Reihe 7 Platz 88

Udo Voigt hat sein Leben in der NPD verbracht. Er verachtet die EU. Doch seit einem Jahr sitzt er im Europaparlament. Wie hält die Demokratie so einen aus? Und hat ihn dieses Amt verändert? Wir haben ihn vom ersten Tag an begleitet.

Udo Voigt ist seit 47 Jahren in der NPD, ein Rechter, ein Staatsfeind, wegen Volksverhetzung und Verherrlichung der Waffen-SS vorbestraft, aber wenn er einen leeren Raum mit weißen Wänden sieht, geht es ihm wie den meisten: Er will ihn bunt, er will ihn gemütlich machen. Bei der Europawahl 2014 haben ihm 301 139 Menschen ihre Stimme gegeben, das hat für einen Sitz im Europaparlament gereicht. Jetzt hat er zwei Büros in Straßburg und Brüssel einzurichten. Was also könnte er aufhängen oder aufstellen? Er braucht Bilder, eine Zimmerpflanze, ein Stück Heimat in der Fremde. Am Ende entscheidet er sich für eine Büste von Bismarck, eine Landkarte des Deutschen Reichs von 1876 und einen Kunstdruck, Der letzte Mann, ein Gemälde des Marinemalers Hans Bohrdt, das einen deutschen Matrosen zeigt, wie er in der Seeschlacht um die Falklandinseln 1914 die Reichskriegsflagge schwingend untergeht. Der letzte Mann, Treue bis in den Tod, das gefällt Voigt. »Wissen Sie, was das Tolle an der deutschen Mentalität ist?«, hat er mal gesagt. »Pflichterfüllung. Wir sind bereit, für eine Idee unterzugehen.«

Aber noch ist es nicht so weit. In zwölf Stunden wird ein Streichquartett die achte Legislaturperiode des Europaparlaments in Straßburg eröffnen. Dann wird Udo Voigt der erste und einzige Europaabgeordnete der NPD sein. Es ist der Abend des 30. Juni 2014, Voigt sitzt beim Griechen in Ohlsbach an der deutsch-französischen Grenze, im Fernsehen läuft Fußball-WM, Deutschland gegen Algerien. Er hat seine Mitarbeiter um sich geschart, er nennt sie »Kameradinnen und Kameraden«: seinen persönlichen Referenten Karl Richter, Musikwissenschaftler und Historiker, der mit seiner Nickelbrille ein bisschen wie Himmler aussieht, eine Biografie über Richard Wagner geschrieben hat und bei seiner Vereidigung im Münchner Stadtrat seine Hand zum Hitlergruß erhoben haben soll; seinen Berliner Referenten Uwe Meenen, 2011 von fünf vermummten Gestalten mit Schlagstöcken ins Krankenhaus geprügelt, 2012 wegen Volksverhetzung verurteilt; seinen parlamentarischen Assistenten, den Verwaltungswissenschaftler Florian Stein; und seine langjährige Sekretärin Bettina Bieder, Typ Fanmeile, Knöchel-Tattoo, heiteres Wesen. Eigentlich ist es nur ein Montagabend, aber für die Anwesenden ist es ein Moment, der sich historisch anfühlt. Wochen später wird Richter sich erinnern und Goethe zitieren: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« Das Fußballspiel kann er nicht gemeint haben, nach neunzig Minuten steht es 0:0, Verlängerung.

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Die neue Epoche, das ist ein Einzelabgeordneter ohne Fraktion und Einfluss, der im Parlament gelegentlich sechzig Sekunden am Stück sprechen darf. Der Vertreter einer Partei, die ausgegrenzt wird und gerade mal wieder als verfassungswidrig verboten werden soll. Voigt trägt einen akkuraten Schnauzbart. Wenn er geht, wackelt er leicht hin und her, in Blouson und bequemen Schuhen; wenn er lächelt, sieht er verschmitzt aus. Trotzdem ist er einer der meistgehassten Menschen Deutschlands. In der U-Bahn hat er grundsätzlich eine Zeitung dabei. »Damit ich mein Gesicht verbergen kann«, sagt er, »man weiß nie, wer einsteigt.« Er geht davon aus, dass es Menschen gibt, die ihn töten würden, wenn er ihnen in die Hände fiele. »Allerdings«, und dann lacht er höhnisch, »würde ich ein paar mitnehmen.« Seit Jahrzehnten bekommt er Morddrohungen, einmal haben sie sein Reihenhaus in Moosburg an der Isar mit Hakenkreuzen vollgesprüht. Im Vorgarten steht eine alte Munitionskiste der Bundeswehr, in die hat seine Frau ein paar Blumen gepflanzt.

Heute Abend muss er sich nicht verstecken. Als er am Nachmittag die Schlüssel für sein Büro abgeholt hat, habe man ihn sofort erkannt, sagt er. »Ah, der Herr Voigt aus Deutschland«, habe der Beamte vom Sicherheitsdienst gesagt, »um Sie kümmere ich mich persönlich.« Er ist jetzt Europaabgeordneter, verdient 8020 Euro im Monat, genießt Immunität, hat Anspruch auf Fahrbereitschaft und persönliches Briefpapier. Sein Hausausweis klemmt am Revers, daneben die goldene Parteinadel, die er für dreißig Jahre NPD-Mitgliedschaft überreicht bekam, das war noch im vergangenen Jahrhundert. Heute Abend gibt er sich staatsmännisch, während die anderen blödeln. Sie trinken auf das »deutsche Elsass-Lothringen«, nennen Miroslav Klose »den Oberschlesier«, die neuen Bundesländer »Mitteldeutschland«. Sie machen das absichtlich. Ein Reporter des SZ-Magazins sitzt am Tisch, dann soll er auch die NPD kriegen, die er sich vorgestellt hat. Richter erzählt, dass er im Kinofilm Der Untergang eine Statistenrolle als Adjutant gespielt habe. »In einer Szene«, sagt er, »durfte ich Hitler sogar die Hand geben. Danach hab ich mich eine Woche lang nicht gewaschen.« Alle lachen, Voigt lächelt nicht mal. Dass ausgerechnet Özil in der 119. Minute das erlösende 2:0 schießt, kriegen sie nur noch am Rande mit. Ein Parlamentsmitarbeiter hat die Sitzordnung für den Plenarsaal vorbeigebracht. Jetzt beugen sich alle drüber, suchen Voigt, zitieren Namen, Marine Le Pen, Alessandra Mussolini, Martin Sonneborn, alle sind da, nur Udo nicht. Wo sitzt er bloß? Und neben wem? »Mensch, Udo«, ruft Meenen, »da bist du ja. Ganz rechts außen, das passt.« Und wirklich, Voigt sitzt in der siebten Reihe, Platz 88. Sie lachen. Sie jubeln. Sie können es nicht fassen. 88 – das Symbol für Heil Hitler. Am nächsten Tag schreibt der Titanic-Herausgeber Sonneborn auf Facebook: »Die 700er Plätze sind für die Fraktionslosen und Verhaltensauffälligen reserviert. Udo Voigt sitzt auf Platz 788 – doch ein Spaßparlament.«

Udo Voigt ist es nicht gewohnt, dass sich Journalisten wirklich für ihn interessieren. Linke Zeitungen berichten gelegentlich mit einem Hang zur Hysterie, meistens wird er ignoriert. Er sieht das als Auszeichnung. Über die Idee, ihn ein Jahr zu begleiten, war er überrascht. Das erste Treffen fand im März 2014 im »Bistro Bonjour« des Einkaufszentrums in Berlin-Köpenick statt, wo er eine 40-Quadratmeter-Wohnung besitzt.

»Der grünste Bezirk Berlins«, sagt er stolz, »Ausländeranteil 3,4 Prozent«, außerdem Sitz der NPD-Zentrale, nur ein paar Kilometer östlich von Berlin-Mitte, aber Lichtjahre entfernt von den merkwürdigen Menschen mit den bunten Turnschuhen und Ayurveda-Suppen. Voigt bestellt eine Tasse Kaffee, hört zu, nach 15 Minuten streckt er die Hand aus: »Ich weiß, dass Sie mich kritisieren werden, ich weiß, dass Sie die NPD ablehnen, aber eine Sache wünsche ich mir: dass Sie fair sind.« Und tatsächlich wird es im Verlauf des folgenden Jahres beides geben: zähes Ringen um Verstehen, wortloses Entsetzen, aber auch interessante Gespräche und ja, heitere Momente.

Um in Deutschland gewählt zu werden, stand neulich im Spiegel, müsse ein Politiker sein wie Angela Merkel: verlässlich, berechenbar, vernünftig. Auch wenn es merkwürdig klingt, all das ist Udo Voigt. Er ist extrem höflich und freundlich, definitiv kein Macho und für einen Politiker erträglich narzisstisch. Er ist eitel, aber er ist es still. Er möchte nicht berühmt oder reich werden, er möchte das deutsche Volk vor dem Untergang bewahren. So sieht er das. Er hört gut zu, ist immer, wirklich immer pünktlich. Sitzt der Reporter wie abgemacht um acht Uhr am Frühstückstisch im Hotel, schaut er auf die Armbanduhr, sagt »Punkt acht Uhr, Respekt!« und balanciert sich eine Scheibe Gouda vom Buffet auf den Teller. Man hat nie den Eindruck, dass er sich verstellt oder gefallen möchte. Von 1996 bis 2011 war er Parteivorsitzender einer rechtsextremen Partei, da kann er nicht auf einmal so tun, als wäre er ein bisschen konservativ. Es würde ihm auch nichts nützen. Er weiß, sein Kapital sind seine eindeutigen Ansichten, seine radikalen Ideen und seine Dreistigkeit, beides offen auszusprechen. Im Gegensatz zu allen anderen Politikern verzichtet er auch darauf, seine Zitate in Texten wie diesem vor dem Abdruck gegenzulesen. »Voigt ist ein Kumpeltyp«, sagt der Publizist Toralf Staud, der seinen Werdegang seit Jahren kritisch beobachtet. »Viele können sich nicht vorstellen, dass ein Rechter gern trockenen Rotwein trinkt und gute Manieren hat, aber Voigt ist eben beides: ein umgänglicher Mensch und ein völkischer Rassist.« Michel Friedman, ehemaliger Vizevorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagt: »Als NPD-Funktionär ist er ein gefährlicher und rückwärtsgewandter Menschenfeind und geistiger Brandstifter.«

Voigt lacht selten, ironisch ist er nie. Alles, was er sagt, auch nach Feierabend in der Kneipe, klingt förmlich, als würde er vor Publikum sprechen. Er wirkt unfrei, als werde er von einer Kraft oder Angst zurückgehalten, die nur er spürt und verstehen kann. Er ist ein verlässlicher, kein lässiger Mensch. Ein Journalist hat mal geschrieben, er könnte auch einen Minigolfplatz bewirtschaften. Manchmal rührt er einen fast: Wenn er Englisch redet und »the« wie »sä« ausspricht. Wenn er »Tschüssi« statt »Tschüss« oder »Läppi« statt »Laptop« sagt und sich entschuldigt, weil ihm ein Wort wie »Mainstream« rausgerutscht ist, wo er das doch ablehnt, die deutsche und die englische Sprache zu vermischen. Normal zieht er das durch, sagt Weltnetz statt Internet, E-Post statt E-Mail, Gesichtsbuch statt Facebook. Seine Zweireiher kauft er bei C&A. Seine Urlaube verbringt er an der Ostsee, in Kärnten, auf den Kanaren. Er besitzt ein Motorrad und ein Segelboot an der Ostsee. Er ist kein Weltmann, versucht aber auch nicht, einer zu sein. Und wenn er da so sitzt, im Dreisternehotel, das Handy an den Gürtel geklemmt, den Rollkoffer neben sich, sieht er aus wie ein einsamer, in die Jahre gekommener Handelsvertreter, der ein Produkt zu verkaufen hat, das aus der Mode gekommen ist.

Es gibt die ausländerfeindliche Parallelgesellschaft, aber sie orientiert sich nach oben, in Richtung Mittelschicht; mit Neonazis will sie nichts zu tun haben.

Als Voigt 1968 in die NPD eintrat, war die Partei in sieben deutschen Landesparlamenten vertreten, heute hält sie von 1857 möglichen gerade mal fünf Landtagsmandate, alle in Mecklenburg-Vorpommern. 2014 scheiterte sie in Thüringen und in Brandenburg deutlich an der Fünfprozenthürde, in ihrem Machtzentrum Sachsen flog sie nach zehn Jahren aus dem Landtag. Ein schwerer Schlag, weil man sich so an die 1,4 Millionen Euro Fraktionszuschüsse im Jahr gewöhnt hatte. Der frühere Parteichef und Hoffnungsträger Holger Apfel hat sich abgesetzt und eine Bierstube auf Mallorca eröffnet, die Schnitzelsaucen sollen richtig gut sein; den aktuellen, einen 36-jährigen Internetunternehmer namens Frank Franz, muss man schon googeln, um ein Gesicht vor Augen zu haben, und dann erschrickt man, weil man auf seiner Facebook-Seite fast genauso viele niedliche Tier- wie typische Parteibilder findet. Ein Verbotsantrag liegt beim Bundesverfassungsgericht, die Finanzlage ist desaströs, die Mitgliederzahl sank in den vergangenen Jahren von 7200 auf 5500. Dabei stünde das Gelegenheitsfenster so weit offen wie lange nicht: Zehntausende von Flüchtlingen strömen nach Deutschland. Sie kommen in Kofferräumen, sie kommen in Schlauchbooten. Laut einer ZDF-Umfrage finden 32 Prozent der Deutschen, dass ihr Land zu viele aufnimmt. Euro, Demokratie, EU – klingt alles nicht mehr so überzeugend wie vor zehn Jahren. Ängstliche Kleinbürger verabreden sich zu Protest-Spaziergängen. In den Talkshows streiten sie über Kopftücher, Pegida und die AfD. Die Gemeinschaftsidee von Europa wankt. Die Angst vor dem Fremden ist zurück – und die NPD profitiert nicht davon.

Bei der Bundestagswahl 2013 kam sie auf 1,3 Prozent. Es ist, als wäre die Zeit über die NPD hinweggestiegen, so eindeutig ist sie, irgendwie kontaminiert durch die Vergangenheit: zu viel Adolf, zu viel Schwarzweißrot, zu viele tätowierte Waden, zu wenig bürgerlich, zu wenig Gegenwart, zu wenige Professoren auf den Kandidatenlisten. Es gibt die ausländerfeindliche Parallelgesellschaft, aber sie orientiert sich nach oben, in Richtung Mittelschicht; mit Neonazis will sie nichts und umso weniger zu tun haben, je mehr Gemeinsamkeiten sie erahnt. Die NPD sei eine »sterbende Partei«, sagte der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich und beteiligte sich 2013 nicht am Verbotsantrag, der – im Gegensatz zum ersten von 2001 – nur vom Bundesrat, nicht aber von der Regierung und dem Bundestag eingereicht wurde. Es gibt auch NPD-Mitglieder, die das so sehen: »Zu männerbündlerisch, sektiererisch, komplexbeladen«, klagt einer aus dem Parteivorstand, »ein Haufen Männer, die Angst vor selbstbewussten Frauen haben. Wir sind auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit.«

Voigt sieht das nicht so. Und wenn doch, würde er es nicht zugeben. Voigt ist keiner, der aufgibt. Er sagt, die NPD sei »in Lauerstellung«, hält seinen Posten und simuliert von Straßburg aus Bedeutung. Sein Europamandat ist das Feuerchen, um das sich die Partei versammelt hat, während sie vor sich hin erodiert, Voigt selbst der Fackelträger, der die Flamme nicht ausgehen lässt und wartet, bis einer kommt, mutig genug, sie ihm aus der Hand zu nehmen. »Es gibt nur zwei Dinge, die mich von der NPD trennen können«, sagt er: »Verbot oder Tod.«

Was aber hat so einer im Europaparlament verloren? Ein EU-Gegner und Verschwörungstheoretiker, der jeden Widerspruch als Bestätigung empfindet und glaubt, dass der Anschlag auf das World Trade Center von den Amerikanern und die NSU-Morde von der türkischen Mafia angeordnet wurden. Ein Typ, der Rudolf Heß posthum für den Friedensnobelpreis vorschlägt und Wahlplakate mit dem Slogan »Gas geben« in Berlin verteilen lässt. Geht er in Totalopposition oder nimmt er sein Mandat ernst? Bleibt er isoliert oder knüpft er Kontakte zu Rechten im Ausland? Und wie kann so einer mit Marine Le Pen vom Front National oder Bernd Lucke von der AfD?

Die ersten Tage in Straßburg fühlen sich gut an, so viele Termine, so viel Wirbel war lange nicht. Voigt schafft es, in den LIBE-Ausschuss für Menschenrechtsfragen, Asylpolitik und Innere Sicherheit zu kommen, außerdem endlich mal wieder in die Zeitung: Der britische Guardian stellt die merkwürdigsten Europaabgeordneten vor. Ehrensache, dass er dabei ist. Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, protestiert: Ein Nazi im Ausschuss für Menschenrechte! Voigt kontert: »Genau der richtige Ort für einen Patrioten.« Am ersten Tag läutet sogar einmal das Telefon, und am anderen Ende ist nicht der Sicherheitsdienst: Ein kanadischer Journalist bittet um ein Interview. »I think tomorrow morning it should be possible.« Als Voigt am nächsten Morgen vor seiner Bürotür steht, starrt er auf einen Aufkleber: »Nazis raus!«

Als die Europahymne gespielt wird, steht er nicht auf. Als Martin Schulz von der SPD zum Präsidenten vereidigt wird, applaudiert er nicht. Im Gegenteil, er lässt seine Mitarbeiter weiter Zahlen recherchieren, mit denen er Schulz als »korrupten Apparatschik« bloßstellen kann. Politik machen, das ist in den ersten Tagen vor allem: Fotos machen. Im Plenum, im Innenhof, im Foyer vor den Fahnen der 28 Mitgliedstaaten. Alles, was international wirkt, knipst er und stellt es ins Netz. Die Texte schreibt Karl Richter, Voigt liest drüber, nickt ab, nur »Udos Team« gefällt ihm nicht so gut, »Udos kompetenter Mitarbeiterstab«, ja, das klinge besser. Das macht Eindruck bei den Kameraden und Wählern. Denn darum geht es: den Leuten in der Oberlausitz und im Vogtland zu zeigen, dass ihr Udo ganz oben mitspielt. So kann er Wichtigkeit dokumentieren und die NPD als Teil einer internationalen Kampfgemeinschaft inszenieren. Da kommt das Glückwunschschreiben des iranischen Botschafters aus Berlin gerade recht.

Wenn einer gedient hat, hat Voigt Respekt vor ihm, da kann er auch die SPD oder die Grünen wählen.

Donnerstag, 3. Juli 2014. Die erste Sitzungswoche ist vorüber. Voigt steht vor der Tiefgarage des Parlaments, der Abendwind greift in die Fahnen, ein majestätischer Anblick. Er möchte zu seinem Auto, aber die Stahltür ist verschlossen. Er sieht sich um, hilflos, niemand zu sehen, dann entdeckt er die Sprechanlage: »How I can get to my car?«, ruft er in den Lautsprecher. Es summt, die Tür öffnet sich. Voigt schaut nach links, nach rechts, dann erinnert er sich, wo er seinen schwarzen Passat abgestellt hat. Im Kofferraum: eine Kiste mit Ersatzkanister und je einer Flasche Wasser, Motorenöl und Scheibenwischerflüssigkeit. In der Seitenablage: CDs, Märsche, Seemanns- und Westernlieder, das neue Album von Helene Fischer. In der Mittelkonsole: ein Sanifair-Bon über fünfzig Cent. Er hat sich mit den anderen in einem Restaurant am Rheinufer verabredet. Eine Kleinigkeit essen, die Woche ausklingen lassen. Es piept. Eine SMS seiner Sekretärin, sie hat vorsichtshalber ein Foto des Straßenschilds geschickt, Voigt spricht kein Französisch. Jetzt tippt er den Straßennamen in sein Navi, fährt ins Freie; die Sonne steht tief, er setzt die Sonnenbrille auf, krempelt die Hemdsärmel zurück, atmet aus: »Wo man sich nicht fremd fühlt, sondern zu Hause«, sagt er, »das ist ein Stück Heimat.« Er meint Straßburg. Deutet auf die Fassaden, die Balkone, »alles wilhelminisch, alles deutsch«. Als er zwei Stunden später mit seiner Kreditkarte die Rechnung für alle übernimmt, handelt es sich nicht um eine mondäne Geste, sondern um die wohlüberlegte Entscheidung eines Kleinbürgers, der sich einen Ruck gibt, um einen besonderen Moment zu markieren.

Vier Tage lang ist er jetzt durch diesen Glasbunker gehetzt, dieses Neonlichtlabyrinth aus Gängen und Sälen. Er hat sich sein Postfach und die Kantine zeigen lassen. Was soll er sagen? Er ist hin- und hergerissen, abgestoßen von diesem »bürokratischen Monster«, diesem »Selbstbedienungsladen«, diesem »undemokratischen Ort«, man müsse sich das mal vorstellen, bei der Wahl der 15 EU-Kommissare habe Parlamentspräsident Schulz tatsächlich gesagt: »Sie haben nur eine Möglichkeit, nämlich mit Ja zu stimmen.« Auf der anderen Seite sei er auch überrascht, »weil ich freundlich aufgenommen worden bin«. Bis auf die Abgeordneten der AfD grüßen ihn alle, aber die müssen sich abgrenzen, das versteht er schon, und dieser Aufkleber an der Tür? Mein Gott. Voigt saß mal acht Jahre im Bezirksparlament Treptow-Köpenick. Damals wurde er acht Jahre lang nicht gegrüßt und nicht verabschiedet. Und jedes Mal wenn er sich in der Cafeteria an einen Tisch gesetzt hat, standen die anderen auf und gingen weg.

Da findet er die Atmosphäre in Straßburg schon kollegialer, in Wahrheit ist sie anonymer, technokratischer, gleichgültiger; es macht sich ganz einfach niemand die Mühe, ihn zu beleidigen. In der Cafeteria sieht man ihn selten, die anderen Abgeordneten aus Italien, England und Frankreich sitzen ständig da, telefonieren und trinken Espresso, die Männer geckenhaft, mit schmalen Krawatten und rindsledernen Aktentaschen, die Frauen mit hohen Schuhen und riesigen Sonnenbrillen. Er sagt, er habe keine Zeit zum Kaffeetrinken, er müsse Anträge lesen, E-Mails beantworten, aber was soll er machen, wenn ihn niemand fragt, ob er mitkommt? Und wenn er auf seinem Weg ins Büro an ihnen vorbeigeht, wirkt er wie ein Rentner, der sich verlaufen hat, der eigentlich die Enten füttern will, draußen am Kanal. Es sind die Momente, in denen man ihn liebenswürdig finden kann, weil er so konsequent solide, so beharrlich provinziell, so trotzig tüchtig ist. Sie dauern meistens nur bis zum nächsten längeren Monolog.

Mitte Juli 2014 feiert Voigt seinen ersten Triumph. Es ist wieder ein Donnerstag, 12.30 Uhr, als er sich im Plenum zu Wort meldet: »Herr Präsident, als neu gewähltes Mitglied bin ich etwas befremdet darüber, dass keine zehn Leute mehr im Saal sind, bei einer Sitzung, die bis 14 Uhr anberaumt worden ist.« Er hat recht. Von den 751 Abgeordneten sind 741 abgereist, gleich nachdem sie mit ihrer Unterschrift sichergestellt haben, dass ihnen keiner mehr die 304 Euro steuerfreies Tagegeld nehmen kann. Der Präsident unterbricht, es gehe um die aktuelle Lage im Irak, der Abgeordnete Voigt möge sich an die Tagesordnung halten. Aber Voigt lässt sich nicht abwimmeln, genau das unterscheidet ihn doch von den »Etablierten«, wie er sie nennt, »den Zynikern«, und dann passiert etwas, was in einem Parlament nicht oft vorkommt: Die Schüler und Touristen auf den Zuschauerrängen, die Besucher mit ihren Funktionsjacken und Brustbeuteln, die nicht wissen, wer er ist, aber ahnen, was er meint, applaudieren ihm. Seitdem postet er ständig auf Facebook, wie zeitig er schon im Büro sitzt oder halt wie spät am Abend noch. Fleiß und Ausdauer, das hat er jetzt verstanden, werden von den Menschen da draußen geschätzt. Natürlich erzählt er die Anekdote bei seinem Wahlkampfauftritt in Hamburg. Nutzen tut es nicht. Bei der Bürgerschaftswahl im Februar 2015 landet die NPD bei 0,3 Prozent, obwohl 400 Kilometer weiter östlich jeden Montag 20 000 Leute auf die Straße gehen, um sich ihrer Ängste zu vergewissern. Voigt würde gerne mitmarschieren – er ist davon überzeugt, dass der islamistische Terror bald nach Deutschland kommen wird –, allein, ihm fehlt die Zeit.

Im EU-Parlament sitzen 120 EU-Skeptiker, Rechtspopulisten und Nationalkonservative. So viele wie nie zuvor, eine Fraktion bilden sie nicht. Die Vorbehalte sind zu groß. Und weil so eine wie Marine Le Pen weiß, dass ihre Chancen, erste Präsidentin von Frankreich zu werden, nicht gerade steigen, wenn in den Zeitungen Fotos zu sehen sind, auf denen sie neben diesem Neonazi aus Deutschland steht, sorgt sie dafür, dass solche Fotos nicht gemacht werden können. Dazu kommen inhaltliche Differenzen: Als Voigt sich im Plenum für einen palästinensischen Staat ausspricht, wird er von einem rechten Abgeordneten aus Holland als »Nazisau« beschimpft. Der Front National, die österreichische FPÖ und die PVV von Geert Wilders inszenieren sich als seriöse Rechte; die anderen, das sind die Nazis, die Extremisten, die Schmuddelkinder, und Udo Voigt aus Deutschland ist das schmutzigste Schmuddelkind von allen. Seine Kontakte beschränken sich auf die ultrarechte ungarische Jobbik-Partei und die militant auftretende Goldene Morgenröte aus Griechenland. Von denen hat er neulich eine Flasche selbst gebrannten Tsipouro geschenkt bekommen. Wieder so eine Anekdote, die man gut zu Hause erzählen kann, zum Beispiel im Oktober 2014 bei der Eröffnung seines Bürgerbüros in Köpenick, bei der die Partei endlich mal »Danke, Udo!« sagen kann. Sie tut es mit einem Geschenkkorb: Salami aus Ludwigslust, Würstchen aus Halberstadt, Senf aus Bautzen.

Wenn Voigt Dinge zu besprechen hat, die niemanden etwas angehen, geht er in den Wald. »Zwischen den Bäumen gehen die Richtmikrofone nicht.« Er ist überzeugt davon, dass er vom Verfassungsschutz abgehört wird, die Telefonate sowieso, aber auch wenn er Freunde oder Journalisten trifft. »Alles Selbstinszenierung«, sagt ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, »NPD-Leute stellen sich gern als Verfolgte dar.« Als Abgeordneter aber genieße Voigt Immunität. Alle Tätigkeiten, die er im Zusammenhang mit seinem Amt ausübe, dürfe man gar nicht überwachen. Voigt geht trotzdem davon aus, dass alle Gespräche, die für diesen Text geführt worden sind, mitgehört wurden, »dann halt mit Hilfe der Briten oder Amis«. Manchmal sei der Akku seines Handys so schnell leer, sagt er, »dann weiß ich, dass wieder jemand in der Leitung war«. Auf Reisen wie neulich fühlt er sich von »Schatten« verfolgt, vor zwanzig Jahren habe er eine Wanze unter seinem Sofa in Moosburg entdeckt. »Die hören sogar mit, wenn ich Telefonsex habe«, sagt er. Es ist im Laufe des ganzen Jahres einer seiner wenigen Versuche, einen Witz zu machen.

»Haben Sie gedient, Herr Haberl?«, die Frage stellt er dem Reporter nach wenigen Tagen. Sie ist ihm wichtig. Wenn einer gedient hat, hat Voigt Respekt vor ihm, da kann er auch die SPD oder die Grünen wählen. Ist die Antwort – wie in diesem Fall – »Nein«, wechselt er das Thema. Er kann sich nicht vorstellen, wie man das nicht wollen kann: seinem Land dienen. Überhaupt muss man tief in die Vergangenheit zurückgehen, in die Nachkriegszeit in der kleinen Stadt Viersen am Niederrhein, wenn man nachvollziehen will, wie sich der Junge, der besessen Karl May las und übermütig den Schützen- und Fanfarenumzügen hinterlief, zu dem Menschen radikalisiert hat, der in Deutschland die Todesstrafe einführen möchte und auf seiner Wikipedia-Seite mit dem Anführer des Ku-Klux-Klans posiert. Voigts Vater war Hitlerjunge. Als Soldat nahm er an den Feldzügen gegen Polen, Frankreich und Russland teil. 1949 kam er aus der Gefangenschaft zurück. Voigt hat seinen Vater geliebt und bewundert. Er sagt heute noch »Papa«, wenn er von ihm spricht. »In der Schule«, sagt er, »habe ich Fotos von Panzern gezeigt, die er abgeschossen hat.« Als sein Vater im Jahr 2000 stirbt, zitiert Voigt in der Traueranzeige Adalbert Stifter: »Denn was auch immer auf Erden besteht / Besteht durch Ehre und Treue. / Wer heute die alte Pflicht verrät / Verrät auch morgen die neue.« Er hantiert ständig mit solchen Versen. Auf Facebook postet er alle paar Wochen ein Gedicht, einen Aphorismus, ein paar Zeilen aus einem deutschen Drama. Meistens muss er tief ins 19. Jahrhundert zurückgehen, um die Gedanken zu finden, die ihm Mut machen, die ihn trös-ten, an Silvester 2014 zitiert er Friedrich Schiller: »Solang mein Herz noch schlägt / Mich mein Gefühl noch trägt / Werd ich bis zum Schluss / Einfach tun, was ich glaub zu tun muss« – aber er täuscht sich: In Wahrheit stammt der Vers von der Schlagersängerin Nicole.

Voigt tritt 1968 mit 16 Jahren in die NPD ein und wird ebenfalls Soldat. Er meldet sich als Offiziersbewerber zur Luftwaffe, ist fasziniert von Uniformen und historischen Schlachten, Waffentechnik und großen Generälen. Immer wieder liest er Clausewitz, die Briefe, die Aufsätze, irgendwann weiß er alles über Kriegsstrategie und Feldzüge. Er hat seinen Traumberuf gefunden, geht auf in dem System aus Befehl und Gehorsam, aus Kameradschaft und Korpsgeist. Bis heute hat er den militärischen Kodex verinnerlicht, mit ihm setzt er sich ab von den Menschen mit den weißen Kopfhörern und Baseballkappen. »Einen Freund sucht man sich aus«, sagt er, »einem Kameraden ist man verpflichtet.« Voigt ist ein politischer Soldat. Nie wirkt er nachlässig. Einen Saucenfleck auf dem Hemd würde er sich nicht verzeihen. Kameradschaft und Treue sind Wörter, die er oft verwendet. Selbst in scheinbar alltäglichen Situationen agiert er wie im Feld: Als unser Fotograf ihn im Frühstückssaal des Hotels fotografieren will, winkt er erst ab, schaut nach links, nach rechts, hält inne und flüstert: »Na gut, im Moment liegt keine Gefährdung vor.«

Als Soldat sind seine Beurteilungen tadellos – bis zu diesem Tag im Jahr 1982, als er nach München zum Militärischen Abschirmdienst bestellt wird. Ein Oberst legt ihm eine vorformulierte Austrittserklärung aus der NPD auf den Tisch: Berufssoldat oder NPD-Mitglied. Beides geht nicht. Nicht mehr. Sie hatten ihn schon länger im Visier, sein politisches Engagement, seine Ansichten, jetzt hat er sich zu entscheiden. Neben ihm liegt ein Stift. Voigt weiß, wenn er jetzt nicht unterschreibt, zerbricht sein Lebensplan, dann ist er seinen Beruf los, seine Perspektive, seine Sicherheit, aber er spürt auch, dass es hier und jetzt um eine Sache geht, die größer ist als sein persönliches Glück, und sagt: »Nein, Herr Oberst, das mache ich nicht.« Am Abend seines letztes Tages besucht er noch einmal das Offizierskasino in Freising. »Als ich ging«, sagt er, »hörte ich, wie der stellvertretende Kommandeur zum Kommandeur sagt: Schau mal, da geht einer unserer letzten Soldaten.« Udo Voigt liebt solche Anekdoten. Er erzählt sie ständig. Letzte große Worte, mit denen er seine Charakterfestigkeit zum Mythos stilisieren kann.

Er studiert dann Politikwissenschaften in München, macht eine Reinigung auf, setzt einen Wohnmobilverleih in den Sand, aber vor allem macht er Karriere in der NPD. Er leitet das Bildungszentrum der Partei in Norditalien, wird Landesvorsitzender, Bundesvorsitzender, macht die Partei gleichzeitig rechter und linker, nationalistischer und sozialistischer. »Geld für die Oma statt für Sinti und Roma«, lässt er auf Wahlplakate drucken. Er integriert gewaltbereite Skinheads und kämpft für den Mindestlohn – in einer Höhe von 8,80 Euro. Er ist ein sozialer Mensch, solange es ein Deutscher ist, der davon profitiert. Und er ist neugierig auf andere Kulturen, solange er es freiwillig und auf Reisen sein darf. Fragt man ihn nach dem Politiker, vor dem er am meisten Respekt hat, sagt er: Gregor Gysi, weil der so konsequent sei. Fragt man Gysi nach seiner Meinung über Voigt, antwortet der: »Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich im Zusammenhang mit Herrn Udo Voigt nicht zitiert werden möchte.« Eine kleine Umfrage unter AfD-Abgeordneten bestätigt die Vorbehalte: »Ich habe keinerlei Kontakt zu Herrn Voigt« (Bernd Lucke), »Ich kenne diese Person nicht« (Hans-Olaf Henkel).

Samstag, 1. August 2014, 17 Uhr. Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor leuchtet, die Abendsonne bricht durch die Wolken. Die NPD hat eine Kundgebung zum hundertsten Jahrestag der deutschen Mobilmachung im Ersten Weltkrieg angemeldet. »Willkommen bei bestem Führerwetter!«, ruft der NPD-Landesvorsitzende von Hamburg. So etwas würde Udo Voigt nie sagen. Er ist ein Hardliner, aber vor den vielen Touristen provozieren? Das macht er nicht. Lieber lässt er sich einen Fluchtweg offen. Vor ein paar Jahren hat er mal ein Kreuzworträtsel rausgegeben, Lösungswort »Adolf«. Als er live im Fernsehen darauf angesprochen wird, sagt er: »Adolf von Thadden. Unser Parteigründer.« Und die »Gas geben«-Plakate? Da sei doch er drauf, in Lederkluft, auf seiner alten Honda. Wie könne man das missverstehen? Im Laufe seiner Karriere hat er dreißig Ermittlungs- und fünf Strafverfahren angesammelt. Rechtskräftig verurteilt wurde er nur einmal, wegen eines Wahlwerbespots, der Ausländern pauschal einen Hang zu Straftaten unterstellte, und einer Rede, in der er sich vor den »tapferen Soldaten der Waffen-SS« verneigte. Er hält sich für einen Fuchs.

Jetzt stehen auf dem Pariser Platz: hundert Bereitschaftspolizisten, zweihundert Gegendemonstranten, Antifa, Linke, Grüne, aber nur zwölf NPD-Kader. »Absicht«, sagt Voigt. »Wir wollen uns so wenig wie möglich zu erkennen geben.« Die Antifa warte nur darauf, Fotos von NPD-Mitgliedern zu machen und an deren Arbeitgeber zu schicken, um Berufsverbote zu erwirken. Er kennt das. Die NPD bekommt keine Stadthallen für Parteitage, Druckereien lehnen Aufträge ab. Sein Referent Uwe Meenen habe heute noch keinen Ausweis für die Bibliothek im Bundestag, obwohl der allen Mitarbeitern von EU-Abgeordneten zustehe. »Ihr seid die Beweise, Deutschland ist scheiße«, skandiert die Menge. Es ist immer das Gleiche: Egal wo Voigt hinkommt, alle sind gegen ihn. Zu den letzten beiden Klassentreffen wurde er nicht mehr eingeladen. Vor vielen Jahren hat ihn ein alter Schulfreund angerufen, er habe jetzt Kinder, die sollten nicht mitkriegen, dass er mit einem Nazi zu tun habe, ihre Wege müssten sich trennen. Auf die Frage, ob ihn das traurig gemacht habe, sagt er: »Natürlich. Ich bin doch ein Mensch.«

Noch ein paar Minuten bis zu seiner Rede. Voigt wippt auf den Fußsohlen hin und her, mehrmals zieht er seine graue Stoffhose ruckartig nach oben, wie ältere Herren es nach dem Pinkeln tun. Er bewegt sich gemächlich, nie im Leben würde er laufen, aus der Hemdtasche ragt ein Zettel. »Nur ein paar Stichpunkte«, sagt er, »ich spreche frei.« Klar könne das gefährlich sein, weil man sich zu problematischen Formulierungen hinreißen lasse, aber er macht das seit vierzig Jahren, er kennt die Grenze zwischen erlaubt und verboten. »Israel gleich Tätervolk«, das sei gerade noch möglich, springt ihm einer seiner Kameraden zur Seite, »Israel gleich mörderische Judenbande«, das gehe halt nicht mehr. Voigt unterlaufen keine verfassungswidrigen Formulierungen. Wenn er Hitler einen großen Staatsmann nennt, dann weil er es genauso sagen will. Bei Youtube gibt es einen Film mit dem Titel »Udo Voigt leugnet Holocaust«. Er hat versucht, ihn da rauszukriegen, ihn zu löschen, aber keine Chance. Auf die Frage, von wie vielen Toten im Holocaust er denn wirklich ausgehe, sagt er: »In unserem Land darf ich leider nicht sagen, was ich glaube.« Trotzdem taucht sein Name in der Belegliste für das Verbotsverfahren mehrmals auf. Die Strategie der »seriösen Radikalität« von Holger Apfel, der ihn 2011 als Parteichef stürzte und vorher auf der NPD-Kaderschmiede sein bester Schüler gewesen war, hat Voigt immer abgelehnt. Die überlässt er der AfD, von der er überzeugt ist, dass sie sich bald entzaubern wird, weil sie halt doch nur aus Egoisten und Angsthasen bestehe. »Wir brauchen klare Worte«, sagt Voigt, »seriöse Politik nimmt uns eh keiner ab.« Also sagt er »Ali und Mehmet«, wenn er Türken meint, nennt linke Autonome »vergammelt«.

»Wir müssen dafür sorgen, dass diese Menschen gar nicht fliehen. Wir müssen ihnen in ihrer Heimat helfen.«

Udo Voigt ist 63 Jahre alt. Er stammt aus Viersen am Niederrhein. Mit 16 trat er der NPD bei, später studierte er zwei Semester Luft- und Raumfahrttechnik, dann Politikwissenschaften in München. Seine Diplomarbeit trug den Titel Souveränitätsdefekte der Bundesrepublik Deutschland. Als Parteivorsitzender (1996 bis 2011) führte er die NPD in zwei Landtage, seit 2014 ist er ihr erster und einziger Abgeordneter im Europaparlament. Voigt ist verheiratet, kinderlos und lebt in Moosburg (Bayern) sowie in Berlin-Köpenick.

In Berlin am Brandenburger Tor braucht er zwanzig Minuten, um sein Vermächtnis auszubreiten, sein Weltbild, in das er sich über die vergangenen Jahrzehnte besessen hineingelesen, -gedacht, -gesteigert haben muss. Er scheint nicht oft mit Menschen gesprochen zu haben, die anderer Meinung waren, und wenn doch: hat er sich bestätigt gefühlt. Er ist keiner, der die Mehrheit mit der Wahrheit verwechselt. Auf jeden Fall sei die Bundesrepublik Deutschland kein souveräner Staat, vielmehr fremdbestimmt von den USA, die gemeinsam mit dem internationalen Großkapital an der Zerschlagung und Vermischung der Völker arbeiteten. Ihr Ziel seien multikulturelle Gesellschaften als ideale Ausbeutungsobjekte des Großkapitals. Denn wenn ein Volk seine Identität und Kultur verloren habe, könne sich der Kapitalismus ungebremst ausbreiten. Dann habe das Geld über die Seele, Amerika über Europa und die Gier über den Stolz gesiegt. Dann gebe es keine Völker mehr, nur noch Heere identitätsloser Konsumenten, die nicht wissen, wer ihre Väter, wer ihre Großväter waren. Er hat nicht den geringsten Zweifel an dieser Logik. Und wenn er sie noch mal ausbreitet, abends in der holzvertäfelten Kneipe, einen Hawaii-Toast auf dem Teller, kommt er einem vor wie ein ängstlicher alter Mann, ein sentimentaler Romantiker, der sich damit tröstet und brüstet, stellvertretend für das deutsche Volk eine Kränkung, eine unglaubliche Demütigung mit sich herumzutragen: die verlorenen Weltkriege, die Besatzung durch die Alliierten, der dauernde Souveränitätsverlust, die Reparationszahlungen, überhaupt die EU, Brüssel, Google, NSA und jetzt die vielen Fremden, die zu Hunderttausenden in seine Heimat strömen. Wenn er an seine Kindheit denkt, höre er den Klang von Schalmeien, sagt er. Udo Voigt leidet, weil sein Land, wie er es kennt und liebgewonnen hat, weil seine übersichtliche deutsche Nachkriegswelt verschwindet und weil er ahnt, dass sie nicht wiederkehren wird. Als wären die Flüchtlinge aus Syrien und Eritrea schuld daran, dass deutsche Kinder auf Handys aus Amerika starren statt Volkslieder zu singen.

»Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter«, heißt es in Goethes West-östlichem Divan. Voigt ist sicher: Es ist andersherum. Integration, das ist für ihn gleichbedeutend mit Völkermord. »Heim wandern statt einwandern« war das Motto von Briefen, die die NPD 2013 an mehrere Bundestagskandidaten mit Migrationshintergrund geschickt hat. Aber weil er weiß, dass es sich nicht gehört, Menschen, die um Hilfe flehen, einfach wegzuschicken, fügt er hinzu: »Wir müssen dafür sorgen, dass diese Menschen gar nicht fliehen. Wir müssen ihnen in ihrer Heimat helfen.« Ganz unrecht hat er nicht, wenn er sagt, dass der Westen die Menschen in der Dritten Welt erst ausbeutet und dann überfordert ist, wenn sie vor der Haustür stehen.

Straßburg, Februar 2015, Montagnachmittag. Voigt ist sauer, vor ein paar Tagen hat er einen Brief vom Direktor seines Hotels bekommen: Andere Hotelgäste hätten sich beschwert. Jetzt wolle man eine Eskalation vermeiden und sehe sich gezwungen, seine Buchungen für den Rest des Jahres zu kündigen und ihm Hausverbot zu erteilen. Voigt hat da schon jemanden in Verdacht: die beiden Abgeordneten der Linkspartei, die ihn beim Frühstück so nett gegrüßt haben. Es ist die Scheinheiligkeit, die ihn rasend macht, das Hausverbot, mein Gott, er kennt die Rechtslage genau: Ja, ein Hotel darf ihn aufgrund seiner politischen Gesinnung zurückweisen. Nein, bestehende Buchungen können nicht rückgängig gemacht werden. »Mein Anwalt kümmert sich«, sagt er. Man hört ihm an, dass er sich freut, wenn er seine Gegner, die er verachtet, mit den Mitteln des Staates, den er ablehnt, ärgern kann.

Er ist jetzt seit fast einem Jahr Europaabgeordneter. Er hat seinen Rhythmus gefunden: eine Woche Straßburg, eine Woche Berlin, eine Woche Brüssel, dazwischen Vorträge, Demonstrationen, immer wieder Kundgebungen gegen geplante Flüchtlingsunterkünfte. Wenige Tage nach dem Brandanschlag von Tröglitz postet er ein Foto des Asylbewerberheims in Köpenick. Zu sehen sind Müllcontainer, aus denen ein paar Stofftiere ragen. Voigts Kommentar: »Die Kuscheltiere sind denen wohl nicht gut genug.« Seine Frau in Moosburg sieht er selten, ruft sie aber jeden Abend an. »Das Geheimnis von 36 Jahren Ehe«, sagt er. Dass der Reporter ein Interview mit ihr führt, lehnt er ab. NPD-Mitglieder beschreiben sie als gutmütig, liebevoll, unpolitisch, vielleicht ein bisschen naiv. Das Fazit seiner parlamentarischen Arbeit: 16 Wortmeldungen, 18 parlamentarische Anfragen, ein Entschließungsantrag. Er findet, das könne sich sehen lassen. Man könnte es auch so ausdrücken: Udo Voigt hat im vergangenen Jahr zu ein paar Themen jeweils fünf Sätze gesagt, meistens ohne eine Antwort zu bekommen. Trotzdem, er sei doch einiges losgeworden, was ihm wichtig sei. Dass man Europa besser vor Ebola schützen, im Ukraine-Konflikt endlich Russland verstehen und überhaupt realisieren müsse, dass die CIA in EU-Ländern wie Polen und Rumänien Menschen gefoltert habe. Er hat beschlossen, keine Fundamentalopposition zu bilden, sondern die Möglichkeiten in diesem Parlament so raffiniert wie möglich für seine Partei zu nutzen. Jeder seiner Wortbeiträge wird ins Internet gestellt. Im Broadcast Center, das samt Talkshow-Ecke allen Abgeordneten zur Verfügung steht, lässt er Interviews inszenieren. Die Fragen stellt ein Parteifreund und werden vorher abgesprochen – aber wer weiß das schon? Nebenbei kann er Kameraden zu Posten verhelfen, die ihm danach ein Leben lang dankbar sein werden. Auf Facebook hat sich längst eine Privatfehde zwischen ihm und Martin Sonneborn entwickelt. Der eine frotzelt hin, der andere zurück. Voigt postet Stunden nach Sitzungsbeginn: »Herr Martin Sonneborn von der Spaßpartei hat ausgeschlafen und ist soeben im Plenarsaal eingetroffen.« Sonneborn antwortet: »Voigt spinnt. Ich war gar nicht ausgeschlafen.« Es ist das kindische Spiel zweier Randfiguren, die einander ähnlicher sind, als ihnen lieb ist: Beide sind angewiesen auf Aufmerksamkeit, verstoßen gegen bürgerliche Normen, machen sich größer, als sie sind, der eine, weil er an seine Ideale, der andere, weil er an gar nichts glaubt.

Voigt hat den Mann gefunden, den seine Partei in Zeiten wie diesen braucht: Es ist der Udo Voigt, der vor den anderen ins Büro kommt und immer noch da ist, wenn die anderen an der Hotelbar stehen. Er ist tüchtig, um den anderen vorwerfen zu können, dass sie es nicht sind. Seine Mitarbeiter lässt er stundenlang Anträge durcharbeiten. Es geht um das Fischereiabkommen zwischen der EU und Senegal oder um die Ursprungskennzeichnung von Fleisch in verarbeiteten Lebensmitteln, aber egal. »Wir nehmen das sehr ernst«, sagt sein Referent Karl Richter. Nicht auszudenken, was passiert, wenn sich im zehnten Absatz ein Passus gegen Rassismus findet – und Udo stimmt dafür. Die deutschen Dolmetscher laden zum Umtrunk: Voigt geht nicht hin. Die Bundesregierung lädt zum Trauerstaatsakt für Richard von Weizsäcker: Er denkt gar nicht daran. Die Abgeordneten wählen den »Newcomer des Jahres«: Voigt macht nicht mit. Natürlich macht er nicht mit.

Udo Voigt ist ein geheimnisloser, kein unangenehmer Mensch. Als Politiker ist er gefährlich, weil er mit seinen Reden und Ansichten ein gesellschaftliches Klima prägt, das andere veranlasst, Gewalt auszuüben. Hätte er damals 1982 in München unterschrieben, er wäre heute seit sieben Jahren Stabsoffizier in Rente, bekäme 4000 Euro monatlich, könnte segeln, wandern, ein Weinchen aufmachen. Wer weiß, vielleicht wäre aus ihm eine bürgerliche Person geworden; ein Mann, 63 Jahre alt, vielleicht mit Kindern, mit Enkeln. Udo Voigt hat sich für die Partei entschieden. Er hat es nie bereut. Das Bild vom letzten Mann hat er damals übrigens doch nicht aufgehängt. Es lag schon im Kofferraum seines Autos, aber dann sagte Richter: »Udo, lass es da! Das Ding ist zu gestrig.« Womöglich ist er ja selbst der letzte Mann, mit dem die NPD, die deutsche Fahne schwingend, untergeht.

Fotos: Daniel Delang