Das schönste Geschenk, das ich je bekam, war eine Modelleisenbahn. Ich bekam sie zu Weihnachten, und ich war neun oder zehn Jahre alt, vielleicht auch elf, ich weiß es nicht mehr. Aber ich erinnere mich ge-nau an das Gefühl, als wir an jenem Weihnachtsfest ins Wohnzimmer traten und O Tannenbaum sangen. Wir sangen und sangen, und während wir sangen, grasten meine Augen gierig den Tisch vor dem Christbaum ab, auf dem die Geschenke lagen. Aber ich konnte nichts erkennen, das für mich hätte bestimmt sein können, nichts Größeres jedenfalls, nichts von Bedeutung.Eine kleine Enttäuschung begann sich in der Mitte meines Körpers zu regen, dort, wo die Enttäuschung sitzt, die meisten kennen diesen Platz, er befindet sich hinter dem Solarplexus, zwischen den Lungenspitzen. Ich bin nicht sehr gut in Anatomie, aber wo die Enttäuschung sitzt, weiß ich ungefähr. Und die Enttäuschung wurde größer und größer, nachdem wir mit dem O Tannenbaum-Gesang aufgehört hatten und ich den Gabentisch mit den Händen filzte, zwischen lauter Kleingeschenken auf der Suche nach dem einen, dem großen, dem Hauptgeschenk, dass es doch jedes Mal zu Weihnachten gab.Nichts.Meine Eltern genossen diese Verzweiflung noch eine Weile, bis sie mich in den vielräumigen Keller unseres Einfamilienhauses führten – und dort, im hintersten Raum rechts, hinter der Tür, stand: die Modelleisenbahn, auf einer zweimal drei Meter großen Pressspanplatte mit vier darunter geschraubten Tischbeinen.Ein Trafo. Ein Bahnhof von Faller. Gleise, eine Lok, Waggons von Trix. Leises Surren, wenn die fuhren. Glück.Ich investierte einige Jahre lang fast mein gesamtes Taschengeld und viele Weihnachts- sowie Geburtstagswünsche in diese Bahn. In die Welt, die ich auf der Pressspanplatte aufbaute. Denn ich interessierte mich weniger für die Technik des Modellbahnfahrens, also für Lokomotiven, Waggons, Gleise. Sondern für alles, was sich dazwischen befand, also Faller-Häuser, Wiking-Autos und vor allem für die zwei Zentimeter hohen Figuren von... Hieß die Firma nicht Preiser? Jedenfalls, es gab Menschen dieses Formats, die man zwischen Häusern und Gleisen aufbauen konnte.Ich kaufte mir Scharen von ihnen. Baute Häuser, einen Wald, einen Tunnel, einen Berg, noch einen Wald, darin ein Försterhaus. In der Nähe eine Kleinstadt. Einen Freund hatte ich, dessen Vater war Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr im Nachbardorf, und dieser Freund hatte eine unglaublich große Sammlung von Wiking-Feuerwehrautos, von denen brachte er zwei, drei Löschzüge mit, wenn er zu Besuch war. Wir sprengten mit Kanonenschlägen Faller-Häuser in die Luft und retteten dann mit den Löschzügen und vielen Feuerwehrleuten von Preiser die Menschen.Ich spielte da jeden Tag. Ließ meine Figuren einen Bürgermeister wählen. Inszenierte Eisenbahnunglücke. Autounfälle. Baute Straßen. Fußballplätze.Für die Plastikmännchen war ich Gott. Es gab keinen anderen Gott neben mir, keinen, der mir in diese Welt hineinpfuschen durfte, schon gar nicht meine Brüder, vor denen ich diesen Keller verschloss. Heute stelle ich mir manchmal vor, wie diese Preiser-Männchen sich versammelten, wenn ich nicht im Raum war, und überlegten, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollten, ihrem Schicksal. Wie sie dachten, mich gnädig stimmen zu können. Oder wie sie mich verehrten in nächtlichen Zeremonien, wie sie zu mir beteten und mich anriefen. Mich, die Hand, die ihr Leben regierte, die jederzeit einen von ihnen herausgreifen konnte, um ihn an einen anderen Platz zu setzen. Mich, den Herrn über die Katastrophen in ihrem Dasein. Mich, den Unbegreiflichen, dessen Ratschlüsse ihnen unverständlich bleiben mussten. Mich, der manchmal ganze Tage mit ihnen verbrachte und sich dann wieder eine Woche lang nicht zeigte, weil Ferien waren und ich verreist war oder was weiß ich. Eines Tages interessierte mich alles nicht mehr. Ich spielte nicht mehr Modelleisenbahn. Ich baute die ganze Sache ab. Was aus den Männchen geworden ist – keine Ahnung. Bekam sie ein Cousin? Landeten sie im Müll? Auf einem Flohmarkt? Gibt es irgendwo einen Schrank, in dem die Zwei-Zentimeter-Kreaturen liegen? In dem sie Tag für Tag in unerhörtem Flehen verbringen, ich möge ihnen wieder erscheinen, möge meine Hand wieder über ihnen schweben lassen, möge ihr Dasein wieder mit Sinn erfüllen? In dem eine ganze Welt auf mein Erscheinen wartet, immer und ewig vergeblich warten wird?