Seltsames Phänomen: Ich höre Menschen aus anderen Menschen sprechen. Ich höre sie Sätze sagen, die eigentlich andere Menschen sagen. Oder gesagt haben.
Erstens: Ich höre aus mir meinen Vater sprechen, wenn ich eine halbe Stunde lang mit Luis über das Lernen debattiert habe. Darüber, dass er, Luis, etwas für die Schule tun muss, bevor er zu Freund Rudi aufbricht. Dass er nicht fernsehen darf, bevor er nicht gelernt hat. Dass er, bevor er mit dem Computer spielen darf, arbeiten muss. Wenn ich von dieser Debatte erschöpft bin, höre ich aus mir die Stimme meines Vaters dröhnen, der zu mir sagte: »Willst du als Straßenfeger enden?« Ich sage das, obwohl ich den Satz schon blöd fand, als ihn mein Vater selbst sagte, und nun höre ich mich den Vatersatz zu meinem Sohn sprechen. Unglaublich.
Zweitens: Ich höre mich aus meiner Tochter sprechen. Wir fahren auf der Autobahn. Sophie fängt an zu klagen: Sie wolle Kekse, wolle fernsehen, wolle, dass Mama hinten sitze. Mama sagt, sie habe keine Kekse, es gebe kein Fernsehen im Auto, sie müsse vorn Landkarte lesen. Das interessiert Sophie nicht. Sie lamentiert, schimpft, schreit, alles steigert sich zum Inferno, bis ich sage: »Sophie, willst du aussteigen?« Ein Straßenfeger-Satz. Man redet so nicht. Doch wer je mit Kindern im Auto fuhr, weiß, wovon ich spreche. Sophie schweigt. Dann fängt Luis an, sie zu ärgern. Bald ist das Auto wieder erfüllt von Zetern, Wehklagen, Flehen um Ruhe. Dann Sophie: »Papa, der Luis will aussteigen.«
Drittens: Ich höre einen fremden Malermeister aus meinem Kühlschrank reden. Vor einer Weile erzählte mir Bruno, mein Freund, er sei mit dem Maler, der seine Wohnung renovierte, zum Baumarkt gefahren, um Material zu besorgen. An der Einfahrt zur Tiefgarage habe sich eine Schranke befunden. Als die sich öffnete, habe der Malermeister versonnen gesagt: »Cäsar, öffne dich!« Ich habe die Geschichte jahrelang jedem Gast in meiner Küche erzählt. Folge: Wenn ich die Kühlschranktür öffne, höre ich Bosch, meinen sehr alten Kühlschrank und Freund, seufzen: »Ja, ja, Cäsar, öffne dich!«
Viertens: Ich höre meine Tante Ida aus einem amerikanischen Schauspieler sprechen. Mit der Tante war es so: Immer wenn die Familie zusammen war, beim Essen, einem Spaziergang im Sommer, einem Besuch bei Verwandten, rief Tante Ida mit lauter, etwas schriller Stimme irgendwann: »Geht’s uns nicht gut?! Haben wir’s nicht wunderbar?!« Das Seltsame war, dass die Tante dabei nicht froh aussah, wie sie überhaupt nie richtig froh aussah. Immer zeigten ihre Mundwinkel bodenwärts. Dann sah ich neulich eine Folge meiner aktuellen amerikanischen Lieblingsserie Curb Your Enthusiasm, in der jemand (eine Nervensäge) bei jeder Gelegenheit – sei’s eine Golfrunde, sei’s ein Mittagessen – ausruft: »Heaven! It’s heaven!« Und ich dachte: Tante Ida?
Fünftens, unglaublichstens: Ich höre Dieter Zetsche aus Bruno reden. Zetsche ist Chef der Autofirma, die dauernd ihren Namen ändert, sodass ich vergessen habe, wie sie heißt; früher war es Daimler-Benz. Zetsche hat mal über seine Firma gesagt: »Wir sind im Kopf weltweit aufgestellt.« Bravo!, dachte ich, manche sind das nicht mal außerhalb ihres Kopfes. Auch Bruno, mein Freund, verdient sein Geld im Wirtschaftsleben, wo man gern die Wendung »Am Ende des Tages benutzt«. Bruno sagt Sätze wie: »Im Moment gehen die Aktienkurse nach oben, aber am Ende des Tages wird man sehen: Das war eine Täuschung.« (Vor Jahren hat jemand nachgezählt und festgestellt, dass at the end of the day die am meisten benutzte Phrase in amerikanischen Zeitungen ist; allein in der New York Times taucht sie täglich auf.)
Bruno sagt, als er mir am Ende eines Tages am Küchentisch einen Vortrag über die Wirtschaftsentwicklung der Welt hält: »Am Ende des Tages wird man sehen, dass viele deutsche Firmen weltweit gut aufgestellt sind.«
»Im Kopf?«, frage ich leise. Das hört Bruno nicht, und ich sage lauter, dass ich am Ende des Tages überhaupt nicht mehr aufgestellt sein möchte, bloß gut aufgelegt.
»Ein Bier?«, frage ich.
»Ja«, sagt Bruno.
Ich greife zur Kühlschranktür. »Cäsar..!«, sagt Bosch, dann, seufzend: »Wie lange werde ich hier noch aufgestellt sein, in deiner Küche?« Auch das hört Bruno nicht. Die Stimme meines Kühlschranks höre nur ich.
»Für immer, Alter!«, sage ich.
»Was sagst du?«, fragt Bruno.
Illustration: Dirk Schmidt