Düstere Aussichten

Vor der Afghanistan-Abstimmung verrät der SPD-Mann Marco Bülow, was Bundestagsmitglieder wirklich zu sagen haben: fast nichts.

Seit Wochen denke ich darüber nach, wie ich abstimmen soll, wenn im Bundestag nun über den Afghanistan-Einsatz entschieden wird. Für die Verlängerung des Bundeswehrmandats – und damit auch dafür, dass weiterhin sechs deutsche Tornado-Kampfjets Aufklärungsflüge im Süden Afghanistans unternehmen? Oder soll ich mit Nein stimmen und mich damit gegen die Fraktionsdisziplin auflehnen? Von uns Abgeordneten wird erwartet, dass wir den Kurs der Regierung unterstützen, auch wenn wir persönlich anderer Meinung sind. Was soll ich also tun?

Ich bin seit fünf Jahren im Bundestag. Ich halte mich nicht für einen notorischen Abweichler oder Revoluzzer, doch die politische Linie der SPD hat in den vergangenen Jahren häufiger meinen Überzeugungen widersprochen. In der Fraktion habe ich mehrfach gegen die Mehrheit gestimmt oder mich enthalten – und das wird gar nicht gern gesehen. Ich werde zwar nicht gemobbt und muss auch nicht in der Kantine allein am hintersten Tisch sitzen. Doch in den Fraktionssitzungen merke ich bisweilen den Unmut der anderen: Es kann zu heftigen Attacken kommen, bei denen die Redner deutlich machen, wie übel sie es finden, wenn sich jemand der Mehrheit verweigert. Sätze wie »Die Abweichler machen es sich schön leicht, während wir zu Hause geprügelt werden«, sind nicht selten. Andererseits habe ich unter dem Druck der Partei und des Koalitionsvertrages schon mehrmals für Gesetzesvorlagen gestimmt, die ich persönlich ablehne. Über einige dieser Entscheidungen ärgere ich mich bis heute, zum Beispiel bei der Föderalismusreform. Diese Reform ist insgesamt völlig ungenügend und zum Nachteil der Umweltpolitik. Die Länder erhalten mehr umweltpolitische Kompetenzen, was aller Voraussicht nach zu einem Wettbewerb um die niedrigsten Auflagen führen wird; schließlich schrecken hohe Auflagen viele Unternehmen ab. Zudem haben wir dann vermutlich in jedem Bundesland eine andere Gesetzgebung, was viele Unternehmen mit verschiedenen Standorten vor Probleme stellen wird.

Bevor über die Reform im Bundestag abgestimmt wurde, haben wir im Umweltausschuss, dem ich angehöre, heftig darüber gestritten. Es ist so, dass über eine Gesetzesvorlage zum ersten Mal im Ausschuss abgestimmt wird, und in der SPD-Fraktion wurde entschieden, dass Gesetzesvorlagen in den Ausschüssen grundsätzlich nicht scheitern dürfen. In so einem Fall müssen wir uns fügen, obwohl wir SPD-Leute im Umweltausschuss die Reform gern abgelehnt hätten.
Die Gewissensentscheidung, die jedem Abgeordneten die freie Wahl lässt, gilt, wenn überhaupt, nur für das Plenum, nicht für den Ausschuss. Was sehr hart ist, sitzen in den Ausschüssen doch die Fachpolitiker, die am besten Bescheid wissen. Die müssen dann auf Order der Fraktion einer Vorlage zustimmen, die sie eigentlich ablehnen. In den Ausschüssen werden dann im Härtefall schon mal die üblichen Tricks angewandt. Einer ist während der Abstimmung auf dem Klo, der andere sucht etwas unter dem Tisch. Im Plenum aber habe ich mich damals der Fraktionsdisziplin gebeugt und für die Reform gestimmt.

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Ich bin einer von 222 SPD-Abgeordneten. Im Wahlkreis Dortmund I wurde ich direkt ins Parlament gewählt – eigentlich um die Regierung zu kontrollieren. Aber darum geht es kaum. Die wichtigste Aufgabe einer Regierungsfraktion scheint vielmehr darin zu bestehen, die Vorgaben der Regierung möglichst kritiklos umzusetzen und die SPD-Minister in ein gutes Licht zu rücken. Die politische Linie zu beeinflussen ist für Abgeordnete sehr schwierig. Wer häufig gegen die Mehrheit stimmt, ist bei der Fraktionsspitze schnell unten durch und wird irgendwann nicht mehr ernst genommen. Vor wichtigen Entscheidungen werden Abweichler unter Druck gesetzt und zum Beispiel zu Einzelgesprächen ins Büro von Peter Struck, unserem Fraktionsvorsitzenden, zitiert.

Ich war nicht naiv, als ich in den Bundestag kam. Immerhin hatte ich schon 15 Jahre politische Arbeit hinter mir. Nach fünf Jahren als Abgeordneter bin ich wegen der jetzigen Politik dennoch ein bisschen desillusioniert. Ich würde gern mehr bewegen, so wie das unter Rotgrün teilweise noch möglich war. Damals habe ich zum Beispiel an der Novellierung des Gesetzes für erneuerbare Energien mitgearbeitet – aus meiner Sicht das beste Gesetz in der gesamten rotgrünen Ära. Es hat für Aufschwung in einer jungen Industrie gesorgt und wird weltweit kopiert.

Unter Rotgrün war der Druck bei Abstimmungen noch größer als heute, weil wir eine sehr knappe Mehrheit hatten. Jeder musste mit der Fraktion stimmen, um die Regierung nicht zu gefährden. Als es 2003 um die Gesundheitsreform ging, wurde ich sogar krank ins Parlament bestellt. Ich lag in einem Nebenraum auf einer Liege, habe dort meine Stimme abgegeben und bin danach wieder zurück nach Dortmund gefahren. Doch obwohl der Druck heftiger war, fand ich die Situation insgesamt leichter, weil ich die politische Richtung von Rotgrün eher mittragen konnte. Nur mit Hartz IV hatte ich echte Probleme.

Seit Beginn der Großen Koalition vor zwei Jahren ist alles viel schwieriger geworden. Die Mehrheit ist so komfortabel, dass sie mehr Gegenstimmen vertrüge, doch die Fraktionsspitze tut immer alles, um den Eindruck von Geschlossenheit zu erwecken. Wenn die Regierung ein Gesetz einbringt, steht man als Abgeordneter automatisch unter Druck. Hat man Einwände und will weitere Diskussionen oder gar Änderungen, wird in den Medien schnell von Uneinigkeit gesprochen, von Streit. Ich erinnere mich noch an mein erstes Jahr im Bundestag, einige junge Abgeordnete – ich war einer von ihnen – hatten einzelne Punkte der ersten Gesundheitsreform kritisiert. In den Zeitungen stand dann: »Junge Genossen attackieren die Gesundheitsministerin«. Auf solche Berichte reagiert die Fraktionsspitze. Es heißt dann: Ihr wisst, was passiert, wenn ihr nicht zustimmt. Ihr blamiert die Regierung und spielt dem politischen Gegner in die Hände.

Eigentlich ist es unsere Aufgabe als Abgeordnete, nicht alles mitzumachen. Aber es ist heute so, dass man sich rechtfertigen muss, wenn man nicht zustimmt. Wahrheiten auszusprechen ist nicht beliebt. Uns wird gern die Schuld für schlechte Ergebnisse bei den Meinungsumfragen gegeben. Es heißt dann, dass wir, die wir uns häufig querstellen, die Politik falsch kommunizieren und sie vor Ort nicht gut verkaufen würden. Aber wenn trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs das Netto-Realeinkommen sinkt und die Kinderarmut steigt, dann hat das nicht allein mit schlechter Kommunikation zu tun. Finanzminister Peer Steinbrück hat kürzlich sogar von Heulsusen gesprochen, die an Gesetzen herummäkeln und nie zufrieden seien. Wenn diese Entwicklung so weitergeht, kann man sich fragen, wozu Regierungsfraktionen noch gut sind.
Zum Abnicken und Jasagen?

Wer in der Fraktion etwas werden will, muss sehen, dass er mit der Mehrheit stimmt – so einfach ist das. Die Fraktionsspitze wird kaum höhere Weihen für die haben, die zu oft dagegen sind. Besonders vorsichtig verhalten sich Abgeordnete, die über die Landeslisten ins Parlament gekommen sind; das betrifft 77 der 222 Abgeordneten, die restlichen 145 wurden direkt gewählt. Wer keinen eigenen Wahlkreis hat, überlegt sich zweimal, ob er gegen die Mehrheit stimmen soll, aus der nicht unberechtigten Sorge, vor der nächsten Wahl vielleicht den guten Listenplatz zu verlieren.

Mit der Mehrheit zu stimmen ist immer der leichteste Weg. Auch im Wahlkreis kann man dann sagen: Ich war zwar dagegen, aber was sollte ich machen? Grundsätzlich ist es so, dass ich gegenüber meinem Dortmunder Wahlkreis die größte Verpflichtung verspüre, schließlich wurde ich dort gewählt. Ich werde jedenfalls nicht von der Basis gefeiert, wenn ich gegen die Fraktion stimme, selbst wenn die Mehrheit vor Ort so denkt wie ich. Schnell kann es auch im Wahlkreis heißen: Er ist nicht loyal, was will er eigentlich in Berlin? Und selbst als ich mich bei der Rente mit 67 der Stimme enthalten habe, waren sowohl die Befürworter der Reform als auch die Gegner enttäuscht. Man kann es nie jedem recht machen.

Wenn ich mir anschaue, wie dick der Stapel der Vorlagen ist, der jede Woche auf dem Tisch vor dem Plenarsaal liegt – nur zum Lesen allein bräuchte ich schon eine Woche. Das führt dazu, dass ich bei vielen Abstimmungen weder den Gesetzestext kenne noch wirklich weiß, worum es geht. Wenn es sich um Entscheidungen handelt, die nichts mit meinem Fachgebiet zu tun haben, muss ich mich auf die jeweiligen Experten verlassen. Gibt es im Vorfeld keine großen Streitigkeiten oder Einwände aus meinem Wahlkreis, dann kümmere ich mich nicht weiter um den genauen Inhalt der Entscheidung, sondern stimme ab, wie die Fraktion will. Als Abgeordneter bin ich oft ein gefährlich Halbwissender.

Wenn ich Besuchergruppen durch den Bundestag führe und dabei berichte, wie viel Arbeit ich habe, sind die Leute in der Regel total verdutzt. Die meisten denken, wenn das Plenum leer ist, hätte ich frei. Auch vom Druck haben die meisten keine Vorstellung, von der Erwartungshaltung innerhalb der Fraktion und in meinem Wahlkreis, von Gewissensnöten und schlaflosen Nächten. Alles wird dadurch erschwert, dass niemand genau vorhersagen kann, welche Folgen ein neues Gesetz haben wird. Man muss sich nur einmal Hartz IV ansehen: Kein Experte hat geahnt, was dieses Gesetz bewirken würde. Und all die Entscheidungen sind kaum rückgängig zu machen, das ganze Land muss mit ihnen leben.

Ähnliches gilt nun für die Abstimmung über den Tornado-Einsatz. Mir leuchtet ein, dass man die deutschen Soldaten nicht einfach abziehen kann. Die Gründe für den Tornado-Einsatz überzeugen mich hingegen nicht. Das ist an der Schwelle zum Kampfeinsatz, Tornados sind schließlich keine Schönwetterflieger. Bei der letzten Abstimmung im März war ich gegen den Tornado-Einsatz, aber dieses Mal sind die beiden Entscheidungen zusammengelegt worden. Man muss für beides sein oder gegen beides – damit wird es Abgeordneten wie mir erschwert, gegen die Tornados zu stimmen.

Ich habe beschlossen, mich in Zukunft bei Abstimmungen nicht mehr ausschließlich der Mehrheit zu fügen. Die Meinung meiner Basis, meines Wahlkreises und meine Überzeugung sind mindestens genauso wichtig. Denn die Große Koalition ist auf dem falschen Weg. Nur wenn der Gesamtkurs stimmen würde, könnte ich auch weiterhin Einzelabstimmungen gegen meine Überzeugung mittragen. Die Mehrwertsteuererhöhung, die Gesundheitsreform, die Rente mit 67, die vor allem Arbeitnehmer trifft, und zuletzt auch noch die Senkung der Unternehmenssteuer – im Zusammenspiel kann ich darin keine ausgewogene soziale Politik mehr erkennen. Bei einer Fraktionssitzung habe ich auch mal gesagt, dass ich diese Entscheidungen in der Summe nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren könne. Es wurde stiller im Saal, was sonst eigentlich nur passiert, wenn ein Minister oder der Fraktionschef redet. Aber keiner hat etwas erwidert.

Marco Bülow,geboren 1971, ist freier Journalist und PR-Berater. Er kommt aus Dortmund und wurde 1992 Mitglied der SPD. Seit 2002 sitzt er für seine Partei im Bundestag. Im September 2005 wurde er mit 56,3 Prozent der Erststimmen im Wahlkreis 143, Dortmund I, erneut in den Bundestag gewählt. Seit November 2005
ist er umweltpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.