iss was!? durch Deutschland. Zudem forscht er am Food Lab der Fachhochschule Münster, einer Art Thinktank für das Essen der Zukunft. Am Food Lab entwickeln Sudhoff und die Studierenden nachhaltige Lebensmittel, sie nehmen auch Aufträge der Lebensmittelindustrie an und entwickeln Würzmischungen und Snacks. Tobias Sudhoff versteht sich als Aktivist für die Nahrungsmittelwende, das ist sein Lieblingswort, von dem er sogar meint, er habe es im gesellschaft­lichen Diskurs etabliert.

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Nahrungsmittelwende bedeutet für ihn erst einmal, weniger Fleisch zu essen, aber ohne einen Verlust an Genuss. Happy Foie sieht er als Beweis, dass Enten und Gänse nicht unter Qualen gestopft werden müssen – und die Delikatesse trotzdem erhalten bleiben kann. Die ganze Nahrungsmittelwende könne ohnehin nicht allein durch Verbote und moralische Appelle gelingen. Sie müsse schmecken. Und bezahlbar bleiben: Mit dem Food Lab unternehmen Sudhoff und Studierende auch einen Modellversuch mit einer »Social Kitchen«, einer öffentlichen Küche in Münster, in denen Nachbarschaftsgruppen oder Schulen selbst kochen – nach nachhal­tigen, möglichst vegetarischen Rezepten, die sich auch Ärmere leisten können.

Für die Gastronomie produziert Sudhoff die Happy Foie im Kunstdarm in den Größen 250 und 500 Gramm.

Tobias Sudhoff serviert Brioche und mit Erdbeerstaub ummantelte Pralinen mit Gänseleber am liebsten auf einem der Äste, die er selbst im Wald gesucht hat.

»Nudeln« nennt man das Stopfen verniedlichend im Deutschen. Die Leber der genudelten Tiere schwillt bis auf das Zehnfache ihres Normalgewichts an. »Gavage« heißt der Vorgang im Französischen, bei dem den Tieren ein Rohr in die Speiseröhre gestoßen und bis zu ein Kilo Maisbrei täglich in den Magen gepumpt wird. Oft wird dem Maisbrei noch Schweineschmalz beigemengt.

Die Zwangsfütterung der Tiere beginnt im Alter von acht bis zehn Wochen und dauert zwölf bis 21 Tage. 120 Gramm wiegt eine Leber von Wassergeflügel im Schnitt, 300 bis 400 Gramm wiegt die Leber von Tieren, die sich vor dem Abflug in den Süden Proviant angefressen haben. Eine gestopfte Leber aber erreicht bis zu 1,5 Kilo Gewicht. Und einen entsprechend höheren Gewinn.

Die EU hat dieses Verfahren schon 1999 aus ethischen Gründen verboten. Frankreich umging das Herstellungsverbot, indem es die Foie gras zum nationalen Kulturerbe erklärte und sie von den französischen Tierschutz­gesetzen ausnahm. So, wie Spanien mit dem Stierkampf verfährt. Auch in den EU-Ländern Bulgarien, Ungarn, Spanien und Belgien wird das Verbot ignoriert und in geringerem Maße Stopfleber produziert.

In den USA haben Gerichte den Import und Verkauf seitdem verboten, wieder erlaubt, wieder verboten. Auch in Großbritannien gilt seit dem Brexit ein Verkaufsverbot. Im EU-Binnenmarkt ist ein Verkaufsverbot gegen den Widerstand Frankreichs nicht durch­zusetzen, aber beim Europäischen Parlament in Straßburg – also in Frankreich – verzichtet man bei offiziellen Anlässen inzwischen auf das Servieren von Enten- oder Gänsestopf­leber. Foie gras ist ganz allmählich verpönt.

Tobias Sudhoff versteht sich als Aktivist für die Nahrungsmittelwende, das ist sein Lieblingswort

Die Menschheit isst zu viel Fleisch. Aber vegetarische und vegane Ersatzprodukte schmecken oft nicht gut, sagt Sudhoff. Seine Happy Foie mit einem erheblichen Anteil pflanzlicher Fette versteht er als einen ersten Schritt auf dem Weg zu weniger Fleischkonsum, ohne dass der Genuss verloren ginge. Bei einer Doppelblindverkostung landete Happy Foie im Mittelfeld unter anderen echten Stopflebern. Niemand von den Probanden ahnte, dass es sich um künstlich aufgefettete Leber handelte. Stephan Hentschel, der im vegetarischen Res­taurant »Cookies Cream« in Berlin kocht, findet keinen Unterschied zum Original. Der französische Dachverband der Gänse- und Entenstopflebererzeuger CIFOG wähnt sein Geschäft in Gefahr und hat Happy Foie verklagt. Die französischen Hersteller wollen erreichen, dass Sudhoffs Produkt vom europäischen Markt verschwindet.

Professor Fritz Titgemeyer (links) und Tobias Sudhoff (rechts) forschen am Food Lab der Fachhochschule Münster.

In Petrischalen bestimmen die Mitarbeitenden des Food Lab für die Lebensmittelsicherheit verschiedene Arten von Mikroorganismen.

Dabei müssten seine Verkaufszahlen die französischen Hersteller des Originals derzeit noch nicht schrecken: 20 000 Gläser hat er im vergangenen Jahr an Bio-Supermärkte verkauft, wenige Tausend Rollen im Kunstdarm an Delikatessengroßhändler. Mit knapp 20 Euro für ein Glas Entenleber und 30 Euro für die Gänseleber ist sie etwa genauso teuer wie das französische Original.

Das deutsche Produkt ist vergleichsweise neu, kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie kam Happy Foie auf den Markt. Die Gänse und Enten stammen zum Großteil von Biohöfen in Österreich, die oft unzugänglich in den Bergen liegen, wo das Geflügel in der Regel Auslauf hat. Die hohe Lage abseits der Vogelzugrouten mindert die Gefahr, dass die Tiere sich mit der Vogelgrippe infizieren – in Frankreich und anderen mitteleuropäischen Ländern ist die Vogelgrippe in diesem Jahr ein großes Problem und verursacht erhebliche Produktionsausfälle. Auf den Biohöfen, mit denen Sudhoff arbeitet, ist die Leber der Gänse und Enten ein Abfallprodukt. Ohne Happy Foie fände sie keinen Abnehmer, außer vielleicht im Hundefutter.

Sudhoff lässt die Lebern in einem Fleischverarbeitungsbetrieb im Saarland produzieren. Den physikalischen Prozess der Auf­fettung hat er entwickelt: Der Leber fügt er Butter hinzu, Kokosfett, Geflügelbauchfett, Gewürze, Vitamin C als Antioxidans, als bindendes Emulgationsmittel Ei.

Die Leber und die zugefügten natürlichen Fette und Aromen werden durch Erhitzen haltbar gemacht. »Die physikalischen Eigenschaften der Aromen nachzubauen ist kein großes Problem«, sagt Sudhoff. »Die Zutaten unserer Happy Foie sind leicht zu erraten. Das eigentliche Geheimnis ist die Haltbarmachung bei gleichzeitiger Gewähr der Lebensmittelsicherheit und Beibehaltung der Schmelzeigenschaft. Wenn man Geflügelleber zu stark erhitzt, riecht sie leicht nach Hundefutter.« Neun Monate beträgt das Mindesthaltbarkeitsdatum von Happy Foie.

Im Europäischen Parlament wird keine Foie gras mehr serviert Happy Foie trickst den Körper aus und macht ihm vor, komplett aus Leber zu bestehen

Andere Hersteller bieten vegane Ersatzprodukte an. Die Schmelzeigenschaften könne man unschwer nachahmen, sagt Sudhoff. Aber geschmacklich könnten vegane Produkte mit Happy Foie oder den echten Stopflebern einfach noch nicht mithalten.

Sudhoff identifiziert gerade sämtliche Aromastoffe der Stopfleber in einem Gas­chromatografen, das hat vor ihm noch niemand versucht. Und er wird dafür jetzt pflanzliche Entsprechungen suchen, die genau so schmecken: Tierische Bestandteile wie Eisen lassen sich durch pflanzliche Aromastoffe, etwa in Roter Bete, ersetzen.

Sudhoff glaubt, die Menschen würden nur weniger Fleisch essen, wenn sie verstünden, wie Fleisch im Körper funktioniert. »Der Mensch ist einfach seit Urzeiten auf Fleisch getriggert«, sagt Sudhoff: »Auf der Zunge gibt es eigene Fettrezeptoren, das hat man vor gar nicht so langer Zeit erst entdeckt. Und Fleisch enthält Glutamat, das wird von den Umami-Rezeptoren aufgenommen. Deswegen genießen wir Fleisch so sehr, deswegen auch der Heißhunger auf Currywurst bei einem Kater.« Happy Foie, sagt er, trickse den Körper aus und mache ihm vor, komplett aus Leber zu bestehen.

Sudhoff war eineinhalb Jahre lang, bis März 2019, Küchenchef eines Sternerestaurants, der »Westfälischen Stube« im Münsterland. Jetzt kocht er nur noch zwei-, dreimal im Monat in einem Pop-up-Restaurant, das zehngängige Menüs für 22 Personen für je 130 Euro serviert, aber an keinem Abend mehr als 70 Gramm Fleisch pro Person und Menü. Sudhoff glaubt, dass die Nahrungs­mittelwende nur dann zu schaffen ist, wenn Fleischersatzprodukte und vegetarische Küche richtig gut schmecken. Umami mit Gemüse – in seinen Jus und Fonds glaubt er das bereits erreicht zu haben. Er sei guter Hoffnung, im nächsten Sommer auch eine vegane Fleisch-Jus auf den Markt bringen zu können. Und eine vegane Happy Foie.