Das Beste aus meinem Leben

Neulich saßen wir im größeren Familienkreis um den Esstisch, Oma und Opa, Paola und ich, Luis und Sophie, dazu Verwandte aus Italien: Giulia aus Mailand und Andrea, ihr Mann. Wir beschäftigten uns eine Weile damit, der kleinen Sophie die Verwandtschaftsverhältnisse zu erklären: »Das ist die Oma«, sagten wir, »und das ist der Opa, das ist die Mama, das der Papa, das ist die Tante, dies der Onkel.« Nachdem Sophie das begriffen hatte, konnte man sich kaum noch unterhalten, weil sie nicht mehr aufhörte zu rufen: »Das ist meine Oma, das ist mein Opa, das ist meine Tante, das ist mein Onkel…« Es erinnerte ein bisschen an den Angeber in der Fernsehwerbung, der ein Foto nach dem anderen auf den Tisch knallt, immer mit den Worten: »Mein Auto, mein Haus, mein Boot…«Aber dann erinnerte es mich noch mehr an meine eigene Kindheit, in der, wenn die Familie zusammensaß, nie bloß ein Onkel und eine Tante anwesend waren. Es waren Scharen von ihnen. Onkel und Tante waren täglich auftretende Figuren in meinem Lebenszirkus. Und man wusste nicht nur, dass sie Onkel und Tanten waren, man redete sie auch so an: Onkel Heinz, Onkel Willi, Onkel Oskar…Wer tut das heute schon noch? Ich bin selbst Onkel, aber niemand nennt mich so, außer Bruno, mein alter Freund, der mich manchmal mit Onkel anredet; er meint das scherzhaft und will alles Unspontane, Überbedenkliche meines Charakters auf den Begriff bringen; da kommt ihm das Wort »Onkel« gerade recht. Onkel ist doch eine alberne Person geworden, eigentlich kommt er nur noch in herabsetzenden Begriffen wie »onkelhaft« vor. Die Neffen nennen mich beim Vornamen.Onkel. Das kommt aus dem Französischen, oncle, und das Französische kommt aus dem Lateinischen, avunculus, der Verkleinerungsform von avus, Großvater. Ein kleiner Großvater. Ein älterer Verwandter.Als ich klein war, wimmelte es um mich herum von avunculi. Allein einer meiner Großväter, der Vater meines Vaters, hatte sechs Geschwister, das machte schon mal sechs Großonkel: Opas Brüder und die Männer seiner Schwestern. Dazu kamen deren Söhne, dazu die Verwandten meiner Mutter – eine unübersehbare Onkelschar, zumal auch Freunde meines Vaters für mich Onkel waren, ich hielt sie ohnehin für Verwandte und erfuhr erst spät, dass sie das gar nicht waren. Selbst der Handelsreisende in Kaffee, der in unserem Haus zur Untermiete lebte, war mir Onkel.An nahezu jedem Wochenende hatte jemand in der Familie Geburtstag. Dazu traf man sich. Die Onkel saßen in Sesseln und betrachteten mich freundlich. Sie trugen Anzüge mit Westen und Uhrketten, sie rauchten Zigarren, sie hatten Spazierstöcke. Manche waren noch im Kaiserreich zur Welt gekommen und hatten zwei Kriege erlebt.Ein Onkel hatte einen riesigen Bauernhof, in dem es ein Herrenzimmer gab, in das sich alle Onkel (und nur sie!) nach dem Essen zum Rauchen und Trinken zurückzogen. Ein anderer Onkel, würdevoller Anwalt, verschwand, selbst wenn man ihn in seinem Haus besuchte, nach einer Stunde im Büro. Er habe zu tun, seufzte er, aber in Wahrheit war er wohl lieber allein. Ein dritter Onkel trug an den Feiertagen im Knopfloch das goldene Mitgliedsabzeichen der IG Metall; meistens kam er mit seiner Frau gerade von einer Hundeschau, wo ihr Pudel wieder einmal schöne Preise gewonnen hatte. Ein vierter Onkel kam nie zu den Familientreffen, sondern stand an ganz anderen Tagen plötzlich überraschend vor der Tür. Er lebte in West-Berlin und reiste per Autostopp, auch mit 85 noch. Oft fuhr er auf großen Lastwagen mit, die ihn vor dem Haus absetzten, und wenn er klingelte, hatte er immer Bananen dabei, wer weiß, warum, er erklärte es nie. Ein fünfter Onkel (er war Architekt und hatte unser Haus gebaut) hatte immer eine Kiste Bier im Kofferraum, weil er nur sein eigenes Bier trank, auch wenn er bei uns zu Besuch war, seltsam, aber wahr. Ein sechster Onkel blieb immer daheim; er war schwer rückenleidend und konnte nur tief gebeugt gehen. Wenn man ihn besuchte, saß er krumm wie eine Sichel vor dem Herd in der Küche und rauchte direkt ins Ofenrohr hinein – es war der einzige Platz, wo ihm seine Frau, meine Tante, das Rauchen erlaubte. Ein siebter Onkel – na, genug jetzt…Es war eine ganze Welt aus Onkeln, Sonntag für Sonntag bekam ich ein ganzes Panorama von Lebensmöglichkeiten vorgeführt, im Onkeltheater.Und dann erst die Tanten. Aber davon ein andermal.

Illustration: Dirk Schmidt