Wir leben in Zeiten des Lipgloss, eines Zeugs, dessen Name schon sagt, wofür es erschaffen worden ist: um zu glänzen. Wo man hinsieht – triefende Münder, klebrige Lippen. Allein bei der Kosmetikfirma L’Oreal stieg der Absatz von Lipgloss in den letzten Jahren um das Fünffache, ein Viertel ihrer verkauften Lippenprodukte in Deutschland sind Gloss-Stifte. Ein Ende des Glänz-Trends ist nicht abzusehen. Was ist geschehen? Warum nur wollen alle Frauen plötzlich so aussehen, als hätten sie gerade in einen saftigen Schweinebraten gebissen?
Eigentlich hegt der Mensch doch ganz zu Recht einen Grundverdacht gegen Glanz und unterstellt ihm, verrucht zu sein, neureich zu wirken, laut zu prahlen. Wer käme denn auf die Idee, einen Lackrock zu tragen (außer Technokids) oder sich mit Glitzerschmuck zu behängen (außer Hip-Hoppern)? Wer kreuzt auf dem Kodak-Fotoumschlag schon »Hochglanz« an, wenn es um die Oberfläche der zu entwickelnden Farbfotos geht? Glanz, das scheint doch eher was für Leute, die sich für Vollmilchschokolade, nicht für Zartbitter entscheiden, grob gemahlenen Pfeffer ablehnen und so spitze Schuhe tragen, dass die Füße aussehen wie venezianische Gondeln. Warum nur malen sich trotzdem so viele Frauen die Lippen mit etwas an, was einem billigen Lolli mit zu vielen Geschmacksrichtungen ähnlich ist? Dabei hatte doch alles ganz gut angefangen mit dem Schminken, das neben seiner erotischen Aussage auch immer als Zeichen weiblicher Macht eingesetzt wurde – Kleopatra betonte ihre Augen, um den Göttern näher zu sein, Griechinnen und Römerinnen liebten Schminke, weil sie, unvorstellbar teuer, ihren Wohlstand unterstrich, auch im bleichgesichtigen Rokoko und Barock galt Schminke als Statussymbol. Mit einigen Ausnahmen wie in Zeiten des Biedermeier oder des Nationalsozialismus, in denen Frauen natürlich zu sein hatten, ging es beim Schminken immer darum, die eigene Wirkung nicht dem Zufall zu überlassen. Unvorstellbar eine Margaret Thatcher ohne ihren roten Lippenstift, die abgepuderte Haut, die Betonfrisur: Make-up für eine Frau, die nicht nur Kontrolle über ein Land, sondern auch über ihr Aussehen verlangte. Hätte man ihr einen »Stellar Gloss Jewel«- oder den neuesten »Juicy Tube«-Lipgloss schenken wollen, damit auch sie endlich mal ein bisschen süß und feuchtlippig rüberkommt? Sicher nicht. Mal abgesehen davon, dass man ihren strafenden Blick nicht überlebt hätte.
Betrachtet man die symbolische Aussagekraft von Lippenfarbe, blieb sie über die Jahrhunderte hinweg immer dieselbe: Rote Lippen wie auch rote Wangen lassen sich als ein Zeichen für gesunde Durchblutung deuten, weshalb sich die Damen der Gesellschaft früher, noch zu schminkeloser Zeit, in Wangen und Lippen zwickten, um den Blutfluss anzuregen. Rouge und Lippenstift sollen also unterschwellig mitteilen, wie proper und gesund ihre Trägerin ist: hervorragend geeignet für die Reproduktion. Was aber mag uns nun das Lipgloss sagen, der auf unseren Lippen liegt wie eine Schicht Erdöl auf der Nordsee?
Lippenstifte und Lipgloss unterscheiden sich schon von ihrem Äußeren: Seit Lippenfarbe 1883 zum ersten Mal in Form eines Stiftes auf der Weltausstellung in Amsterdam präsentiert wurde, steckt er in einer edel wirkenden Fassung, sieht schwer und wichtig aus, wie ein Monument. Ein Lipgloss dagegen schimmert lustig und bunt durch ein durchsichtiges Plastik-Etwas und kommt nicht ohne einen Namen aus, in dem Adjektive wie juicy, fresh oder sexy stecken. Was den Verdacht nahelegt, dass Lipgloss sich eher an eine jüngere Zielgruppe wendet, weil unter Kids ja alles irgendwie juicy, fresh und sexy sein muss. Stimmt nicht!, sagt die Kosmetikbranche. War früher mal so! Heute kaufen ebenso viele ältere Frauen Lip-gloss wie jüngere. Versteht sich eigentlich von selbst, immerhin wollen ja auch ältere Frauen, verharrend in ewiger Postadoleszenz, möglichst lange fresh sein und kaufen sich mit einem Lipgloss ein Stück Jugend ein.
Menschen, die über Lipgloss reden, sagen seltsame Dinge, wie das Musiksendersternchen Collien Fernandes beispielsweise, die neulich in einem bunten Blatt einen Kussmund formte und in einer Sprechblase verkündete: »Dieses Gloss prickelt und polstert die Lippen so sexy auf!« Womit sie die Vorteile ihres Lieblingsgloss »Plushglass« erschöpfend erörtert hatte. Kosmetikanbieter bewerben Gloss mit »Boost-, Push-, oder Volume-Effekten«, was wie Zauberei klingt, aber nur daran liegt, dass glänzende Lippen eben aussehen wie aufgepumpt. Mit solchen Verkaufsargumenten tritt die Kosmetikbranche in Konkurrenz zu Schönheitsoperationen, immerhin profitieren beide Industrien davon, dass kaum ein Mensch mit seinem natürlichem Aussehen zufrieden ist. Eine Erklärung für den Gloss-Boom mag also in der Volumenwirkung liegen: Gloss als Operation light sozusagen.
Fragt man die Experten der Kosmetikindustrie, warum ihrer Meinung nach plötzlich alle Frauen Lipgloss lieben, heißt es, dass Frauen damit einfach sehr natürlich aussehen. Aha, denkt man, natürlich. Nur wann bitte sind die Lippen einer Frau feucht? Bedenkt man dann noch, dass Frauenlippen als Sinnbild für das weibliche Geschlechtsteil gelten (wie in vielen Filmszenen ausgekostet, mit einem Lippenstift als Phallussymbol dazu) schmieren wir uns eine ziemlich deutliche Aussage ins Gesicht: immerfeuchte Lippen als Zeichen immerwährender sexueller Bereitschaft? Mit dem Gloss tragen wir also eine Art Push-up-BH auf den Lippen. Oder auch: ein Arschgeweih mitten im Gesicht.