Wie immer beginnt das Jahr mit Satzfetzen: Hab ich dir schon? Können wir noch? Obwohl das Jahr noch ganz neu riecht nach kalten Böllern und leeren Flaschen, bringt es schon wieder die erste Alltagssorge mit sich: Wie lange dürfen wir einander eigentlich ein frohes neues Jahr wünschen? Bis der Silvesterkater überstanden ist und die Leberwerte sich wieder normalisiert haben? Bis zum Dreikönigstreffen der FDP, mit dem das Jahr erste Abnutzungsspuren aufweist? Wie lange darf man den Kollegen ein »Frohes Neues« wünschen, die Mitte Januar aus den Skiferien kommen, oder der alten Freundin, die man erst im Februar auf der Straße trifft?
Die Freiburger Kommunikationstrainerin Elisabeth Bonneau gibt erst mal Entwarnung: »Auch wenn hin und wieder anderslautende Pressemitteilungen verbreitet werden: Es existiert kein exaktes Zeitlimit.« Aber genau daher kommt die Unsicherheit, die wir beim Neujahrswunschdilemma verspüren: Wir haben keinen Algorithmus zur Verfügung, der für uns entscheidet, keine Regel; wir müssen selbst abwägen. Und das bei einem Wunsch, der viel mehr ist als eine Floskel: »Frohes neues Jahr!«, das reißt jedes Mal ein gleißend emotionales Loch in den Routineschleier, da erlauben wir uns, Freunden, Kollegen oder Geschäftspartnern zu wünschen, dass ihnen das Jahr, mithin: das Leben gelingt. Den »Guten Tag!« haben wir uns abgewöhnt, weil er platonisch profund daherkommt, und die »lieben« oder »freundlichen Grüße« kürzen wir ab wegen Gefühlsduselei-Verdacht; und dann wünschen wir plötzlich, andere mögen »froh« werden, also Quelle und Ziel von Weltreligionen für sich erschließen? Krasses Zeug, und wenn wir das schon einsetzen, muss es wenigstens genau zur richtigen Zeit sein. Deshalb hat man bei falsch getimten Neujahrswünschen ganz schnell das Gefühl, aufdringlich oder verpennt zu sein.
Dabei lösen die Grenzen zwischen den Jahren sich sowieso auf. Weihnachtsfeiern werden auf den Januar verschoben, Neujahrsempfänge finden bis in den März statt, der Februar hat inzwischen als Niemandsland zwischen den Jahren zu gelten, der Januar aber gehört, wegen all der Dinge, die man im Dezember auf »nach Weihnachten« verschoben hat, in Wahrheit noch zum alten Jahr. Im Grunde beginnt das neue Jahr, wenn man sich von Fasching erholt hat. Und dann fällt das Osterwochenende winterlich aus, und es ist März, und man ertappt sich angesichts der erstmals in diesem Jahr aufgelaufenen Verwandtschaft wieder bei den Satzfetzen: Können wir noch? Haben wir schon?
Zur Entlastung daher ein Vorschlag zur Güte, ein festes Datum, vor dem es akzeptabel, lebensbejahend und sympathisch ist, anderen ein »Frohes neues Jahr!« zu wünschen. Und ab dem dieselbe Handlung verbindlich als indiskutabel, irre oder bestenfalls schrullig zu gelten hat. Und zwar: Sommersonnenwende. Bei den Gläsern haben wir’s schon verinnerlicht, und wenn wir das ernst meinen, dann müssen wir auch das Jahr bis zur Hälfte als halb voll, also praktisch neu betrachten, mit noch jeder Menge Potenzial fürs Frohsein. Der 21. Juni des neuen Jahres ist demnach die absolute Grenze für Neujahrswünsche. Bis dahin in diesem Sinne erst mal: Frohe Weihnachten!
Illustration: Nishant Choksi